Am 2. Oktober 2022 sollen in Brasilien allgemeine Wahlen mit der Abstimmung über 513 Abgeordnete zur Erneuerung des Parlaments, über 26 Landesgouverneure und den Präsidenten der Republik stattfinden. So sieht es der Wahlkalender des Obersten Wahlgerichts (TSE) vor. Doch einer der Präsidentschafts-Kandidaten meutert gegen Wahlsystem und Wahlgericht, deren Transparenz er seit 2019 infrage stellt. Das hanebüchene Paradoxon ist, dass der Meuterer selbst nur mittels eines abgekarteten Justizmanövers die Macht eroberte, als der damalige Richter Sérgio Moro die Kandidatur des Wahlfavoriten Luiz Inácio Lula da Silva verbot, der seine Kampagne aus der Haft führte. Wie bekannt, wurde Moro für seinen politischen Handstreich von dem dadurch begünstigten Herausforderer Lulas mit der Nominierung zum Justizminister belohnt. Von Frederico Füllgraf.
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Der begünstigte Meuterer heißt Jair Bolsonaro, der sich für eine zweite Amtszeit bewirbt und nicht im Entferntesten damit rechnete, Lula ein zweites Mal zum Gegner zu haben. Seitdem die jüngsten Umfragen des Instituts Datafolha seinem Rivalen Lula 48 Prozent der Wählerpräferenz zuerkennen, scheint der rechtsradikale, ehemalige Fallschirmjäger Amok zu laufen. Bolsonaro vereinigt nämlich kaum 27 Prozent in der Wahlumfrage auf sich. Eine Differenz von 21 Prozentpunkten hinter Lula, die ihm eine spektakuläre Niederlage schon in der ersten Wahlrunde, ohne Stichwahl, bescheren könnte. Selbstverständlich gibt es ausreichend Beispiele dafür, dass Erhebungen der Meinungsforscher nicht die Macht der fehlerfreien Prophezeiung haben. Doch 21 Prozent sind kein Pappenstiel, das sehen selbst konservative einheimische Beobachter ein und bezeichnen den Wiederwahl-Anspruch des amtierenden Präsidenten als vergeblichen Wunschtraum.
Die Abkehr vom „Faulenzer“ und dessen Ängste vor der Justiz
Bolsonaro erschrickt vor seiner sinkenden Popularität, sein erwiesener, psychopatisch anmutender Narzissmus verbietet ihm aber, seine Selbstverschuldung einzusehen. Seit seiner Sabotage der Covid-Sanitärmaßnahmen und Impfung schmilzt die Anzahl seiner Anhänger dahin, die sich 2020 noch auf rund 35 Prozent der Wahlberechtigten summierten. Bei voranschreitender Machtausübung in den vergangenen 18 Monaten – die von ultraliberalen, arbeiterInnenfeindlichen Maßnahmen wie Mindestlohn-Knebel bei rasant steigenden Lebensmittel- und Energiepreisen, gepaart mit der fortschreitenden Privatisierung von öffentlichen Energiebetrieben geprägt ist – wendeten sich Hunderttausende seiner ursprünglichen Wähler von dem Präsidenten ab. Nach neuesten Angaben hat ihn seine rabiate Amtsausübung rund 53 Prozent der ursprünglichen Wähler gekostet, wovon 18 Prozent zum Rivalen Lula migrierten.
Große Teile der Mittelschicht und der Armen interessiert weniger, ob das herrschende System „bloß autoritär“ oder offen faschistisch handelt, sondern das „Hier und Jetzt“, also der imperative Antrieb zum nackten Überleben. Auch wenn die Mehrheit es verdrängt hat, dass während der Regierung Dilma Rousseff (2011-2016) mit sozialen Förderungsmaßnahmen die Armut auf 22 Prozent heruntergefahren wurde, ist es Gesprächsthema in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft, auf der Straße, dass umgekehrt die sozialen Abbau-Maßnahmen von Bolsonaros skrupellos neoliberalem Wirtschaftsminister Paulo Guedes die Armut wieder auf schwindelerregende 50,7 Prozent der Bevölkerung katapultiert haben.
