Unter der Rubrik „Lernen“ hat die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) eine Broschüre für Schüler zum Thema „Krieg von Russland gegen die Ukraine“ herausgebracht. Die NachDenkSeiten haben sich dieses offizielle Lernmaterial für Schulen näher angeschaut und sind dabei auf zahlreiche Ungereimtheiten, gravierende Verkürzungen sowie einseitige und teilweise explizit falsche Darstellungen gestoßen. Von Florian Warweg.
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Die vierseitige Broschüre „Was geht?“ der Bundeszentrale für politische Bildung wendet sich an Jugendliche und ist in mehrere Rubriken aufgeteilt:
- Was ist bisher passiert?
- Was bedeutet der Krieg für Menschen in der Ukraine und Russland?
- Was sind die politischen Reaktionen auf den Krieg?
- Was hat der Krieg mit uns zu tun?
- Wie kann Frieden werden?
Der NDS-Faktencheck konzentriert sich auf die Hauptrubriken 1 und 2. Widmen wir uns zunächst der ersten Rubrik: „Was ist bisher passiert?“.
Schon der erste Satz der Rubrik wirft Fragen auf:
„Bis 1991 gehörten Russland und die Ukraine zur Sowjetunion (UdSSR), die von den Russen dominiert wurde“.
Allein schon ein Blick auf die Herkunft der Parteichefs der Sowjetunion (SU) negiert diese Aussage in ihrer Absolutheit:
Von 1922 bis 1953 dominierte der gebürtige Georgier Josef Stalin das politische Geschehen in der SU. Danach bis zu seinem Sturz 1964 war der mächtigste Politiker der UdSSR der aus der Ukraine stammende Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Ihm folgte als Generalsekretär der KPdSU von 1964 bis zu seinem Tod 1983 der ebenfalls aus der Ukraine (Kamjanske, Zentralukraine) stammende Leonid Iljitsch Breschnew. Breschnews Amt wurde in Folge von Juri Wladimirowitsch Andropow übernommen, Andropow hatte wiederum jüdisch-finnische Wurzeln und starb 1984. Von 1985 an lenkte Michail Sergejewitsch Gorbatschow die Geschicke des Landes. Gorbatschow wurde im Nordkaukasus als Sohn einer ukrainischen Mutter geboren.
Dann folgt auf dem Zeitstrahl der bpb ein Sprung auf die Jahre 2013 bis 2014. Dort heißt es:
„Viele Ukrainer_innen demonstrieren für eine stärkere Annäherung der Politik an die EU (Maidan-Proteste). Die russland-freundliche Regierung lässt die Proteste mit Gewalt niederschlagen. Die pro-europäischen Kräfte setzen sich Anfang 2014 durch. Im Februar besetzen daraufhin russische Truppen völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim im Süden der Ukraine. Pro-russisch eingestellte Kämpfer_innen wollen die Loslösung der Gebiete Luhansk und Donezk (Donbas-Gebiet) von der Ukraine erzwingen. Seit 2014 gibt es in der Ukraine pro-europäisch eingestellte Regierungen.“
Diese extrem verkürzte Darstellung der Entwicklung ab 2013 ist in dieser Form zumindest als Lehrmaterial für Schüler nicht tragbar. Weder entspricht die Betitelung „russland-freundliche Regierung“ dem sehr komplexen und oft extrem widersprüchlichen Agieren der Regierung unter Wiktor Janukowytsch der Realität noch die ebenso vereinfachende Darstellung der Niederschlagung der Maidan-Proteste. Ebenso fragwürdig erscheint der nicht weiter kontextualisierte Satz „Die pro-europäischen Kräfte setzen sich Anfang 2014 durch.“ Kein einziger Satz, der auch nur andeutet, dass die Absetzung von Janukowytsch auf verfassungswidrigem Wege ohne die dafür nötige parlamentarische Mehrheit erfolgte, ergo die Definition eines institutionellen Putsches erfüllt. (In der zum damaligen Zeitpunkt gültigen ukrainischen Verfassung war eine Dreiviertelmehrheit aller Abgeordneten für das Amtsenthebungsverfahren vorgeschrieben.) Auch die nachweislich erfolgte massive finanzielle Einflussnahme von äußeren Akteuren, insbesondere der USA, wird komplett verschwiegen. Selbst die bürgerlich-transatlantisch ausgerichtete ZEIT titelte 2015, „Haben die USA den Maidan gekauft?“, und schrieb dann:
