In einer neuen Dokumentation wird das Geiseldrama von Gladbeck von 1988 und das schockierende Verhalten zahlreicher Journalisten nochmals vor Augen geführt. Die damalige zerstörerische Rudelbildung durch viele Medienschaffende und die aktuelle Medienkampagne zum Ukrainekrieg spielen auf ganz verschiedenen Ebenen – aber die Ereignisse von Gladbeck zeigen drastisch die Gefahren, die prinzipiell von einem emotionalisierten und enthemmten „Journalisten-Rudel“ ausgehen können, wenn die Skrupel erst einmal abgelegt wurden. Kann diese Entgleisung bei einem Boulevardthema auch ein Lehrstück für die heutige geopolitische Meinungsmache sein? Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Die neue Dokumentation „Gladbeck: Das Geiseldrama“ (zu sehen bei Netflix) von Volker Heise lässt den Zuschauer geschockt zurück. Der Film erzählt die Ereignisse von 1988 ausschließlich in Form von unkommentiertem Archivmaterial. Was einmal mehr bei der Geschichte besonders aufreizt, ist das enthemmte Verhalten vieler Journalisten, die damals das eigene Berufsethos mit Füßen getreten und sich in ein unmoralisches Rudel verwandelt hatten, das die Polizeiarbeit behindert und für die eigene Karriere und „die Story“ eiskalt das Leben Beteiligter aufs Spiel gesetzt hatte. Skandalöse Vorgänge unter vielen anderen waren, dass mit den Tätern während der Geiselnahme Interviews geführt wurden oder ein Journalist im Fluchtauto mitgefahren ist, um den Geiselnehmern den Weg aus der Kölner Innenstadt zu zeigen. Diese Einzelfälle illustrieren aber nur eine fast allgemeine Enthemmung der damals beteiligten Journalisten.
Moralischer Offenbarungseid eines ganzen Berufstandes
Der eindringliche Film dokumentiert den moralischen Offenbarungseid eines ganzen Berufstandes vor allem mit den Bildern der eigenen TV-Kameras, schlägt also die beteiligten Medien mit ihren eigenen Waffen. Als Reaktion auf die damaligen beruflichen und moralischen Verfehlungen vieler Journalisten wurden laut der Doku einige Bestimmungen geändert, so sind seither unter anderem Interviews mit Straftätern während der Tat verboten. Welche Gefühle der Film heute hervorruft, beschreibt etwa die „Süddeutsche Zeitung“:
„Spätestens beim ersten Zusammenrotten der Reportermeute an einer Bushaltestelle in Bremen, wo man das hemmungslose Draufhalten und die Kumpanei mit den Verbrechern ganz ungeschnitten sieht, entwickelt man starke Hassgefühle.“
Der „Spiegel“ ergänzt zur Wirkung des Films:
“Zum Vorschein kommt vor allem ein hemmungslos agierender Medien-Mob, der jede Distanz verliert. Das sei in der Hitze der Geschehnisse passiert, hieß es später oft entschuldigend, reflektiert habe man erst später. Aber einige Beteiligte vor Ort zeigten schon damals ein Bewusstsein dafür, dass etwas komplett aus dem Ruder lief.“
Das Publikum in Mithaftung
Beide Medien möchten aber, dass die Journalisten ihre Verantwortung für die Entgleisungen mit ihrem Publikum teilen. So meint der „Spiegel“:
„Als Rösner sich vor laufenden Kameras tatsächlich theatralisch eine Pistole in den Mund steckte, war er mit dieser Pose in den Tagesthemen zu sehen. Die Medien hatten endgültig ihre Unschuld verloren. Ihre Nutzer aber auch.“
Und die Süddeutsche Zeitung meint, auch als Betrachter des Films würde man moralische Schuld auf sich laden:
„Sobald man sich auf die Sache einlässt, hängt man moralisch mit drin. Man ist nicht besser als die Kölner Gaffer, die das Gaffen vor laufender Kamera verdammen und dann völlig ungerührt weiterschauen. Die Täter müssen fast in die Luft schießen, damit diese frühen Schafe des heraufdämmernden Always-on-Zeitalters überhaupt eine Gasse zur Abfahrt freigeben. Und wir, vor dem Netflix-Bildschirm, sollten nicht für eine Sekunde auf diese Schauwütigen herabsehen – wir sind wie sie.“
