„Empathie und Bereitschaft zur Versöhnung!“ – Das politische Vermächtnis des Diplomaten Frank Elbe

„Empathie und Bereitschaft zur Versöhnung!“ – Das politische Vermächtnis des Diplomaten Frank Elbe

„Empathie und Bereitschaft zur Versöhnung!“ – Das politische Vermächtnis des Diplomaten Frank Elbe

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Genscher-Vertrauter, Spitzendiplomat, filigraner Feinmechaniker der Wiedervereinigung, scharf- und eigensinniger Kommentator der neuen West-Ost-Konfrontation: Dieser Verlust – ausgerechnet jetzt – ist unermesslich! Von Leo Ensel.

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin! Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

Es überrascht, dass ein ausgewiesener Realist, der jeglicher fundamentalistischen Gesinnungsethik erklärtermaßen abhold war, dass ein ehemaliger Diplomat mit jahrzehntelanger politischer Erfahrung unter anderem in Polen, Indien, Japan und der Schweiz, dass ein Unterhändler der Konvention über das Verbot chemischer Waffen und aktiver Teilnehmer bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Einheit Deutschlands – kurz: dass ein unsentimentaler Profi mit messerscharfem Verstand ausgerechnet diese Sätze aus der Bergpredigt als Evangelium für sein Requiem gewählt hat. Und zwar in einer Zeit, in der der Krieg in die Mitte Europas zurückgekehrt ist und er sein Lebenswerk zumindest zeitweise als zerstört ansah: Das friedliche Zusammenleben aller europäischen Völker nach dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit, wie es die „Charta von Paris“ im November 1990 in der klassischen Formel zusammengefasst hatte: Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“

Es lässt aufhorchen und es macht nachdenklich.

Diplomatie ist ein Reparaturunternehmen“

Das erste Mal hörte ich seinen Namen im Juni 2014, als mir jemand in einer Sitzung des Deutsch-Russischen Forums die Kanzelrede[1] vom 4. April desselben Jahres eines Botschafters a.D. namens Frank Elbe in der Bauernkirche zu Iserlohn dringend zur Lektüre empfahl. Ich las den langen Text mit dem Titel „Wie sicher ist Europa?“ aufmerksam durch – er begann mit dem Satz: Der Welt droht die schwerste sicherheitspolitische Fehlentwicklung seit der Kubakrise 1962, in der ein nuklearer Schlagabtausch gerade noch verhindert werden konnte“ – und er war mir aus der Seele gesprochen! Was dieser, mir bis dato unbekannte, Verfasser ausführte, war genau das, was ich auch dachte und fühlte. Allerdings untermauert mit der Erfahrung eines ganzen langen Diplomatenlebens und pointiert auf den Punkt gebracht von einem Mann, der als enger Mitarbeiter von Außenminister Genscher, dessen Büro er zeitweise leitete, selbst dazu beigetragen hatte, dass der (erste) Kalte Krieg beendet werden konnte, ohne dass ein einziger Schuss fiel.

Seitdem verfolgte ich regelmäßig und mit großem Gewinn seine scharf- und eigensinnigen Essays, die der – nach eigenen Worten – ‚in der Wolle gefärbte Genscherist‘ meist im Cicero[2], bisweilen auch bei RT Deutsch publizierte. Es war seine, von den Leitmedien sehr abweichende andere Sicht auf Putin, die den russischen Präsidenten, ohne ihn reflexartig zu dämonisieren, als Politiker ernst nahm, die mich anzog; sein klares Insistieren auf der großen Mitverantwortung des Westens für die neue Konfrontation mit Russland, seine Sorge um eine mögliche Eskalation, falls die USA den bewährten Strategien der Rüstungskontrolle, der Abrüstung und der Entspannungspolitik endgültig den Rücken zukehren sollten. Und seine präzisen sachlichen Analysen.

„Diplomatie ist ein Reparaturunternehmen“, lautete eine seiner Devisen. Und seine lösungsorientierte Sentenz, mit der er nach den Ereignissen auf der Krim im März 2014 den Vorrang der Diplomatie einforderte: „Wenn Sie einen Wasserrohrbruch haben, dann holen Sie keinen Juristen, sondern den Klempner!“. Sätze, die ich mir gemerkt habe. Frank Elbe war nüchtern, realitätsbezogen, unsentimental – ein Verantwortungsethiker und Pragmatiker im allerbesten Sinne.