Empörung ergreift die Menschen, wenn Fernsehen und Tageszeitungen dokumentieren, wie der Präsident seit mehr als drei Regierungsjahren die meisten Wochentage auf Strandpartys oder propagandistisch ausgerichteten Motorrad-Umzügen und Einweihungen verbringt. Eine Untersuchung seines Terminkalenders durch Reporter der Tageszeitung Folha de S. Paulo belegte schließlich, dass Bolsonaro ein untätiger „fauler Hund“ ist. Dass der Staatschef obendrein zwischen Januar 2019 und März 2021 für seine privaten Amüsements umgerechnet 4,1 Millionen Euro verprasst hat, die mit einer Kreditkarte der Regierung, also mit Mitteln des Steuerzahlers, beglichen wurden, das widert zunehmend auch die „armen Fachos“ an, die sich 2018 von Bolsonaros scheinheiliger Devise des „Kampfes gegen die Korruption“ verführen ließen.
Doch der amtierende Staatschef fürchtet die Wahlniederlage aus zweierlei Hauptgründen. Zum einen wegen seiner Verhaftung, zum anderen, vom Militär verlassen zu werden, weil er seinen Auftrag als „Drecksarbeiter“ nicht zufriedenstellend erledigt hat. Mindestens ein Hafturteil ist im Verlauf des kommenden Jahres 2023 deshalb nicht ausgeschlossen, weil Bolsonaro seit 2019 Angeklagter in mehr als 160 Verfahren (Stand: August 2021) ist.
Das groteske Verschwörungsgarn über die brasilianischen Wahlurnen
Die politisch brisanteste Anklage gegen den Präsidenten bildet den Kern der rechtsradikalen Offensive zur Delegitimierung eines Wahlsieges Luis Inácio Lula da Silvas. Es handelt sich um den Vorwurf der „Bildung einer kriminellen Vereinigung im Bunde mit Militärs zur Verbreitung von Fake News über die elektronischen Abstimmungsurnen des brasilianischen Wahlsystems“, so Richter Alexandre de Moraes im Obersten Gerichtshof (STF).
Alles begann mit der Nörgelei Jair Bolsonaros an der Zuverlässigkeit der seit 1996 in Brasilien sicher, schnell und in 25 Betriebsjahren unbeanstandet arbeitenden elektronischen Wahlurnen, denen er nach seiner eigenen Wahl Ende 2018 „Betrug“ unterstellte. Die an den Haaren herbeigezogenen Mutmaßungen bekamen Aufwind mit der Hinterfragung der US-Wahl und der Ermunterung zur Kapitol-Erstürmung durch das Bolsonaro-Idol Donald Trump. Seitdem verstieg sich der verängstigte, mehrfach angeklagte Präsident zu einer Hetzkampagne gegen das Oberste Wahlgericht (TSE), dem er bei der kommenden Präsidentenwahl ein „Komplott“ zugunsten Lula da Silva unterstellte.
Im Parlament reichten seine Anhänger den Antrag auf Wiedereinführung des Stimmzettel-Wahlverfahrens ein, womit im Falle eines Betrugsvorwurfs im elektronischen System die Papierstimmen manuell ausgezählt werden können; genau das alte Verfahren, mit dem nicht nur in Brasilien mit Wahlzettelfälschung oder Urnen-Entwendung über Jahrzehnte hinweg allerdings Wahlbetrug betrieben wurde. Erwartungsgemäß erlebte der Antrag auf Wiedereinführung des Stimmzettels ein erbärmliches Scheitern im Parlament.
Bewaffnete faschistische Milizen und „Befriedung“ durch das Militär?
Seitdem eskaliert die Offensive der Rechtsradikalen in Zivil und Uniform gegen die Präsidentschaftswahlen mit der Androhung von bewaffneten Aufmärschen und Militär-Intervention. Bolsonaro rief am vergangenen 4. Mai seine Anhänger zum „Krieg“ auf. Es müsse die „Freiheit“ verteidigt werden, Brasilien dürfe nicht, „wie Argentinien, Venezuela und Chile, einen linken Präsidenten wählen“. „Notfalls werden wir in den Krieg ziehen, aber ich möchte das Volk auf meiner Seite haben, wissend, was es tut und warum es kämpft“, denn es sei „nicht nur Sache der Streitkräfte, das Land zu verteidigen“. Mit diesen Worten feuerte der ehemalige Fallschirmjäger den verbleibenden harten Kern seiner Anhänger zum bewaffneten Aufstand an. In den Ohren eines jeden Demokraten ist das ein sprachlos machender Bruch der Verfassung, eine klare Bedrohung des Rechtsstaates, ein klarer Grund zur unmittelbaren Amtsenthebung und Festnahme. Doch nicht im Brasilien Bolsonaros, wo der Rechtsstaat an den letzten dünnen Fäden hängt.
