Derzeit sorgt eine Entscheidung des schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichts bundesweit für viel Aufsehen. Aus dem Beschluss vom 13. Juni 2022 geht hervor, dass Gesundheitsämter vom Pflegepersonal keine Impfnachweise durch Verwaltungsakte verlangen dürfen. Geklagt hatte eine Zahnarzthelferin aus Flensburg. Wie sie erhalten seit mehreren Wochen viele Arbeitnehmer aus dem Gesundheitswesen verschiedene Schreiben, in denen die jeweilige Behörde auf die berufsbezogene Impfpflicht ab dem 16. März verweist. Die Angeschriebenen haben den Nachweis in den meisten Fällen nicht erbracht. Das gilt selbst für jene, die seit dem Stichtag als genesen gelten. Nach gesetzlichen Vorgaben hätten sie „einen wirksamen Schutz gegen das Coronavirus SARS-CoV-2“ dem Arbeitgeber vorlegen müssen. Wer dem nicht nachgekommen ist, wird nun in den Briefen vom Gesundheitsamt aufgefordert, dazu schriftlich Stellung zu nehmen. Von Eugen Zentner.
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Für sie bekommen die Angeschriebenen eine Frist von wenigen Wochen. Wer diese versäume, drohten die Gesundheitsämter anfangs noch, müsse mit einem Bußgeld in Höhe von bis zu 2.500 Euro rechnen – auch die Zahnarzthelferin aus Flensburg. Als der Bescheid per Verwaltungsakt bei ihr eintraf, legte sie Widerspruch ein – und hatte Erfolg. Seitdem fehlt in den Briefen des Gesundheitsamtes der Verweis auf das Bußgeld. Allerdings findet sich darin noch immer der Vermerk, dass die Behörde die berufliche Tätigkeit und den Zutritt zu der jeweiligen Einrichtung verbieten könne. Laut Beschluss des schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichts ist das tatsächlich rechtmäßig.
Diese Ereignisse zeigen, dass die Lage unübersichtlich ist. Im Gesundheitswesen herrscht Chaos, nicht wegen Corona wohlgemerkt, sondern wegen der berufsbezogenen Impfpflicht. Sie verschärft eher die Situation und ist mit dafür verantwortlich, dass die Not in den Einrichtungen wächst. Das bestätigen viele, die in Krankenhäusern, Altenheimen, Arztpraxen oder Tageskliniken tätig sind. Das Gesundheitswesen steht ohnehin seit Jahren unter einem Rationalisierungsdruck und folgt zunehmend ökonomischen Prinzipien. Viele Stellen werden gestrichen, unrentable Abteilungen geschlossen. Das Pflegepersonal arbeitet täglich am Limit. Zusätzlich dazu kommt es vermehrt zu Krankheitsausfällen von Kollegen, die sich haben impfen lassen. Der Stress nimmt kontinuierlich zu. Dass Behörden dann auch noch Druck per Impfzwang ausüben, raubt den Betroffenen den Rest an Energie. Sie verlieren schlicht die Lust an ihrem Beruf – so wie Katja G. Die 50-Jährige arbeitet seit mehreren Jahren als Pflegekraft an der Uniklinik Freiburg. Parallel dazu geht sie einer Nebentätigkeit bei einem kleinen Assistenzdienst nach, einer Einrichtung, die Hilfspersonal für Menschen mit Behinderungen vermittelt.
Wegen der Doppelbeschäftigung hat Katja G. zwei jener Briefe vom Gesundheitsamt erhalten, allerdings im Abstand mehrerer Monate. Der erste bezog sich auf ihre Arbeit beim Assistenzdienst und enthielt noch die Androhung des Bußgeldes. Die Pflegerin war damals weder geimpft noch genesen. Wenig später machte auch sie eine Corona-Infektion durch, legte den Nachweis über den Schutz gegen SARS-CoV-2 der Uniklinik Freiburg dennoch nicht vor. Also traf ein weiteres Schreiben ein, dieses Mal ohne den Verweis auf das drohende Bußgeld und sogar ohne Unterschrift. Katja G. machte sich die Mühe, in beiden Fällen eine Stellungnahme zu schreiben. Darin bescheinigte sie sich gewissermaßen selbst eine Impfunfähigkeit: „Ich erkläre, dass bei mir eine dauerhafte medizinische Kontraindikation vorliegt“, heißt es in ihrer ersten Antwort. Deswegen könne sie nicht mit dem mRNA-Wirkstoff gegen SARS-CoV-2 geimpft werden. Dieser sei ein Gentherapeutikum und somit nicht als ordentlicher Impfstoff indiziert.
Die Pflegerin hat dabei unter anderem auf die bedingte Zulassung des Wirkstoffs verwiesen und die Impfkampagne als „Versuchsstudie“ bezeichnet, zu der laut Nürnberger Kodex niemand verpflichtet werden dürfe. In der zweiten Stellungnahme knapp einen Monat später verzichtete Katja G. auf diese Argumente und drückte stattdessen ihren Unmut über die negative Entwicklung im Gesundheitswesen aus. Die Pflegerin ist hochenttäuscht, vor allem von der Uniklinik Freiburg, weil diese sich nicht für das impfunwillige Personal einsetzt, obwohl es seit Jahren leidenschaftliches Engagement zeigt und momentan sogar oftmals die vielen krankheitsbedingten Ausfälle kompensiert.
