Manchmal kommt das Hochideologische betont unideologisch daher. Die Vorstellung des Westens, die gesamte Welt müsse unsere Vorstellungen von Freiheit, Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten teilen, gehört dazu. Wer diese Vorstellungen – die auch im Westen eher Inhalte von Sonntagsreden als Realität sind – nicht teilt, läuft Gefahr, als Autokratie oder gar Diktatur gebrandmarkt und bekämpft zu werden. Das ist grob zusammengefasst der Ansatz einer wertebasierten Außenpolitik – ein Kampagnenbegriff, der mit dem eigentlichen Wortsinn wenig zu tun hat. Von Jens Berger.
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Ich gebe zu, dass ich weder ein wirklich intimer Kenner Russlands oder Chinas bin. Ich habe jedoch in beiden Ländern Freunde – teils gute Freunde aus alten Zeiten, die dort als Expats leben, teils Einheimische, die ich vor allem über das Netz kennengelernt habe. Mit ihnen unterhalte mich oft über die Zustände in ihren Ländern. Ja, es gibt durchaus Kritik im Detail. Aber niemand von meinen Gesprächspartnern käme jemals auf die Idee, die Gesellschaft, das Land oder dessen Politik generell zu kritisieren. Alle sagen klipp und klar, dass die politischen „Systeme“ dieser Länder in der breiten Bevölkerung sehr beliebt sind und es nicht einmal im Ansatz einen kollektiven Wunsch gäbe, schon morgen oder übermorgen gesellschaftliche oder politische Reformen umzusetzen, um so zu werden, wie es den Ideologen des Westens gefallen würde. Würde man es mit dem Ideal der Souveränität und Selbstbestimmung anderer Völker – beides sind übrigens die Grundlagen des Völkerrechts – also ernst nehmen, müsste man dies als den freien Willen der Menschen akzeptieren.
Von einer Akzeptanz ist unsere wertebasierte Außenpolitik jedoch weit entfernt. Wie weit, das kann man beispielsweise an einem Zitat aus einem SPIEGEL-Interview mit dem Grünen-Politiker Toni Hofreiter herauslesen. Darin beschreibt er Russland und China ohne Wenn und Aber als „Diktaturen“. Seine Forderung: „Deutschland müsse [daher] sein Wirtschaftsmodell hinterfragen“, das laut Hofreiter darin bestehe, dass man „in der einen Diktatur, in Russland, billige Rohstoffe einkauft, dann hier Produkte herstellt, die man der anderen Diktatur, China, verkauft“. Das ist natürlich inhaltlich falsch, da Deutschland bekanntlich ein hohes Außenhandelsdefizit gegenüber China aufweist, aber um ökonomische Fragen soll es hier an dieser Stelle ausnahmsweise mal nicht gehen. Wie kommt der Grünen-Politiker auf die Idee, Länder wie Russland und China pauschal als „Diktaturen“ abzuqualifizieren?
Sicher, Russland ist keine „lupenreine Demokratie“ wie es Gerhard Schröder mal formulierte. Das Land hat aber ein Mehrparteiensystem, freie Wahlen, Gewaltentrennung und andere Elemente, die im Sinne der Politikwissenschaft ganz sicher nicht zum Charakter einer „Diktatur“ gehören. Das chinesische System ist anders. Es ist ein Einparteiensystem, bei dem jedoch auf allen möglichen Ebenen, vom Nachbarschaftskomitee bis hin zum Parlament, ebenfalls ein System der Entscheidungsfindung auf Mehrheitsbasis stattfindet und das ebenfalls seine Checks and Balances hat. Von einer Diktatur, also einem System, bei dem ein absolutistisch herrschender Diktator die vollständige Handlungsfreiheit genießt, ist das chinesische System jedenfalls Lichtjahre entfernt. Das wissen auch die Chinesen, die im Übrigen sehr zufrieden mit ihrem System sind. Aber wen interessieren schon die Chinesen?
Warum sollten deutsche Bürger und deutsche Unternehmen nicht mit Russland oder China Geschäfte machen? Weil diese Länder ein anderes politisches System und – im Falle Russlands weniger, im Falle Chinas mehr – eine andere Kultur haben? Was ist das für ein Verständnis? Was soll daran wertebasiert sein und um welche Werte handelt es sich hierbei?