„Von fünf Milliarden Dollar an die Ukraine sprach die amerikanische Staatssekretärin für Außenpolitik, Victoria Nuland, in einem Gespräch mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew am 28. Januar 2014. Das war wenige Wochen bevor Viktor Janukowitsch, der mittlerweile zum Präsidenten der Ukraine aufgestiegen war, aus dem Amt floh. Nuland sprach außerdem darüber, wer aus der Opposition in die Regierung wechseln sollte, ganz so, als könnte sie das beeinflussen. All das kam heraus, weil das Gespräch abgehört wurde und offenbar vom ukrainischen Geheimdienst, loyal zu Janukowitsch, veröffentlicht wurde.“
Sich mit fünf Milliarden US-Dollar in die inneren Angelegenheiten eines Landes einzumischen, dessen Gesamtbudget 2014 nicht mehr als 35 Milliarden US-Dollar umfasste (392.6 Milliarden Hryvnia), wäre doch eigentlich eine Erwähnung in der bpb-Broschüre wert.
Angesichts der Tatsache, dass diese Broschüre als Unterrichts- und Aufklärungsmaterial beworben wird, muss man auch die Betitelung als „proeuropäisch“ versus „prorussisch“ hinterfragen. In Europa gibt es weit mehr als die 27 Staaten und 500 Millionen Einwohner der EU, die eigentlich gemeint ist. Die Gesamteinwohnerzahl Europas beträgt über 800 Millionen, verteilt auf 47 Staaten. Mit dieser Einteilung Europa versus Russland widerspricht die Broschüre zugleich anderen Veröffentlichungen der bpb. Auf den von der Bundeszentrale vertriebenen Welt- und Europakarten wird als größte Stadt Europas Moskau genannt und auch der längste Fluss Europas ist mit über 3.600 Kilometern laut der bpb die Wolga, deren Verlauf sich von Quelle bis Mündung ausschließlich auf russischem Territorium erstreckt.
Michael Klundt formuliert es treffend in einem Beitrag für die junge Welt:
„Wer/wie/was auch immer der wohl wichtigste Bewohner des Kreml ist: Er steht morgens in Europa auf und geht abends in Europa ins Bett.“
Diese Gleichsetzung von Europa mit der EU bei gleichzeitig explizitem sprachlichen Ausschluss Russlands vom europäischen Kontinent kann man vielleicht einem Feuilleton-Beitrag von Springers Welt durchgehen lassen, aber nicht der Broschüre einer staatlichen Institution, die deutschlandweit Schülern und Lehrern zur politischen Bildung dienen soll. Statt mit sachlicher, faktenbasierter Information dem Aufklärungsauftrag nachzukommen, gerade in Krisenzeiten, wird dem derzeit laufenden Feindbildaufbau damit sogar noch Vorschub geleistet. Das ist aus gesellschaftlicher wie pädagogischer Perspektive betrachtet unverantwortlich.
Ebenso problematisch erscheint die extrem einseitige Darstellung von „pro-russisch eingestellten Kämpfer_innen“, die die „Loslösung der Gebiete Luhansk und Donezk“ erzwingen wollen. Kein einziger Satz der Erläuterung, was die Hintergründe für diese Entwicklung waren: Wie etwa die Tatsache, dass als eine der allerersten und sehr symbolträchtigen Amtshandlungen der neuen „proeuropäischen Regierung“ ein Gesetzesentwurf zum Verbot von Russisch als offizielle regionale Amtssprache vorgelegt wurde, bei einer Donbass-Bevölkerung, die mehrheitlich Russisch als Muttersprache sprach und spricht.
