Keine andere Virenerkrankung hat die Welt in den letzten Jahren derart verändert wie Covid-19. Woher das Sars-Cov2-Virus stammt, ist jedoch immer noch unbekannt. Mehr noch – in den letzten Monaten mehren sich in der Wissenschaft die Stimmen, die sich damit abgefunden haben, dass wir den genauen Ursprung des Virus wohl nie herausfinden werden. Diese Ignoranz ist für den Molekularbiologen Günter Theißen ein großes Ärgernis. In seinem heute erschienenen Buch „Das Virus – auf der Suche nach dem Ursprung von Covid-19“ macht er diesem Ärger Luft und geht dabei auch mit der Wissenschaft selbst hart ins Gericht. Das ist auch bitter nötig, denn gerade bei der Frage nach dem Ursprung des Virus haben sich Wissenschaft, Medien und Politik nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Jens Berger hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen.
19. Februar 2020 – noch ist nicht bekannt, dass vier Tage zuvor im niederrheinischen Gangelt das erste „Superspreading-Ereignis“ auf deutschem Boden stattgefunden hat und das „neuartige Coronavirus“ ist noch nicht das beherrschende Thema in Politik und Medien. Dennoch druckt die angesehene Fachzeitschrift „The Lancet“ bereits zu diesem Zeitpunkt eine Art offenen Brief von 27 Forschern, darunter der deutsche Corona-Doyen Christian Drosten, ab, in dem sich die Unterzeichner nicht nur klipp und klar darauf festlegen, dass das Sars-Cov2-Virus das Ergebnis einer natürlichen „Zoonose“ ist – also von einem tierischen Wirt oder Zwischenwirt auf den Menschen übergesprungen ist – sondern auch gleich jeglichen Zweifel an dieser Theorie wortwörtlich als „Verschwörungstheorie“ brandmarken (Seite 46).
»Wir stehen zusammen, um Verschwörungstheorien, die besagen, dass COVID-19 keinen natürlichen Ursprung hat, auf das Schärfste zu verurteilen. (…) Verschwörungstheorien schaffen nichts anderes als Angst, Gerüchte und Vorurteile, die unsere weltweite Zusammenarbeit im Kampf gegen dieses Virus gefährden.«
Ich bin geschockt. Wie kommen die Autoren dazu, bestimmte Hypothesen zum Ursprung des Virus von vornherein als »Verschwörungstheorien« abzukanzeln? Wie kommen sie dazu, damit auch Kollegen wie mich einfach pauschal in eine wissenschaftsfeindliche Ecke zu stellen? Sie bleiben zwar vage, worauf genau sie sich beziehen. Deutlich wird jedoch, dass die Verfasser des Briefs alle Gedankenspiele ablehnen, die das Auftauchen von SARS-CoV-2 nicht als natürliche Zoonose einstufen.
Dieses Vorgehen – auf Neudeutsch würde man es wohl „Framing“ nennen – ist es, was dem Buch von Günter Theißen einen besonderen Biss gibt, der über die genetischen, virologischen und molekularbiologischen Fragen hinausgeht.
Was von den Unterzeichnern des Lancet-Briefs unterschlagen wird, ist, dass es keinesfalls ausgemacht ist, dass Sars-Cov2 durch eine natürliche Zoonose entstanden ist. Für die alternative Hypothese, nach der das Virus durch einen Laborunfall ins Freie kam, gibt es mindestens genauso viele Indizien, die im Buch ergebnisoffen debattiert werden. Und die „Labor-Hypothese“ ist alles andere als absurd.
Eine der vielen von Theißen sezierten ungeklärten Fragen ist beispielsweise die der Entfernung des Fischmarktes von Wuhan zu den potenziellen Orten, an denen das Virus in seiner „Urform“ zu finden war. Bei der Zoonose-Hypothese sind dies die Fledermaushöhlen in der rund 1.000 Kilometer entfernten südchinesischen Provinz Yunnan. Bei der Labor-Hypothese käme indes das Chinese Center for Disease Control and Prevention in Frage, das gerade mal 300 Meter und fünf Minuten Fußweg vom Markt entfernt ist. Dort wird an eben jenen Corona-Viren geforscht, die unter anderem von Fledermäusen in der Provinz Yunnan entnommen wurden. Sicher – auch dies ist nur ein Indiz und kein Beweis. Dennoch ist es schon sehr erstaunlich, wenn einige Wissenschaftler, die durchaus Interessenkonflikte haben, von vornherein eine Hypothese mit schwachen Indizien als unumstrittene „Wahrheit“ propagieren und eine andere Hypothese, die keinesfalls schwächer ist, als „Verschwörungstheorie“ aus dem wissenschaftlichen und medial-politischen Diskurs verbannen.
