Als der damalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin finanzschwachen Bürgern anlässlich steigender Energiepreise empfahl, doch einfach die Heizung runterzudrehen und sich einen dicken Pullover anzuziehen, war der Aufschrei noch groß. Heute wäre Sarrazin voll im Trend, denn wenn es gegen Russland geht, scheint es in der politischen Debatte keine Tabus mehr zu geben. Aktuell lässt Bundeswirtschaftsminister Habeck die Netzagentur prüfen, ob eine Absenkung der Mindesttemperatur in den Heizungsanlagen von Mietwohnungen auf 16 bis 18 Grad umsetzbar ist. Betroffen wären auch hier vor allem finanzschwache Bürger, doch heute bleibt der Aufschrei aus. Da kann man für die Betroffenen ja nur hoffen, dass sie einen dicken Pulli haben – aber bitte aus ökologischer Fair-Trade-Wolle. Nötig wäre das alles nicht. Gas aus Russland steht schließlich in Hülle und Fülle bereit. Aber offenbar halten Politik und Medien den Wirtschaftskrieg gegen Russland für alternativlos. Den Preis dafür bezahlen einmal mehr vor allem die Armen. Von Jens Berger.
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So richtig rund läuft der Masterplan der Bundesregierung nicht, die Gasspeicher vor dem Herbst noch vollzubekommen. Während Bundeswirtschaftsminister Habeck durchs Land reist, um Bürger und Wirtschaft zum Gassparen zu animieren, wird in den deutschen Gaskraftwerken so viel Gas verstromt wie noch nie. Der Strom wird auch gebraucht … unter anderem, um ihn zu exportieren. Hinter der Schweiz ist ausgerechnet Polen der größte Kunde deutscher Stromlieferungen. Deutschland exportiert auch nach wie vor (russisches) Erdgas über die Jamal-Pipeline nach Polen. Bis zum Dezember 2021 wurde über die Jamal westsibirisches Gas über Belarus und Polen nach Deutschland geliefert. Seitdem arbeitet die Pipeline im umgekehrten Betrieb und liefert Polen „deutsches Gas“ – das Gas, das Deutschland zuvor über die Nord-Stream-1-Pipeline aus Russland eingekauft hat. Das Land, das eigenmächtig mit großen Worten als erstes ein Embargo auf russische Energielieferungen verhängt hat, bezieht also nun einen Teil seines Gases aus Deutschland. Und „wir“ wundern uns, dass es mit der Befüllung der Gasspeicher nicht so recht klappt. Nun macht auch noch Gazprom Dienst nach Vorschrift und reduziert die Lieferungen über Nord Stream 1 wegen Wartungsarbeiten, für die man auf Teile aus Kanada wartet, die aufgrund der Sanktionen nicht geliefert werden können. So wird Deutschlands Gasversorgung ein Opfer der kanadischen Sanktionen. Und der Preis steigt und steigt, während die Speicher sich trotz warmer Temperaturen nur sehr langsam füllen.
Robert Habeck reagierte auf diese Entwicklungen, wie es sich nicht einmal ein Satiriker hätte ausdenken können. Als erstes aktivierte er letzte Woche die in die „Reserve“ verschobenen alten Kohlekraftwerke, die eigentlich in diesem und im nächsten Jahr im Rahmen des „Kohleausstiegs“ abgeschaltet werden sollten. Am 8. Juli soll das dafür aufgesetzte „Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz“ vom Bundesrat verabschiedet werden und so möglichst viele – als klimafreundlich geltende – Gaskraftwerke vom Netz gehen und durch – als klimaschädlich geltende – alte Kohlekraftwerke ersetzt werden. Der Kohleausstieg existiert offenbar nur noch auf dem Papier. Was wohl die „Klima-Kiddies“ dazu sagen? Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Habeck auch noch den Atomausstieg auf Eis legt. Im Englischen gibt es das Sprichwort „Only Nixon could go to China“. Im Deutschen wird es wohl bald heißen, nur die Grünen konnten den Kohle- und Atomausstieg rückgängig machen. Klima? Umwelt? Das alles ist offenbar zweitrangig, wenn es darum geht, die selbstmörderischen Sanktionen gegen Russland zu verfolgen.
Da legen die Grünen dann auch ohne Schulterzucken ihre ohnehin nur noch in homöopathischen Dosen vorhandene soziale Ader beiseite. Damit wir ohne russisches Gas über den Winter kommen, sollen nämlich auch die Privathaushalte Entbehrungen hinnehmen. Die Devise lautet: Frieren für die Ukraine! Da dies natürlich niemand freiwillig macht, lässt Robert Habeck jetzt die Netzagentur prüfen, ob eine Herabsetzung der Mindesttemperatur in den Wohnungen umsetzbar ist. Der Präsident der Netzagentur, Klaus Müller, ist von der Idee offenbar ganz angetan und sagt, seine Agentur „diskutiere bereits mit der Politik“, das Mietrecht dementsprechend zu ändern. Dabei steht eine Absenkung auf 18 Grad am Tag und 16 Grad in der Nacht zur Debatte. Dass dies vor allem für alte und chronisch kranke Menschen gesundheitsschädigend ist, spielt dabei offenbar keine große Rolle. Am Ende wird man diese „bedauerlichen Opfer“ wohl auch Putin in die Schuhe schieben. Und wir wissen ja dank Thilo Sarrazin, dass ein ordentlicher Pullover hier Abhilfe schafft.
Sicher wäre der Aufschrei groß, wenn diese Maßnahmen auch die grüne Wählerklientel betreffen würden. Doch die leben nun einmal nur sehr selten in großen Wohnanlagen, in denen die Vorlauftemperatur der Heizung zentral gesteuert wird. Im gut geheizten Home Office im Eigenheim lässt sich natürlich leicht „Solidarität für die Ukraine“ einfordern. Den Preis zahlen – wie immer – diejenigen, die nicht so viel Glück im Leben hatten.
Doch soziale Aspekte spielen bei der ganzen Debatte ohnehin keine Rolle. Es geht um Höheres. Um Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und vor allem darum, Russland „zu ruinieren“, wie es unsere Außenministerin jüngst so „eloquent“ formulierte. Dass sich Deutschland durch diese Politik am Ende nur selbst ruiniert, liegt zwar auf der Hand, wird aber zumindest in den Leitartikeln und politischen Statements tunlichst verschwiegen. Putin sei schuld und Maßnahmen zur Reduktion des Gasverbrauchs alternativlos. Ist das so? Nein, natürlich nicht. Würde Deutschland die selbstmörderische Sanktionspolitik beenden, wäre die Gasversorgung schon morgen gesichert. Man könnte Nord Stream 2 öffnen und halb Europa mit überschüssigem Gas versorgen. Die Grünen könnten dann eifrig das Klima retten und selbst ärmere Menschen müssten nicht frieren, die Industrie könnte zu wettbewerbsfähigen Preisen produzieren und das Inflationsgespenst wäre vom Hof gejagt. Nur die Idee mit dem „Russland ruinieren“ müsste man dann wohl aufgeben. Aber was würden dann unsere lieben Freunde aus Washington sagen?
Titelbild: Alexandros Michailidis/shutterstock.com