Dann folgt ein Sprung zum Jahr 2021. Dass 2014 das sogenannte Minsker Abkommen unterzeichnet wurde, mit Deutschland als Garantiemacht, hat Schüler in der Bundesrepublik wohl nach Ansicht der bpb nicht zu interessieren. Dann müsste man ja auch darlegen, dass die Regierung in Kiew sich von Anfang an geweigert hatte, dieses von ihr unterzeichnete und völkerrechtlich verbindliche Abkommen, welches zum Beispiel einen sofortigen Dialog über die Modalitäten der Durchführung regionaler Wahlen sowie die Etablierung einer lokalen Selbstverwaltung der Oblaste Donezk und Lugansk vorsah, umzusetzen.
Dann geht es auf dem Zeitstrahl der Broschüre zum Jahr 2022:
„Am 21. Februar erkennt der russische Präsident Wladimir Putin die russisch kontrollierten Gebiete im Donbas, Donezk und Luhansk, völkerrechtswidrig als selbstständige Staaten an.“
Zumindest der Teil „die russisch kontrollierten Gebiete im Donbas“ steht in dieser sprachlichen Eindeutigkeit im Widerspruch zum Erkenntnisstand des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages und der Bundesregierung. In einem Bundestagsgutachten von September 2019 heißt es dazu:
„Donbass/Donezbecken. Der Territorialkonflikt weist klassische Züge eines nichtinternationalen (internen) bewaffneten Konflikts auf. Über Umfang, Qualität und Ausmaß der militärischen Involvierung Russlands im Ukraine-Konflikt gibt es neben wenigen belastbaren Fakten und Analysen vor allem zahlreiche Spekulationen, zum Teil widersprüchliche Berichte und Pressemeldungen, verschiedene Dementi aber insgesamt kein eindeutiges Lagebild. Auch der Bundesregierung liegen nach eigenen Angaben offenbar keine belastbaren Erkenntnisse vor. Wieviel Einfluss Russland heute auf die Separatisten in der Ostukraine tatsächlich ausübt, lässt sich daher kaum verlässlich ausmachen.“
Auch hier muss man erneut sagen, dass es im Rahmen von Lehrmaterial für Schüler untragbar ist, dass die Bundeszentrale für politische Bildung im Indikativ und ohne jede Relativierung davon spricht, dass Russland die Donbass-Republiken kontrolliert, obwohl sowohl der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages wie auch die Bundesregierung einräumen, dass sie über keinerlei belastbare Erkenntnisse zu dieser behaupteten „Kontrolle“ der Russischen Föderation verfügen.
Die erste Rubrik, „Was ist bisher passiert?“, schließt dann mit dem Satz:
„Am 24. Februar marschieren russische Truppen von Norden, Süden und Westen in die Ukraine ein.“
Diese Darstellung ist mindestens verwunderlich. Laut Darstellung der bpb sollen russische Truppen also angeblich vom Westen in die Ukraine einmarschiert sein, nicht aber von Osten kommend. Jetzt ist es im klassischen geografischen Verständnis bisher eigentlich üblich gewesen, im Westen der Ukraine Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien zu verorten, im Norden Belarus und im Osten Russland.
In keiner auch nur halbwegs seriösen Quelle ist von einem russischen Einmarsch westlich der Ukraine die Rede gewesen. Beispielhaft sei auf diese Karte des britischen Verteidigungsministeriums zum 24. Februar verwiesen.
Es gibt keinen einzigen Hinweis auf vom Westen her einrückende russische Truppen, dafür aber sehr wohl aus östlicher Richtung. Wären tatsächlich, wie von der Bundeszentrale in diesem Lehrmaterial behauptet, russische Truppen vom Westen in die Ukraine einmarschiert, dann hätten wir umgehend den NATO-Bündnisfall gehabt, denn im Westen der Ukraine liegen, wie schon dargelegt, ausschließlich NATO-Staaten. Vermutlich bezieht sich das Lehrmaterial der bpb darauf, dass Einheiten aus den westlichen russischen Militärbezirken zum Einsatz kamen, dies sollte sie dann aber auch explizit so benennen. Aber der alleinstehende Satz in der Broschüre „Am 24. Februar marschieren russische Truppen (…) von Westen in die Ukraine ein“, ist in dieser Form einfach falsch.