All dies erzählt Theißen, ohne sich selbst auf die eine oder andere Hypothese festzulegen. So geht Wissenschaft! Stellenweise erinnert das Buch dabei sogar an einen Krimi, bei dem der Kommissar ein Naturwissenschaftler ist und im Laufe seiner Ermittlungen immer mehr Steine in den Weg gelegt bekommt.
So hat das Buch drei Ebenen:
- Die rein fachliche Ebene, die für Fachfremde natürlich eine gewisse Einstiegshürde darstellt, die Theißen jedoch zur Freude des Lesers erstaunlich niedrig setzt. Zwar weiß man als Nicht-Biologe beispielsweise nach Ende der Lektüre immer noch nicht, was eine Furin-Schnittstelle oder ein CGG-Codon sind; man bekommt aber zumindest eine Ahnung, warum die wissenschaftliche Debatte über den Ursprung des Virus doch nicht so profan ist und Zweifel an der allgegenwärtigen Erklärung einer natürlichen Zoonose weit mehr als eine „Verschwörungstheorie“ sind.
- Die chronologisch erzählte persönliche Ebene des Autors, die das Buch wie ein roter Faden durchzieht. Theißen nimmt den Leser mit auf seine Reise durch die letzten zweieinhalb Jahre und erzählt seine persönliche „Corona-Geschichte“. Das ist spannend und kurzweilig, zumal es ja keineswegs selbstverständlich ist, dass ein deutscher Molekularbiologe und Genetiker mit einem Lehrstuhl in Jena sich aufmacht, die Ehre der Wissenschaft gegen die vermeintlichen „Koryphäen“ auf dem Gebiet der Corona-Forschung zu verteidigen.
- Gerade für Leser der NachDenkSeiten dürfte jedoch die dritte Ebene besonders spannend sein. Und die beschreibt Theißens unfreiwilligen Kampf gegen Denk- und Sprechverbote. Dies ist die Geschichte eines anfangs allein auf weiter Flur stehenden Zweiflers, der in der organisierten wissenschaftlichen Community auf kaum nachzuvollziehende Widerstände stößt, dann jedoch auf „Gleichgesinnte“ stößt, mit denen er sich zu einem Kampf David gegen Goliath zusammenschließt. Es ist die Geschichte, die wir auch aus anderen Bereichen kennen – wer sich gegen ein herrschendes Narrativ stellt, verlässt den eng gesteckten „diskursiven Raum“ und wird medial und politisch ausgegrenzt.
Damit schließt das Buch an andere gelenkte Debatten an. Seien es die bis heute wissenschaftlich nicht evaluierten Coronamaßnahmen, deren Kritiker auch mit dem abstrusen Vorwurf, „Verschwörungstheorien“ zu verbreiten oder zu befeuern, mundtot gemacht werden sollen, oder die außen- und sicherheitspolitischen Debatten rund um den Ukraine-Krieg.
Die Labor-Hypothese hat es zumindest geschafft, heute kein Tabu mehr zu sein. Dies ist vor allem der mutigen Arbeit zahlreicher „kleiner“ Wissenschaftler wie Theißen und seinen internationalen Kollegen im „Team David“ zu verdanken. Zu einem echten Heldenmärchen taugt die Geschichte jedoch nicht. Erst als der Widerstand innerhalb der wissenschaftlichen Community nicht mehr auszublenden war, äußerten sich auch die ersten Wissenschaftler der großen „Universitäten“ in den USA kritisch zur Festlegung auf die Zoonose-Hypothese. Und siehe da – nun fand sich urplötzlich auch in den einschlägigen Fachzeitschriften und den Publikumsmedien Platz für – wenn auch verhaltene – Kritik. Inhaltliche Fragen spielten da keine Rolle – denn an der Indizienlage hat sich seitdem nichts Nennenswertes geändert. Es kommt also nicht darauf an, was gesagt wird, sondern, von wem es gesagt wird. Aber das ist ja nicht nur im Fallbeispiel „Ursprung von Covid-19“ so. Und auch wenn das „Team David“ nun eine gewisse Genugtuung hat. Mit Kritik an den Vertretern vom „Team Goliath“, wie Christian Drosten, halten sich vor allem die Medien immer noch vornehm zurück. Das ist nicht sonderlich verwunderlich, da sie ansonsten ja ihre eigene Rolle kritisch hinterfragen müssten. Das Buch von Günter Theißen wäre dazu ein sehr guter Anhaltspunkt.
Günter Theißen: Das Virus – Auf der Suche nach dem Ursprung von Covid-19, Westend Verlag 2022, 176 Seiten, 20,00 Euro.
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