Der Kriegsaufruf des Präsidenten wurde im Handumdrehen von seiner „Basis“ (Großgrundbesitzer, Teile der Polizei, der Streitkräfte, der evangelikalen Kirchen, der kriminellen Holzhändler und Goldsucher in Amazonien) beantwortet. „Wir werden reagieren, ja, und wir werden das Land verändern. Das ist der Punkt“, sicherte Marcos Pollon in einer Rede auf dem „1. Kongress der Konservativen“ im zentralbrasilianischen Goiás die Unterstützung der von ihm geleiteten Pro-Armas („Pro-Waffen“)-Bewegung zu. Eigenen Angaben zufolge rangiert diese brasilianische Organisation nach der US-amerikanischen National Rifle-Association bereits als zweitgrößte zivile Selbstbewaffnungs-Bewegung der Welt. Kein Wunder: Seit Bolsonaros Amtsübernahme im Januar 2019 wurden in Brasilien mehr als eine Million neuer privater Waffen polizeilich registriert.
Medien und ein Teil der Öffentlichkeit haben jedoch längst Bolsonaros Macht- und Falschspiele erkannt, also sein Krakeelen und seine Drohungen nicht immer ernst zu nehmen. Ein bewaffneter Aufstand der Rechtsradikalen gegen Lulas Wahlsieg scheint einzelnen kritischen Beobachtern als ein kaum anzunehmendes Szenario, sondern eher als Provokation Bolsonaros. Nach dreieinhalbjähriger Amtszeit lässt sich andererseits nachweisen, dass Bolsonaros groteske Zwei-Gesichter-Rollenmischung – mal Hofnarr, mal Henker – von militärischer Marionetten-Regie inszeniert wird. So das jetzige „Skript“ der Bolsonaro-Berater: die Androhung bewaffneter Aufmärsche derart zu radikalisieren, dass das Militär sich „zur Wiederherstellung der Ordnung“ (Paragraph 142 der Verfassung) „gezwungen sieht“. Und nicht nur die Aufmärsche verhindert, sondern auch das Wahlergebnis annulliert.
Die seit der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff de facto regierende rechtsradikale Fraktion der Streitkräfte sparte seit 2017 nicht mit Aversionen gegen Lula. Am 3. April 2018, dem Vorabend der Habeas-Corpus-Verhandlung zur Freilassung des damals illegal inhaftierten Ex-Präsidenten, drohte der Heereskommandant General Eduardo Villas Boas, den Obersten Bundesgerichtshof zu erstürmen und aufzulösen.
Spionage-Technologie aus Israel gegen Wahlgericht und Lula
Die mit mehreren Generälen in Ministerämtern und 6.000 Offizieren das Bolsonaro-Regime kontrollierende rechtsradikale Fraktion der Streitkräfte schloss sich jedenfalls dem Verschwörungs-Narrativ Bolsonaros an und droht dem Wahlgericht mit einer eigenen, „parallelen Wahlüberwachung und -auswertung“. Dafür jettete General Heber Garcia Portela nach Israel und erwarb die Spionage-Ausrüstung des israelischen Startups CySource, das die Militärs in Brasilia bereits zu elektronischen Spionen und Hackern ausbildet. Das geschah im März.
Am vergangenen 22. Mai legten rechtsradikale Militärs unter Führung des Generals a.D. Luis Eduardo Rocha Paiva noch eins drauf und veröffentlichten das 93-seitige Manifest Projeto de Nação – Brasil em 2035 („Projekt einer Nation – Brasilien im Jahr 2035“), ein autoritäres Gemisch aus US Deep State und russischem Aleksandr Dugin, dem neuen „intellektuellen Helden“ der ultrarechten Kreise im brasilianischen Militär.
Das Pamphlet macht ein für alle Mal deutlich, dass es den Militärs um mehr als Bolsonaro geht, dem bisher die Rolle des „Terminators“ des fragilen Sozial- und Rechtsstaats zugedacht war. Der von allen drei Waffengattungen unterzeichnete „Vorschlag“ der Militärs bestärkt das während der Wahl von 2018 von einem „deep throat“ (General Eduardo Villas Boas) den Medien zugeflüsterte Geheimprojekt von einer „Neuen Demokratie“ im Bündnis mit fundamentalistischen Evangelikalen. Mit der brutalen Verschärfung neoliberaler Normen und ausgeschmückt mit den Werten „der traditionellen Familie“ – gegen alles, was progressiv, vielfältig und demokratisch ist. Vom Revanchismus über Fake-News-Angriff zum Polizeistaat, genannt „neue Demokratie“, wie ich bereits im November 2018 Villas Boas‘ Ideologie zusammenfasste.
Titelbild: BW Press / Shutterstock