Die Erfindung und der Einsatz des Begriffs „Zeitenwende“ ist ausgesprochen clever. Der Begriff suggeriert, dass etwas ganz Schlimmes und etwas Noch-nicht-Dagewesenes geschehen ist und dass deshalb eine grundlegende Veränderung der Sicherheitspolitik fällig sei. Diese Änderung, so die Suggestion, bedarf keiner Begründung. Die Wende wird in mehrfacher Hinsicht vollzogen: zum einen weg von der Politik der Verständigung und hin zur Politik der Konfrontation, zur „Politik der Stärke“ und zur „Abschreckung“. Zum zweiten wird zugleich transportiert, dass Krieg zu führen auch heute noch oder wieder möglich ist und dass wir zu diesem Zweck – wie auch um abzuschrecken – aufrüsten müssen, statt im Kontext der Friedens- und Entspannungspolitik wie bisher gedacht und versprochen abzurüsten. An drei Texten wird beispielhaft gezeigt, wie der Trick funktioniert. Albrecht Müller.
Die zitierten beispielhaften Texte sind:
- Eine Mail des Bundestagsabgeordneten Daniel Baldy an Tanja Rupprecht, eine Leserin der NachDenkSeiten, vom 13.6.2022. Sie hatte sich an der Mailaktion „Stimmen Sie gegen die nukleare Aufrüstung!“ beteiligt.
- Das Vorwort zu einem Beitrag von Professor Dr. Ulrich Schlie mit dem Titel „Europas strategische Lage“, veröffentlicht von der Vontobel-Stiftung, Zürich, am 13. Juni.
- Der Spiegel-Gastbeitrag der Juso-Chefin Jessica Rosenthal vom 30. Mai 2022.
Wenn man die gängige Argumentationsweise und die Nutzung des Begriffs Zeitenwende kennenlernen und begreifen will, dann lohnt sich die Lektüre dieser drei beispielhaften Texte. Deshalb sind sie im Folgenden komplett angehängt. Interessante Stellen sind durch Fettung, Anmerkungen oder Ausrufezeichen markiert. Die ersten beiden Texte sind ausgesprochen kurz, der Essay der Juso-Vorsitzenden ist etwas länger.
Vorweg zusammenfassende kritische Anmerkungen:
- In jedem Beitrag wird der Einmarsch Russlands in die Ukraine als Zeitenwende deklariert. Dass es immer wieder Kriege des Westens gab, wird unterschlagen oder wie im Beitrag der Juso-Vorsitzenden mit Bezug auf den Krieg auf dem Balkan 1992ff nur kurz gestreift und so abgetan: „Viele, die vom Krieg auf dem Balkan nicht direkt betroffen waren, haben an ihn nur eine vage Erinnerung.“ Die Juso-Vorsitzende hatte offensichtlich einen schlechten Geschichtsunterricht. Sie erinnert sich an die Bomben der NATO auf Jugoslawien nur vage und von den Kriegen im Irak, in Afghanistan, in Libyen – insgesamt mit Millionen Toten, die vom Westen hingeschlachtet wurden, hat sie nichts gehört. Das gilt vermutlich auch für die beiden anderen Autoren.
- In allen Beiträgen werden die seit 2014 üblichen Angriffe der Ukraine auf die Ostukraine unterschlagen. Der Krieg hat aus der Sicht der Autoren mit dem Einmarsch der russischen Armee im Februar 2022 begonnen.
- Der Gebrauch des Begriffes Zeitenwende macht es indirekt möglich, sprachlich hart zuzuschlagen. Da ist von „Moskaus totalem Angriffskrieg“ die Rede.