Mehr Unterstützung erhält sie von ihrem zweiten Arbeitgeber, dem kleineren Assistenzdienst. Dieser hat das zuständige Gesundheitsamt angeschrieben und es gebeten, das Betretungsverbot für das ungeimpfte Personal zu überdenken. Der personelle Notstand sei ohnehin groß, sodass man seit Jahren Mühe habe, die anvertrauten Kunden bedarfsgerecht zu versorgen. Fielen jetzt noch die ungeimpften Mitarbeiter aus, müsste die Einrichtung ihre Dienstleistung einschränken. Deshalb sei es wünschenswert, wenn das Gesundheitsamt für sie eine Ausnahme erteilen könnte.
Zu so einem Schreiben wäre auch der Chef Andreas M.s (Name geändert) bereit, eines Sozialpädagogen aus Frankfurt am Main. Der 48-Jährige betreut in einem Heim ältere Menschen mit einer geistigen Behinderung. Wie Katja G. hat er vom Gesundheitsamt zwei Aufforderungen zur Stellungnahme bekommen. In der ersten wurde noch mit einem Bußgeld gedroht, in dem zweiten nicht mehr, sondern ausschließlich vor einem Berufsverbot gewarnt. Das letzte Schreiben resultiert gewissermaßen aus Andreas M.s Reaktion auf den ersten Brief, den er lediglich zum Anlass genommen hatte, dem Gesundheitsamt nur das Genesenenzertifikat ohne eine Stellungnahme zuzusenden. Er habe die Behörde beschäftigen wollen, sagt der Sozialpädagoge. Die gleiche Strategie verfolgt Katja G. Auf diese Weise ließe sich Zeit gewinnen: „Umso länger wir die Ämter beschäftigen, desto länger dauert das Prozedere“, so die Pflegerin. Das Kalkül könnte aufgehen – die berufsbezogene Impfpflicht läuft zum Ende des Jahres aus.
Darauf hofft auch Andreas M. Sein Arbeitsalltag sei unerträglich geworden. Ihn plagen Frust und Depressionen, weil er als ungeimpfter Mitarbeiter permanent von Kollegen gefragt werde, ob er sich denn wirklich regelmäßig testen lasse. „Ich empfinde das als entwürdigend“, sagt der Sozialpädagoge. Er versuche sich an die Regeln zu halten, aber die ständige Konfrontation gehe an die Substanz. Eine Bewerbung bei anderen Arbeitgebern in seinem Bereich verspricht nur wenig Erfolg. In den Ausschreibungen wird stets hervorgehoben, dass eine Impfung gegen SARS-CoV-2 zu den Voraussetzungen gehört. Andreas M. bleiben also kaum Alternativen. Er kann nur auf das Engagement seines Chefs hoffen. Der würde das Gesundheitsamt sogar bitten, den Sozialpädagogen behalten zu dürfen – „solange die pandemische Situation so ist wie momentan“.
Wenn Arbeitgeber zu solchen Mitteln greifen, sagt das über die gegenwärtige Situation im Gesundheitswesen viel aus. Die Misere ist hausgemacht. Besonders kleinere Einrichtungen geraten in Bedrängnis, wenn sie aufgrund der berufsbezogenen Impfpflicht einen Teil ihres Personals verlieren. Wird es zwangsweise freigestellt, erreicht der schon jetzt erschreckende Notstand im Gesundheitswesen eine Qualität, die unermessliches Leid nach sich zieht. Die Verlierer sind Senioren, Kranke, Menschen mit Behinderung und sozial Schwache. Der Politik scheint das nicht bewusst zu sein. Oder sie ignoriert die Auswirkungen ihres Handelns. Anstatt das Gesundheitssystem vor einem Zusammenbruch zu bewahren, wie es seit zwei Jahren heißt, sägt sie verbissen an dessen Säulen.
Für Katja G. sind Hopfen und Malz verloren. Sie sieht im profitgetriebenen Gesundheitswesen keine Zukunft mehr und wird bei der Uniklinik Freiburg kündigen. An diesem Entschluss kann auch die Entscheidung des schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichts nichts ändern. Es sei zwar ein kleines Zeichen von noch vorhandener Rechtsstaatlichkeit, werde aber die Entwicklung im Gesundheitswesen kaum aufhalten. Noch pessimistischer zeigt sich Andreas M. Seit der Corona-Politik habe er jegliches Vertrauen in die staatlichen Institutionen verloren, sagt der Sozialpädagoge. Juristische Entscheidungen würden nicht mehr ernst genommen, wenn sie dem offiziellen Narrativ widersprechen.
Als Beispiel führt er das Weimarer Urteil an, bei dem ein Familienrichter im April 2021 verfügte, dass an zwei Schulen die Corona-Hygienevorgaben des Bildungsministeriums nicht länger angewendet werden durften. Daraufhin geriet er juristisch wie politisch unter Beschuss. Vor wenigen Wochen hat die Staatsanwaltschaft Erfurt sogar Anklage gegen ihn erhoben. Politisch nicht genehme Entscheidungen wie der Beschluss des schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichts hätten nur wenig Aussagekraft, so Andreas M. Dennoch will er sich juristisch wehren, wenn das Gesundheitsamt Sanktionen verhängt. Am liebsten würde er seinem Beruf unter Bedingungen wie vor der Corona-Politik nachgehen. Wenn es aber nicht anders geht, beißt er gerne in den sauren Apfel. „Wenn man mich freistellen will, dann bitte gleich“, sagt er. Das zermürbende Prozedere mit Behörden-Briefen und Anfeindungen im Berufsalltag sei einfach zu belastend.
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