Maßgeschneiderte Hemden und klare Worte

In den achtziger Jahren, wir sprachen manchmal mit leichtem Augenzwinkern darüber, wären wir Antipoden gewesen. Elbe befürwortete den sogenannten NATO-Nachrüstungsbeschluss, die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Westeuropa – allerdings mit der entscheidenden Einschränkung, dass dieser Beschluss revidierbar sein müsse, falls die Sowjetunion ihre Politik ändere – während ich an den Demonstrationen gegen Pershing II und Cruise Missiles teilnahm und für die westdeutsche Friedensbewegung ein Buch über „Angst und atomare Aufrüstung“[3] schrieb. ‚Versöhnt‘ haben uns Gorbatschows Politik des Neuen Denkens und die „Charta von Paris“, die auch durch seine geduldige jahrelange Vorarbeit möglich wurde und die für die folgende Zeit unser gemeinsamer Referenzrahmen blieb.

In der Retrospektive wird immer deutlicher, dass wir beide Kinder der ‚Bonner Republik‘ waren, wenn auch als Jahrgänge 1941 und 1954 unterschiedlichen Generationen zugehörig.

Im Sommer 2016 nahm ich erstmals telefonisch Kontakt mit ihm auf. Ich wollte ihn als Mitstreiter für eine von mir anvisierte internationale „Breite Koalition der Vernunft“[4] für Deeskalation im neuen West-Ost-Konflikt gewinnen. Elbe winkte ab. Er wollte sich von keiner Seite, sei sie ihm noch so sympathisch, vereinnahmen lassen. Lieber blieb er der ‚einsame Wolf‘ – als der er wahrhaftig nicht wirkungslos war!

Es war der Beginn eines kontinuierlichen, zunehmend freundschaftlicher werdenden Kontaktes. Sporadische lange Telefongespräche, für die er sich viel Zeit nahm, Mailwechsel, eine ‚Facebook-Freundschaft‘ und ein persönliches Treffen zwei Jahre später in Bonn folgten.

Und mit der Zeit traten noch andere Facetten seiner reichen Persönlichkeit zutage: Ein Genussmensch, der maßgeschneiderte Hemden und Anzüge trug, gutes Essen und exzellente Weine zu schätzen wusste, gerne weite Reisen unternahm – und ein Mann mit scharfer Zunge, der, wenn er es für nötig hielt, auch gänzlich undiplomatisch Klartext reden konnte. Manchmal hatte ich etwas Angst vor ihm: Er konnte leicht unwirsch reagieren, wenn er sich beim Extemporieren seiner Gedankengänge gestört fühlte.

Rückkehr zu bewährten Strategien“

Es waren immer dieselben beiden Themen, die wir in tausend Variationen, abhängig von der jeweiligen Tagespolitik, durchsprachen: Wie können die westlich-russischen Spannungen wieder abgebaut und wie kann vor allem ein neues, auch atomares, Wettrüsten noch rechtzeitig gestoppt werden? Elbe setzte auf eine „Rückkehr zu bewährten Strategien“: auf die Rückverpflichtung der NATO auf die Prinzipien des Harmel-Berichtes von 1967 – „Sicherheit und Entspannung“ – auf die Selbstbeschränkung der USA aus der Zeit des (ersten) Kalten Krieges, lediglich „second to none“, niemandem unterlegen zu sein und auf eine Politik der Vergrößerung des Puffers zwischen, wie er es nannte, „Hand und Atomknopf“. Bezüglich der Politik der USA wurde Elbe im Laufe der Jahre zunehmend skeptischer. Dem Satz Klaus von Dohnanyis „Die Interessen der USA sind nicht mehr die der Europäer“, dessen letztes Buch er noch gelesen und geschätzt hat, stimmte er zu hundert Prozent zu.

Die Fahrlässigkeit, mit der die Jahrhundertchance, das „Gemeinsame europäische Haus“ aufzubauen, verspielt wurde, die Mutwilligkeit, mit der seit Jahren das abrüstungspolitische Erbe Gorbatschows bei Strafe eines möglichen atomaren Unterganges an die Wand gefahren, und die Apathie, mit der diese brandgefährliche Entwicklung in den Bevölkerungen in West und Ost hingenommen wird, beunruhigte uns beide zutiefst.