- Der Begriff Zeitenwende macht es möglich, sonstige aggressive Behauptungen unterzubringen. Da ist bei dem SPD-Abgeordneten Baldy die Rede von der „willkürlichen Bombardierung von Wohngebieten, Schulen und Krankenhäusern durch die russische Armee“, „die bereits Tausende von Menschenleben gefordert“ hätten, auch von „Gräueltaten der russischen Armee in zahlreichen Orten der Ukraine, wie die unentschuldbaren Massaker in Butscha“. Mit der Verwendung des Begriffes Zeitenwende werden indirekt und de facto alle Zweifel an der Richtigkeit der westlichen Kriegsberichterstattung beiseitegeschoben.
- Der Gebrauch des Begriffs Zeitenwende macht es auch möglich, sonstige zweifelhafte Behauptungen und Angriffe gegen Russland unterzubringen. Der Historiker und Professor Schlie unterstellt Russland eine „schon viele Jahre währende Strategie“, die „geopolitische Weltordnung im Sinne eines abermals imperial gewordenen Russlands gewaltsam zu verändern“, und nennt dabei als Beispiele Georgien und Syrien. – Selbst die FAZ hat 2009 von einem EU-Untersuchungskommissionsergebnis berichtet, wonach Georgien und nicht Russland den Krieg begonnen hat. Auch im Falle Syriens war, anders als im Westen behauptet wird, Russland nicht der Kriegstreiber. Aber mit dem Begriff Zeitenwende wird die gesamte Differenzierung niedergemacht.
- Das Entscheidende: Der Begriff Zeitenwende macht es möglich, die Entspannungspolitik und ihre Erfolge zu entsorgen. Konzepte wie „Wandel durch Annäherung“ und Abrüstung erscheinen als altbacken. Abschreckung und Politik der Stärke sind die neuen, angeblich modernen Konzepte der Sicherheitspolitik. Welch ein abstruser Rückfall! Dies ist insbesondere für jene Partei, die der Motor der Entspannungspolitik war, eine gravierende Veränderung. Zwei der Autoren der drei Texte sind Sozialdemokraten, einer immerhin Bundestagsabgeordneter und die andere in der wichtigen Funktion der Vorsitzenden der SPD-Jugendorganisation, der Jusos.
- Beide üben Selbstkritik. Der Begriff Zeitenwende legt offensichtlich eine solche abstruse Argumentation und Verhaltensweise nahe.
- Die Autoren finden sich alle auf dem Niveau der Argumentation der Kalten Krieger der Fünfzigerjahre. Die heutige Juso-Vorsitzende argumentiert wie die Junge Union und der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) der damaligen Zeit. Wenn ich der heutigen Juso-Vorsitzenden Texte lese, dann höre ich die Argumentationsweise von Jürgen Wohlrabe, des Vorsitzenden des RCDS inmitten des Kalten Krieges an der Wende der Fünfziger zu den Sechziger Jahren. Herbert Wehner sprach damals mit Blick auf Wohlrabe von Übelkrähe. Heute könnte er seine menschenvernichtende Formulierungsgabe auf die Juso-Vorsitzende anwenden. Bei ihrem Schwadronieren über Freiheit und Demokratie würde ihm sicher etwas Treffendes einfallen.
- Dass der Begriff Zeitenwende vom SPD-Bundeskanzler in die Debatte eingeführt worden ist, zeigt Komik und Tragik der Entwicklung zugleich. Es versetzt ein Sozialdemokrat in oberster Regierungsverantwortung der eigenen Geschichte einen solchen Tritt in den Hintern, dass davon nichts mehr übrig bleibt.
Die Texte:
- Eine Mail des Bundestagsabgeordneten Daniel Baldy an Tanja Rupprecht, eine Leserin der NachDenkSeiten, vom 13.6.2022. Am 13.06.2022 um 11:25 schrieb Baldy Daniel [email protected]:
Sehr geehrte Frau Rupprecht,Sie haben sich an der Mailaktion “Stimmen Sie gegen die nukleare Aufrüstung!” beteiligt und mich aufgefordert, gegen das Sondervermögen Bundeswehr zu stimmen.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende, die auch in unserer Politik für unser Land neue Antworten erfordert. Die willkürliche Bombardierung von Wohngebieten, Schulen und Krankenhäusern durch die russische Armee hat bereits Tausende von Menschenleben gefordert. Die Gräueltaten der russischen Armee in zahlreichen Orten der Ukraine, wie die unentschuldbaren Massaker in Butscha und die Zerstörung von Mariupol, sind schockierende Kriegsverbrechen und müssen aufgearbeitet und geahndet werden.
