Frankreich hat gewählt. In der ersten Runde der Parlamentswahlen konnte das neugegründete linke Bündnis NUPES mehr als einen Achtungserfolg erzielen. Ignoriert man die „macronfreundliche“ Zählweise des Innenministeriums, war NUPES sogar der Gewinner dieser ersten Runde. Über die Hintergründe und die möglichen Auswirkungen dieses ersten Erfolges sprach Frank Blenz für die NachDenkSeiten mit dem Frankreich-Experten und Politologen Sebastian Chwala.
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Viele Menschen gehen auf die Straße in Frankreich. Parteien und Gruppen vereinen sich. Einigkeit macht stark. Viele spüren, Änderungen müssen her. Es gibt ein Bündnis, NUPES. Wie ist die Lage vor dem zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen?
In Frankreich galt die politische Linke bis März noch als tot. Selbst Jean-Luc Mélenchon wurden wenig Chancen auf ein starkes Wahlergebnis eingeräumt. Da auch die sozialen Bewegungen wenig Materielles erreicht haben, waren sich die neoliberalen Eliten relativ einig, dass ein erneuter Wahlsieg Macrons möglich ist, da die Menschen scheinbar in Lethargie verfallen waren. Durch den Zusammenschluss aller Linksparteien, das ist schon jetzt nach der 1. Wahlrunde klar, wächst nicht nur die seit 2017 marginalisierte Linke wieder zu einem numerisch relevanten politischen Faktor heran. Aus lauter Angst davor, die Macht teilen zu müssen, zeigte der angeblich „zentristische“ „Macronismus“ mit einer agressiven „Rote Socken“-Kampagne auch nur oberflächlich politisierten Menschen, dass ganz knallhart nur die Interessen der Elite vertreten werden. Zudem macht ihnen Angst, dass sich Grüne und Sozialdemokraten nach links bewegt haben und so angebotsorientierte Wirtschaftspolitik nicht mehr als alternativlos betrachtet wird.
Die Wahlbeteiligung in Frankreich war beim ersten Gang sehr niedrig. Sie sehen darin ein Zeichen der Präsidialisierung des Landes. Beschreiben Sie diese Wortwahl.
Die bestehende 5. Republik ist völlig auf den Präsidenten zugeschnitten und das gewählte Parlament hat, wenn die den Präsidenten unterstützenden Kräfte über eine Mehrheit verfügen, kaum Möglichkeiten, selbst die Initiative zu ergreifen. Somit wird in Frankreich politische Macht nur mit dem Staatspräsidenten verbunden und nur dessen Wahl bringt noch eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurne. Natürlich darf man nicht vergessen, dass die Menschen in wachsendem Maße von der Politik enttäuscht und schwer zu motivieren sind, da Hoffnungen immer enttäuscht wurden. Besonders von der Linken. Spätestens seit Staatspräsident Mitterand sich 1983 zu einer eher wirtschaftsliberalen und finanzmarktorientierten Politik bekehren ließ, sank ihr Stern.
Wie groß ist der Einfluss der Medien, des Innenministeriums und weiterer Akteure, die Öffentlichkeit zu beeinflussen, auf dass das Bündnis NUPES schlechter dasteht, als es tatsächlich aussieht?
Das Innenministerium wird immer noch von einem „Macroniten“ geleitet. In Frankreich ist es seit jeher üblich, sich die Wahlergebnisse von Regierungsseite so zurechtzulegen, dass die eigenen Zahlen ein wenig besser dastehen. Das ist auch am Wahlabend passiert. So hat das Innenministerium die Wahlergebnisse von einzelnen Kandidaten herausgerechnet, denen unterstellt wurde, nicht wirklich Teil des NUPES-Bündnis zu sein. Nur deshalb lag das Wahlbündnis von Macron am Ende knapp vorne. Leider wollten die meisten Medien in Frankreich diese Manipulation nicht durchschauen und im Ausland sind diese Details natürlich nicht nachzuvollziehen. Das Bündnis NUPES musste sogar die Anerkennung als offizielles Bündnis auf höchster Ebene einklagen, da der Innenminister der Meinung war, NUPES müsste sich faktisch als gemeinsame Partei gründen, was aktuell niemand der beteiligten Organisationen will. Dass die Mainstream-Medien NUPES nicht mögen, liegt auf der Hand. Schließlich gehört ein Großteil davon einer Handvoll Milliardären, die sich gut mit der politischen Rechten verstehen.
Welche Chancen für das Land eröffneten ein Wahlerfolg von NUPES und ein möglicher Ministerpräsident Melenchon nach dem kommenden Sonntag?
Zu Anfang sei gleich gesagt, dass sich im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wenig ändern wird, da der Staatspräsident hier eine Art „Richtlinienpolitik“-Kompetenz inne hat. Zudem gibt es zwischen den Linksparteien hier auch die größten Differenzen. Die Deutung der Krieges in der Ukraine und das Verhältnis zur NATO bewerten Sozialdemokraten und Grüne anders als LFI und PCF. Auch bei den Nationalisierungen möchten diese beiden Parteien weiter gehen als Grün und Rot. Immerhin möchte man der neoliberalen EU Einhalt gebieten und im Inneren eine Politik der Umverteilung von „Oben“ nach „Unten“ in Gang setzen. Man setzt bewusst auf eine nachfrageorientierte Politik.