Die nächste Seite steht unter der Überschrift: „Was bedeutet der Krieg für Menschen in der Ukraine und Russland?“
Wie man auf der Darstellung sehen kann, wird „Zensur und Propaganda“ in Russland dem „Schutz vor Angriffen“ in der Ukraine gegenübergestellt. Zensur und Propaganda gibt es laut der Broschüre der bpb ausschließlich in Russland. Dass in der Ukraine die Medien im Zuge des verhängten Kriegsrechts komplett gleichgeschaltet wurden und dass de facto alle relevanten Oppositionsparteien und oppositionsnahen TV-Sender vom ukrainischen Präsidenten verboten wurden (ein Großteil zudem bereits 2021, also lange vor der Invasion), sollen Schüler in der Bundesrepublik anscheinend nicht erfahren. Man fragt sich, mit welcher Motivation ausgerechnet in einer Broschüre, die neutral und sachlich zum Ukraine-Krieg und dessen Vorlauf informieren soll, auf diese Information verzichtet wurde. Was hätte dagegengesprochen, die realen Zensurmaßnahmen im Zuge des Krieges in Russland und der Ukraine gegenüberzustellen? Stattdessen wird den Schülern ein idealisiertes Bild von der Ukraine vermittelt. Ein Bild zudem, dass jeder Schüler mit fünf Minuten Rechercheleistung selbst hinterfragen kann.
Dieses Vorgehen der bpb ist pädagogisch höchst fragwürdig und zudem kontraproduktiv für die eigene Reputation dieser Institution der politischen Bildung in Deutschland.
Weiter geht es in dieser Rubrik mit dem Unterkapitel „Wirkung der Sanktionen“. Dort fällt ein Satz, der ebenfalls Verwunderung hervorruft:
„Die westlichen Staaten haben wirtschaftliche und finanzielle Strafen (Sanktionen) gegen Russland verhängt, deren Folgen die Menschen in Russland bereits spüren. Der Wert der russischen Währung (Rubel) ist gesunken.“
Auf der Website der bpb wird als Veröffentlichungsdatum für die Broschüre der 29. April genannt. Die URL zur digitalen Version der Broschüre ist mit einem Datumsvermerk versehen, dieser verweist auf den 03.06.2022.
Zwar ist unmittelbar nach den Sanktionen die russische Währung tatsächlich massiv im Wert gesunken, doch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Broschüre war der Rubel schon längst wieder auf den Wert des Vorkriegsniveaus gestiegen.
Die im Präsens formulierte Aussage in der Broschüre, dass Menschen in Russland die Auswirkungen der westlichen Sanktionen bereits spüren würden, denn „der Wert der russischen Währung ist gesunken“, ist in dem Kontext und zu dem Zeitpunkt folglich nachweislich nicht korrekt.
Fazit: Die Bundeszentrale für politische Bildung als Bundesanstalt im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums hat nach eigener Darstellung die Aufgabe, „Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern und das demokratische Bewusstsein zu festigen“, und soll in Folge „motivieren und befähigen, sich kritisch mit politischen und gesellschaftlichen Fragen auseinander zu setzen“. Weiter heißt es: „Interessierte Bürgerinnen und Bürger können sich bei der BpB also umfassend informieren.“
Zumindest bei der hier analysierten „bildungspolitischen“ Broschüre zum Ukraine-Krieg mit Fokus auf jugendliche Schüler wird keine einzige der formulierten Aufgaben und Ansprüche erfüllt. Die Bundeszentrale sollte, wenn sie ihren Auftrag wirklich ernst nimmt, diese Broschüre umfassend überarbeiten. Die in der Broschüre genannte „wissenschaftliche Begutachtung“ durch Prof. Dr. Jan C. Behrends muss in Folge ebenfalls als mangelhaft bewertet werden.
Zum Abschluss noch eine Frage an unsere Leserschaft: Teilen Sie die Einschätzung und Analyse der bpb-Broschüre durch die NachDenkSeiten oder gibt es Punkte, von denen Sie sagen würden, dass ist zu kleinlich oder nicht gerechtfertigte Kritik an dem Bildungsmaterial? Schreiben Sie uns gerne an [email protected].
Titelbild: Screenshot von bpb.de