Zugleich hat uns dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg vor Augen geführt: Wer in Freiheit leben will, braucht auch militärische Stärke, um diese Freiheit zu schützen und zu verteidigen. Das bedeutet: Fortan müssen wir mehr in unsere Verteidigungsfähigkeit investieren. Die Bundeswehr wurde viele Jahre unter konservativer Führung heruntergewirtschaftet. Nun legen wir den Schalter wieder um. Unsere Streitkräfte sollen die Ausrüstung bekommen, die sie brauchen, damit sie die sicherheitspolitischen Aufgaben in Deutschland und innerhalb der NATO wahrnehmen können. Vor dem 24. Februar habe ich die nukleare Teilhabe Deutschlands abgelehnt (!!), da ich ihre Notwendigkeit in unserer Welt nicht mehr gesehen habe. Der 24. Februar und die Ereignisse seitdem haben aber deutlich gemacht, dass Abschreckung gegen Russland heute dringender ist als in den letzten 30 Jahren. (AM: So einfach kann man eine totale programmatische Wende begründen.)
Deshalb haben wir in der vergangenen Woche die Gesetzentwürfe der Regierungsfraktionen zur Errichtung des „Sondervermögens Bundeswehr“ und zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 87a) beschlossen. Dieses Sondervermögen sieht vor, einmalig 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen. Damit sollen insbesondere bedeutsame und komplexe mehrjährige Ausrüstungsvorhaben der Bundeswehr finanziert werden. Wir verankern es im Grundgesetz und schaffen so Planungssicherheit für die bestmögliche Ausrüstung unserer Soldat:innen.
In Bezug auf die Tornado-Nachfolge stehen wir weiter zu unserer Position: Unser Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt (Global Zero) (AM: Das ist doch ein ausgesprochen hohles Versprechen.) und damit einhergehend ein Deutschland frei von Atomwaffen. Dennoch stehen wir zu unseren Bündnisverpflichtungen im Rahmen der Nuklearen Teilhabe. Das tun wir entschlossen, umsichtig und in enger Abstimmung mit unseren europäischen und internationalen Partnern. Wir wollen nicht in einen „Überbietungswettbewerb“ eintreten, sondern verantwortungsvolle Entscheidungen treffen, die sich nicht an Beliebtheitswerten orientieren. In Bezug auf den Ukraine-Krieg lassen wir uns weiter von klaren Prinzipien leiten: enge Abstimmung mit den Bündnispartnern, keine Einschränkung unserer Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit und keine Kriegsbeteiligung von Deutschland oder der NATO. Zugleich stellen wir sicher, dass Zukunftsinvestitionen in soziale Sicherheit, Klimaschutz und Digitalisierung nicht zu kurz kommen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und bleiben Sie gesund.
Mit freundlichen Grüßen
Daniel Baldy, MdB
(AM: Ein unglaublich dummer Brief! Der Mann ist Bundestagsabgeordneter und Lehrer!)
- Das Vorwort zu einem Beitrag von Professor Dr. Ulrich Schlie* mit dem Titel „Europas strategische Lage“, veröffentlicht von der Vontobel-Stiftung, Zürich, am 13. Juni :
Europas strategische Lage
Moskaus brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine, den wir zurzeit mit mancherorts naivem (?) Erstaunen mitverfolgen können, markiert, wie richtig gesagt worden ist, eine Zeitenwende. Seit dem 24. Februar 2022 läuft die Welt in anderem Takt. Anderseits bestätigt dieses Datum eine Strategie, die schon viele Jahre früher zu wirken begann: in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien und – im Jahr 2014 – auf der Krim.