Als erste Maßnahme soll es Preisstopps für Kraftstoffe und Gas geben. Zudem soll der Mindestlohn erhöht werden und die geplante Rentenreform Macrons gestoppt werden. Zudem ist eine Art „Grundeinkommen“ für junge Menschen zwischen 16 und 25 geplant, die über keine Ansprüche auf Sozialleistungen oder Leistungen, die dem Bafög entsprechen, haben. Spannend ist der Anspruch, den Ausbau des öffentlichen Wohnungssektors wieder in Angriff zu nehmen. Das ist ein bemerkenswerter Umschwung in der französischen Wohnungspolitik, in der auch die „alte“ Linke nur noch maximal die Erleichterung des Erwerbs von Wohneigentum als Option vertreten hat.
Die große Hoffnung auf neue Arbeitsplätze wird in einem ökosozialen Umbau der Ökonomie gesehen. Anders als man in Deutschland argumentieren würde, steht dabei immer die Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Spielräume Frankreichs im Vordergrund. Internationale Zusammenarbeit, die man natürlich will, soll stets auf Augenhöhe erfolgen. Man hofft, das Verhältnis zu den Ex-Kolonien in Afrika wieder verbessern zu können. Mélenchon hat die Hoffnung auf eine Mittelmeerunion, eine alte französische Idee als Gegengewicht zum deutsch dominierten Mittel- und Nordeuropa, noch nicht aufgegeben.
Wie beschreiben Sie die Lage im Land angesichts der zahlreichen, jahrelangen intensiven Kämpfe, Aktionen, Demonstrationen, Blockaden und Initiativen der Bürger, die Gesellschaft sozialer, solidarischer, gerechter zu gestalten, um schließlich doch immer und immer wieder auf die Bretter gezwungen zu werden ?
Politik und Gesellschaft haben sich oft völlig voneinander abgekoppelt. Den politischen Parteien wird wenig zugetraut, eine Änderung herbeizuführen. Überalterung und Korruption der kleinen Machtgruppen sind immer wieder große Themen. Zudem haben in der Vergangenheit die politischen Lager keine großen neuen Ideen für eine tragfähige Erneuerung des Landes vorgelegt. Zwar gab es immer wieder laute Forderungen nach wirklicher Beteiligung der Menschen aus den unteren gesellschaftlichen Milieus, doch wurden diese bisher ignoriert. Stattdessen versucht die Rechte, inklusive Le Pen, immer noch den Menschen einzureden, dass nur die Profite der Unternehmer steigen müssten, damit auch ein paar Centimes für die Beschäftigten abfallen.
Entsteht darüber Missmut, wird versucht, die Empörung auf jene Französinnen und Franzosen abzuwälzen, die nicht weißer Hautfarbe sind. Der Erfolg von Mélenchon hatte zuletzt darin bestanden, vor allen Dingen dieser Bevölkerungsgruppe Raum innerhalb LFI einzuräumen. Dies geschah leider auch gegen den Widerstand etablierter Linker. Man hat deshalb versucht, zahlreiche Kandidatinnen aus den Banlieus für Wahlen aufzustellen. Das bekannteste Gesicht dieses Handelns ist Rachel Keke, die als Reinigungskraft einen erfolgreichen Streik in einem Luxushotel anführte und gute Chancen hat, nächste Woche ins Parlament gewählt zu werden.
Was bleibt an Möglichkeiten, die Präsidialisierung zu bremsen, das Durchregieren zu verhindern, dem Macronismus nicht zum Erfolg zu verhelfen? Oder ist Macron am Ende gar ein wunderbarer Präsident, seine Regierung einfach genau richtig für die Grande Nation?
Vor allen Dingen müssen die jungen Menschen am kommenden Sonntag erst einmal wählen gehen. Dies wäre ein erster Schritt. Die Altersgruppe der jungen Erwachsenen ist am weitesten vom klassischen Politikbetrieb entfernt. Das heißt nicht, dass diese sich nicht zivilgesellschaftlich engagieren. Gerade bei den Klimaprotesten wurde dies deutlich. Oftmals ist dieses Engagement jedoch nur punktuell und themenorientiert und überdauert keine langen Zeitperioden. Dabei hat insbesondere die Covidzeit die junge Generation hart getroffen und finanziell sowie emotional an ihre Grenzen geführt. Es muss Gewerkschaften und linken Parteien in Zukunft gelingen, die kommenden Generationen wieder an dauerhaftem politischen Engagement zu interessieren. Ein Sieg von NUPES, dessen Programm sich gezielt an junge Menschen richtet, könnte die französische Linke wieder zu alter Stärke zurückführen.
Danke Ihnen, sehr geehrter Sebastian Chwala, für das Gespräch.
Titelbild: nupes-2022.fr