Die letzten Jahre pflegten wir einen auf wechselseitiger Wertschätzung basierenden freundschaftlichen Umgang, der uns wohl beide bereicherte. Elbe hatte als Ex-Diplomat eine völlig andere ‚Nase‘, ein höchst ausgeprägtes Ohr für Zwischentöne, für Ungesagtes. Und er konnte druckreif formulieren. Was uns außerdem verband, das war die Liebe zur Philosophie. Beide hatten wir unseren Günther Anders gelesen. Und Elbe äußerte sich – was mich, den Seiteneinsteiger, besonders freute – anerkennend über meine Essays[5] zum Thema „Deeskalation im neuen West-Ost-Konflikt“. Meine Abrechnung mit den GRÜNEN[6] und ihrem gesinnungsethischen[7] Terror hat er sehr goutiert.

Als der Krieg ausbrach, hätte ich seine Einschätzung der sich überschlagenden Ereignisse nötiger gebraucht denn je. Aber er war telefonisch nicht erreichbar und antwortete nicht mehr auf Mails. So sandte ich ihm Ende April meine Texte zu Russlands Angriffskrieg mit der Schneckenpost zu. Er rief noch einmal freundlich zurück, um sich zu bedanken – und hörte sich bereits sehr geschwächt an. Zusätzlich zu anderen gesundheitlichen Beschwerden habe er sich im Frühjahr noch eine Corona-Infektion eingefangen; er sei, so klang es, dem Tod nochmal von der Schippe gesprungen.

Am Freitagmorgen des 17. Juni entdeckte ich per Zufall bei Facebook die Nachricht von seinem Tode zwei Tage zuvor. Für eine kurze Ewigkeit fühlte ich mich fast paralysiert, mehrere Tage musste ich mit den Tränen kämpfen. Mir war, als hätte man mich eines starken, lebenserfahreneren älteren Bruders beraubt!

Versöhnungsbereitschaft und Empathie“ – Der Realpolitiker und die Bergpredigt

Das Requiem in der Apsis des Bonner Münsters. Vor dem Altar der in die schwarz-rot-goldene Fahne eingeschlagene Sarg, daneben ein schönes Porträtfoto des Verstorbenen, darunter ein Rahmen mit seinen Orden. Und vor dem Sarg ein großer Kranz roter Rosen mit dem Kosenamen seiner Frau.

Das war alles.

Einen solch spartanischen Minimalismus traut sich nur jemand, der über ein Höchstmaß an kulturellem Kapital verfügt!

In diesem Seelenamt lernte ich nochmal Konturen eines Frank Elbe kennen, von denen ich bis dahin so gut wie nichts gewusst hatte. Zwar hatte der FDP-Mann drei Jahre zuvor zum Ende eines zweistündigen Interviews[8] auf das Stichwort „Gott?“ zu meiner Überraschung – knapp und trocken, wie es manchmal seine Art war – „Es gibt ihn“ geantwortet. Aber diese Trauermesse nach katholischem Ritus, diese unzweideutige Einbettung seines reichhaltigen diplomatischen Lebenswerkes in den Geist der Bergpredigt hatte ich nicht erwartet!

Alles war offenbar bis ins Detail von ihm vorbereitet. Der Stadtdechant und Pfarrer des Bonner Münsters, Dr. Wolfgang Picken, der Frank Elbe in seinen letzten Monaten und Wochen begleitet hatte, fasste es in seiner Predigt in hinreißende Worte:

Frank Elbe war ein kluger, um nicht zu sagen raffinierter Diplomat. Er nahm Ziele ins Visier und bemühte sich, sich diesen umsichtig und konsequent anzunähern. Es liegt in der Konsequenz dessen, dass er – als er den Tod näherkommen sah – nicht vergaß, vorausschauend gute Beziehung mit seinem Schöpfer aufzunehmen. Er wolle als Unterhändler in eigener Sache nicht unvorbereitet vor seinen Schöpfer treten. Er klärte sein Verhältnis zu Gott, ordnete seine religiöse Haltung und bereitete den heutigen Abschied vor.“

Und dann vermittelte der Geistliche das Vermächtnis des verstorbenen Spitzendiplomaten, das dieser ihm in dieser Zeit des Krieges, der ihm das Herz zerriss, für den Trauergottesdienst aufgetragen hatte:

Es braucht die Bereitschaft zur Versöhnung und die Empathie, sonst werden wir nicht nur in einer neuen politischen Eiszeit sondern in einer beständigen Bedrohungssituation leben.“

Mit Frank Elbe ist auch wieder ein Stück ‚Bonner Republik‘ unwiderruflich von uns gegangen. Und für die politischen Hinterbliebenen wird es immer schwieriger, die Errungenschaften dieser Epoche zu verteidigen.

Jetzt liegt es an uns, gute Erben zu sein!

Die Orientierung hat er uns noch mitgegeben.


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