Schon damals ging es im Wesentlichen darum, die geopolitische Weltordnung im Sinne eines abermals imperial gewordenen Russlands gewaltsam zu verändern. Kriege erwiesen sich dabei als ein scheinbar bequemes und für den Aggressor völlig unbedenkliches Instrument.
In Europa hat jetzt ein böses Erwachen eingesetzt. Während Jahrzehnten wiegte man sich in Sicherheit. Gesellschaften, die durch Wohlstandsgewinne träge geworden sind, wähnten sich im Paradies des ewigen Friedens (!). Wegsehen hiess die Devise; wenn man denn überhaupt sah. Und in Deutschland, der wirtschaftlich stärksten Macht des Kontinents, hofierte man dem starken Mann im Kreml, als wäre er ein lupenreiner Demokrat.
Noch ist schwer abzuschätzen, was die «Kehre» bringen wird. Wie weit wir künftig nachhaltig bereit sein werden, die Werte des Westens mit allen notwendigen Mitteln erfolgreich zu markieren. Anderen tatkräftig zu helfen, die besonders exponiert sind. Eine Politik der Stärke (!) zu entwickeln, die konvergent und zukunftsfest im Bündnis mit Amerika (AM: im Bündnis mit einer Nation, die unentwegt Kriege führt). Läuft. Denn leider ist niemand gegen Illusionen gefeit. Sie bedienen die Schablonen der Gewohnheit.
Das gilt auch mit Blick auf die Schweiz. Hier immer noch Leute, die wie Automaten an der Abschaffung der Armee laborieren. Dort Heimatschützer, die die bewaffnete Neutralität als einen Igel sehen, der freilich bloss im Terrarium überlebt. Dabei könnte auch die Schweiz einen wichtigen Beitrag zur europäischen Sicherheitsarchitektur leisten. Nötig wären hierzu: erstens (und wie andernorts auch) die Aufstockung der finanziellen Mittel. Zweitens, die Neukonzeption der Dienstpflicht. Drittens: Die Anpassung der Neutralitätspolitik an realistische Szenarien künftiger Bedrohung.
Die Lehren der Geschichte gehen häufig auch so: Nur kluge und entschlossene Köpfe, die ihren Kompass laufend überprüfen und eine gute Portion Argwohn kultivieren, schaffen jene Politik, die das Dasein in Freiheit und Sicherheit entschieden verteidigt. – Wir wünschen Ihnen nachhaltige Lektüre dieses Essays.
*Autor ist Professor Dr. Ulrich Schlie. Er ist Historiker und seit 2020 Henry Kissinger Professor für Sicherheits- und Strategieforschung sowie Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS, an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn).
- Der Spiegel-Gastbeitrag der Juso-Chefin Jessica Rosenthal vom 30. Mai 2022
Juso-Chefin Rosenthal »Ein Sondervermögen allein für die Bundeswehr greift viel zu kurz« Ein Gastbeitrag von Jessica Rosenthal
Vorbemerkung des Spiegel:
Sie ist die bislang prominenteste Ampel-Abweichlerin beim Sondervermögen für die Bundeswehr: Juso-Chefin Jessica Rosenthal lehnt den Kompromiss mit der Union ab – und kritisiert den Koalitionspartner FDP. 30.05.2022.
Mitte April saß ich im Wohnzimmer einer Studi-WG in meinem Bonner Wahlkreis, als der Satz fiel, der mir aus dem Herzen sprach: »In diesem Moment ist für mich eine ganze Welt zusammengebrochen.« Das war sechs Wochen nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine, nach der »Zeitenwende«, die Olaf Scholz in einer Sonntagssitzung des Bundestages ausgerufen hatte, und nachdem alles einfach anders war. (!) Für eine Generation, die wie ich oder später in Deutschland geboren wurde, bedeutet ein Angriffskrieg vor der Haustür, auf europäischem Boden, einen tiefen Einschnitt. Viele, die vom Krieg auf dem Balkan nicht direkt betroffen waren, haben an ihn nur eine vage Erinnerung. Frieden und Freiheit sind zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Krieg, das war immer woanders.