Und die beteiligten Journalisten hätten uns ja schließlich auch indirekt einen Dienst erwiesen, so die SZ:
„Denn man kann das ganze Drama jetzt ja allein deshalb so minutiös aus der Nähe verfolgen, weil so viele Reporter damals schamlos draufgehalten haben. Weil sie alle Bitten der Polizei um Abstand und Medien-Black-out ignoriert haben. Weil sie den Geiselnehmern, die ihre Geiseln an einem ruhigen Ort vielleicht freilassen wollten, wie Gestörte hinterhergejagt sind.“
Dazu muss festgehalten werden: Es ist etwas anderes, ob man als Journalist einen Aufruhr mit verursacht oder ob man als damals zufällig vorbeischlendernder Passant bei diesem Aufruhr dann verweilt – auch wenn die Bilder der Passanten ebenfalls schockieren können. Die heutigen Betrachter der Doku sind unschuldig – ebenso waren es die damaligen Fernsehzuschauer und Zeitungsleser: Sie hatten die abstoßende Berichterstattung nicht bestellt, die ihnen da vorgesetzt wurde. Der Film dokumentiert auch nicht zuerst den zugrundeliegenden Kriminalfall, sondern hat vor allem das Verhalten der Journalisten als Thema.
Parallel zur Ukraine-Kampagne?
Erleben wir mit der überwältigenden aktuellen Kampagne zum Ukrainekrieg (nach den Medien-Kampagnen im Zusammenhang mit Corona) gerade ein internationales „Gladbeck“ der heutigen transatlantisch orientierten Journalisten? Zu beobachten ist zumindest eine ebenfalls mit Begeisterung eingegangene Rudelbildung durch viele Medienschaffende. Und auch bei der Kampagne zum Ukrainekrieg und den selbstzerstörerischen Wirtschaftssanktionen wurden durch eine geschürte emotionale Besoffenheit bei vielen Journalisten viele Schranken zerstört, um sich anschließend frei fühlen zu dürfen, das eigene Berufsethos sowie Grundsätze wie Distanz und Sachlichkeit mit Füßen zu treten.
Aber es gibt auch große Unterschiede zwischen dem Boulevardthema „Gladbeck“ und der heutigen Kriegspropaganda: Ob wie bei Gladbeck zufällig eine Sensation unmoralisch ausgeschlachtet wird oder ob gezielt durch Emotionalisierung eine geopolitische Richtung verteidigt werden soll, sind zwei verschiedene Ebenen. Eine Parallele könnte aber sein, dass in beiden Fällen eine emotionale Besoffenheit zugelassen oder gar geschürt wird, um die Regeln des Anstands und der Vernunft zeitweise außer Kraft zu setzen.
Man sollte aber auch differenzieren zwischen der Ebene der kühlen transatlantischen Strategen einerseits, die geopolitische Ziele verfolgen und als Mittel zum Zweck Emotionen entfachen, ohne sich selber von ihnen davontragen zu lassen. Und der Ebene niederrangiger Berichterstatter andererseits, die man wohl zumindest teilweise als Opfer ihrer Emotionen, ihres eigenen Geltungsdrangs und ihres Opportunismus beschreiben kann. „Gladbeck“ zeigt aber, wie groß die Gefahr ist, dass sich eine große Gruppe von Berichterstattern im Handumdrehen emotionalisiert und wie skrupellos das dann folgende Handeln sein kann.
Redakteure im Rausch
Einmal mehr sollte eine Lehre aus dem Geiseldrama und dem neuen Film sein: Das mediale Rudel läuft oft in eine falsche Richtung, man muss skeptisch prüfen, bevor man sich einer solchen Bewegung anschließt. Und: Emotionen müssen aus den Berichten und den Redaktionen möglichst ferngehalten werden – wer etwas anderes fordert, führt mutmaßlich nichts Gutes im Schilde.
Den aktuellen Rauschzustand, dem sich weite Teile der deutschen Medienlandschaft seit dem russischen Angriff hingegeben haben, haben wir im Artikel „Ukrainekrieg: Deutsche Medienlandschaft endgültig im Rausch“ beschrieben. Im Artikel „Baerbock und die Kitsch-Propaganda“ haben wir die dafür genutzten emotionalen Zutaten beschrieben.
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