Dass allein diese Feststellung kaum auf die Vielen zutrifft, die ihre familiären Wurzeln in anderen Ländern haben, ist ein erster Teil der Erkenntnis. Ein zweiter Teil ist: Wir waren viel zu oft blind für das, was wir nicht sehen wollten. Daher bedeutet Zeitenwende vor allem eins: Selbstkritik. Die deutsche Politik hat ihren östlichen Partnerländern nicht zugehört, die eindringlich vor der Gefahr warnten, die von Russland ausging. Die deutsche Politik, wir alle, haben den Krieg in Georgien und die Annexion der Krim nie als den Einschnitt bewertet, der es war. Und auch die Sozialdemokratie hat die Abhängigkeit von russischem Gas in den folgenden Jahren sogar noch gesteigert und Nord Stream 2 gegen die Wünsche unserer europäischen Partnerstaaten vorangetrieben. Wir stehen nun vor einem Scherbenhaufen. Wer es in Zukunft besser machen will, muss die Stärke haben, diese Fehler zu korrigieren. Das gilt auch für die SPD. (Donnerwetter!)
Es besser zu machen, bedeutet auch, der Ukraine zuzuhören, die auch deshalb angegriffen wird, weil sie sich aufgemacht hat, Teil der EU zu sein. Den Kandidatenstatus der Ukraine jetzt nicht ausdrücklich voranzutreiben, zeigt: Man hat nichts gelernt. Ich erwarte von der deutschen Bundesregierung, dass sie diese ausgestreckte Hand jetzt ergreift. (A. M.: Das sind die Aussagen der Juso-Vorsitzenden!)
Selbstkritik zu üben, das heißt in meinen Augen aber gerade nicht, die Fehler nur bei anderen zu suchen. Nicht ohne Grund habe ich das Gefühl meines Gesprächspartners in der Studi-WG geteilt: Auch für mich ist mit diesem Angriffskrieg zunächst ein Weltbild zusammengebrochen. Es war eine Welt ohne Waffen und die Bundeswehr ein notwendiges Übel darin. Nichts davon war falsch. Es bleibt richtig eine Welt ohne Waffen, ohne Gewalt und in Frieden anzustreben. Es ist mittel- und langfristig sogar dringend notwendig im Sinne der Menschheit auf Szenarien der Abrüstung hinzuarbeiten. Aber all diese Überzeugungen haben nie ernsthaft die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Autokraten wie Putin Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen. (A. M.: Ein sehr simples Weltbild) Die Frage, wie wir darauf reagieren würden, habe ich mir früher nie gestellt. Das bleibt der Fehler. Gerade wenn die gesellschaftliche Linke eine beständige Friedensordnung schaffen will, gehört die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Verteidigungsfähigkeit unserer Demokratien mitten ins Zentrum der inhaltlichen Arbeit. Daher lehne ich ein Sondervermögen für die Bundeswehr auch nicht aus Prinzip ab, sondern weil die Umgehung der Schuldenbremse durch die Grundgesetzänderung für das Militär eine zu kleine Lösung für ein viel größeres Problem ist.
Eine Mehrheit der Staaten hat den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verurteilt. Das ist eine gute Nachricht. Doch die bittere Wahrheit ist, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht in Demokratien lebt. Umso wichtiger und entscheidender ist es, dass wir fähig sind, unsere Werte und unsere Freiheit verteidigen zu können – falls nötig auch militärisch. Auch darum geht es bei dem Krieg, den Russland führt. Die Autokraten dieser Welt haben vor nichts mehr Angst als vor der Idee der Freiheit, der Gleichheit aller Menschen und der Demokratie, weil nichts ihre Macht stärker bedroht.
Wer Demokratie und Menschenrechte gegen Autokraten nach innen wie nach außen verteidigen will, der kann und darf sich weder auf westliche Regionen noch auf den militärischen Bereich beschränken. Denn so sehr ich auf der einen Seite Grundüberzeugungen auf den Prüfstand stelle, so sehr bin ich auf der anderen Seite fest davon überzeugt, dass es noch nie wichtiger war, für eine progressive Politik einzustehen: für globale wie nationale Umverteilung, für breite Investitionen in Deutschland, der EU und der Welt, für einen entschlossenen Kampf gegen den Klimawandel und die Bekämpfung weltweiter Armut. Ein Sondervermögen allein für die Bundeswehr greift dafür viel zu kurz.
Nie zuvor war ein europäisches Handeln so wichtig und nie zuvor war es so notwendig, dass Deutschland endlich eine führende Rolle in der EU übernimmt. Denn auch dem Letzten sollte klar geworden sein, dass die Stärkung der europäischen Lieferketten eine Sicherheitsfrage ist. Schlüsselindustrien dürfen nicht allein den Märkten preisgegeben werden, um dann in einer von China dominierten Wirtschaft zu erwachen. Es ist endlich Zeit für eine europäische Investitionsoffensive und eine aktive Industriepolitik. Es gilt, die notwendige Infrastruktur aufzubauen, Industrie anzusiedeln und vorhandene Wirtschaftszweige von fossilen Energieträgern in autokratischer Hand unabhängig zu machen. Für diese Unabhängigkeit gibt es nur eine einzige Antwort: erneuerbare Energien!
Die Entwicklung eines klimaneutralen Europäischen Wirtschaftsraums, der mithilfe von Kreislaufwirtschaft ressourcenschonend und damit möglichst autark bestehen kann, kostet Geld. Dieses Geld wird auch benötigt, wenn Europa für afrikanische Staaten ein echter wirtschaftlicher Partner sein und den afrikanischen Kontinent nicht der Einflusssphäre Chinas überlassen will. Schließlich werden der Wiederaufbau der Ukraine und die Bewältigung der globalen Hungerkrise weitere Gelder notwendig machen. Doch anstatt diesen Herausforderungen entschlossen entgegenzutreten, feilschen wir um jeden zusätzlichen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit und wissen schon jetzt, dass das Geld nicht reichen wird. Ohne die Schuldenbremse, die uns in so vielen Bereichen dringend notwendige Investitionen unmöglich macht, bräuchten wir kein Sondervermögen für die Bundeswehr.
»Unsere Demokratie ist auch nach innen verletzlich«
Demokratie muss nach außen, aber eben auch nach innen verteidigt werden. Unsere Demokratie ist auch nach innen verletzlich und Teile der Bevölkerung haben in sie immer weniger Vertrauen, das zeigt auch die historisch niedrige Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen in NRW.
Die immer sichtbarer werdende Umverteilung von unten nach oben leistet unzweifelhaft einen entscheidenden Beitrag zu dieser Abwendung von der Demokratie. Die Belastungen durch steigende Energie- und Lebensmittelpreise treffen gerade die, die ohnehin schon wenig haben und die vom voranschreitenden Wandel in der Arbeitswelt, ob durch Digitalisierung oder Globalisierung, nichts Positives mehr erwarten. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, der das Fundament für eine starke und wehrhafte Demokratie ist, erodiert so immer weiter.
Was sollen wir antworten, wenn Pflegekräfte fragen, warum 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr da sind, aber kein Geld für bessere Bezahlung oder eine ausfinanzierte Krankenhausinfrastruktur. Es ist absolut nachvollziehbar, wenn Eltern danach fragen, warum ihre Kinder die Schultoilette nicht benutzen wollen, weil angeblich kein Geld für die Sanierung da sei. Die ehrliche Antwort darauf ist: Geld ist da – bei denjenigen, die gar nicht mehr wissen, wohin damit und auch im Staatshaushalt. Wir aber halten lieber die Schuldenbremse ein, anstatt in unsere Gesellschaft zu investieren.
Gerade angesichts der zunehmenden Belastungen durch den Krieg in der Ukraine kann die Antwort doch nur sein: Wir sind gerade jetzt bereit, zusätzliches Geld auch auszugeben. Für weitere Entlastungspakete, die unzweifelhaft nötig sind, aber auch für die vielen strukturellen Veränderungen, die wir endlich umsetzen müssen. Wer den Zusammenhalt langfristig stärken und die Demokratie nach innen wehrhaft machen will, der kann und muss große Lösungen wählen. Die Abflachung der Steuerprogression gerade für kleine und mittlere Einkommen, die Einführung eines sozialen Klimageldes, kostenfreien Nahverkehrs, der Kindergrundsicherung: Politik muss zeigen, dass wir zu großen Schritten bereit und dass wir handlungsfähig sind – für die Bundeswehr, aber auch für unsere Gesellschaft als Ganzes. Dafür braucht der Staat den finanziellen Handlungsspielraum, der mit einer Schuldenbremse nicht gegeben ist. Er braucht aber auch den Mut zur Umverteilung – zum Beispiel durch eine Erhöhung der Erbschaftsteuer.
Wer »Zeitenwende« sagt, muss Zeitenwende meinen. Es darf kein Mantra sein, das nur die Bundeswehr, aber nicht die gesamte Wehrhaftigkeit der Demokratie nach außen wie nach innen meint. Der 24. Februar hat mir und meiner Partei Selbstkritik abverlangt und eine Kurskorrektur. Der 24. Februar verlangt Gleiches von der FDP, aber auch von der Union. Das Sondervermögen wird geschaffen, weil die Bundeswehr in 16 Jahren unionsgeführtem Verteidigungsministerium kaputtgespart wurde und für ihren Auftrag nicht einsatzfähig ist. Deshalb braucht die Bundeswehr natürlich nun viel Geld, um die Mangelverwaltung der vergangenen 16 Jahre aufzufangen und eine zeitgemäße Ausrüstung herzustellen. Doch viele Milliarden allein werden die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr nicht wiederherstellen können. Auch das Beschaffungswesen muss einer gründlichen Reform unterzogen werden, alles Geld verpufft sonst ohne den gewünschten Effekt, die Bundeswehr künftig militärisch besser auszurüsten. Vor allem aber müssen wir strategische Debatten wie um das Zwei-Prozent-Ziel und eine strategische Aufstellung der Bundeswehr endlich miteinander gesellschaftlich wie parlamentarisch führen. Nur so können wir gemeinsam tragfähige Antworten auf die Herausforderungen dieser Zeitenwende finden.
Wenn wir als Parlamentarier*innen unsere Demokratie wehrhaft aufstellen wollen, dann müssen wir alle auch den notwendigen Mut dafür aufbringen, Prinzipien, die wir einst für richtig hielten, nach kritischer Prüfung über Bord zu werfen, wenn sie nicht mehr zeitgemäß sind. Das gilt für den Verteidigungsetat und die Ausstattung der Bundeswehr wie für die Schuldenbremse. Ich bin nicht bereit, für ein Sondervermögen Bundeswehr am Grundgesetz herumzudoktern, obwohl der Fehler an ganz anderer Stelle liegt. Ich bin nicht bereit, einer Grundgesetzänderung zuzustimmen, weil der Mut für eine echte Reform unserer Haushaltspolitik fehlt. Zeitenwende ist größer als das, Zeitenwende erfordert nie dagewesene Handlungsmacht und Handlungsspielräume für eine wehrhafte Demokratie, die Verantwortung übernimmt.
Nachbemerkung zum Text der Juso-Vorsitzenden:
Der Text enthält im 2. Teil einige vernünftige Aussagen. Aber insgesamt wirr und in der entscheidenden Frage von Krieg und Frieden weit weg von den Erkenntnissen und erfolgreichen Strategien ihrer früheren Parteifreunde.
Titelbild: Abschreckung 13.6.2022