Um die Idiotie dieses Ansatzes zu verdeutlichen, könnte man dieses „wertebasierte“ Handeln ja mal auf den kleineren, persönlichen Rahmen übertragen. Darf ich für ein Unternehmen arbeiten, dessen Besitzer eine andere gesellschaftspolitische Vorstellung hat als ich? Darf ich das sauer bei diesem „Diktator“ verdiente Geld dann beispielsweise in einem Döner-Imbiss ausgeben, dessen Besitzer ein Muslim ist, dessen Frau und Tochter ein Kopftuch tragen? Darf ich nur noch mit Menschen befreundet sein, die bei Themen wie Migration, Emanzipation, LBGTQ-Rechte oder eben wertebasierte Außenpolitik auf Linie der Grünen sind? Das ist doch seltsam. Auf der einen Seite wird das multikulturelle Leben und das Akzeptieren anderer kultureller Eigenarten im Kleinen gefordert, während man andere kulturelle Eigenarten im Großen so sehr verdammt, dass man andere Völker am liebsten solange „bestrafen“ würde, bis sie von sich aus unsere Vorstellungen und Werte übernehmen.
Was die Menschen in diesen Ländern denken, ist dieser wertebasierten Außenpolitik offenbar egal. Es zählt nur, was wir denken und wollen – eine gefährliche Mischung aus Hybris, Ignoranz und Egozentrismus. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Das hatten wir doch schon mal und es ist nicht so gut ausgegangen.
Als sei das nicht schon alles schlimm genug, sind diese Werte, von denen dann immer gesprochen wird, ja ohnehin eine Farce. Wie ist es denn mit der Demokratie bei uns bestellt? Und so „frei“, wie wir uns immer gerne darstellen, sind wir auch nicht. Zur Freiheit gehört nun einmal auch ökonomische Sicherheit und die haben in diesem unseren Lande nun einmal nur wenige und es werden immer weniger. Und wer die „falsche Meinung“ hat, läuft schnell Gefahr, seine ökonomische Sicherheit auf einen ernsten Prüfstand gestellt zu bekommen. „Wir“ sollten also lieber mal runter vom hohen Ross und die reichlich vorhandenen Defizite in unserem System angehen, bevor wir mit dem Finger auf Andere zeigen und uns moralisch erheben.
Aber auch das ist ja noch lange nicht alles. Wie wertebasiert ist eigentlich unsere wertebasierte Außenpolitik? Herr Hofreiter will nicht mehr mit den “Diktaturen” in Russland und China wirtschaftlich zusammenarbeiten, aber sein Parteifreund Habeck macht nahezu zeitgleich den Bückling vor den absolutistischen Monarchen von Katar – einem Land, das der klassischen Definition einer Diktatur schon sehr nahekommt; wesentlich näher als Russland oder China. Mir ist auch nicht bekannt, dass ein namhafter Politiker oder Journalist die Wirtschaftsbeziehungen zu den USA wegen deren Angriffskriegen, Guantanamo oder den zweifelsohne vorhandenen demokratischen Defiziten infrage gestellt hätte.
Wie wertebasiert kann überhaupt ein Wirtschaftssystem sein, das im Kern immer noch darauf aufbaut, ärmere Länder auszubeuten? Sind die Kakaobohne aus der Elfenbeinküste, der Sneaker aus Kambodscha oder die seltenen Erden aus dem Kongo im Sinne der „Werte“ denn besser als Erdöl aus Russland? Mir ist zumindest nicht bekannt, dass in Westsibirien Kinder, Sklaven und Niedriglöhner Öl und Gas fördern. Aber so ist das halt mit den Werten. Sie sind so wunderschön dehnbar.
Wie soll ein Wirtschaftssystem aussehen, in dem man seine Güter nur noch an lupenreine Demokratien verkauft, die mindestens genauso wertebasiert sind wie wir? Wie viele Autos, Maschinen oder Pharmazeutika brauchen die Isländer und die Finnen? Erst wenn der letzte Automobilzulieferer schließt, das letzte Stahlwerk seine Schlote einreißt und der letzte Chemiekonzern seine Produktion ins Ausland verlagert, werdet ihr merken, dass Gleichstellungsbeauftragte, Yogalehrer und taz-Kolumnistinnen alleine nicht ausreichen, um den Wohlstand zu erhalten. Verzeihen Sie mir bitte diese Polemik, aber das musste mal raus.
Mit Werten hat diese Außenpolitik nichts zu tun. Sie ist ganz profan ein Kampagnenwort für eine Außenpolitik im Dienste westlicher geostrategischer Interessen. Wir wollen andere Länder nicht mit Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung beglücken, sondern sie unseren Märkten öffnen. It’s capitalism, stupid. Russland und China stehen ja nicht deshalb im Fokus, weil sie so fürchterliche Diktaturen sind, sondern weil sie sich sehr erfolgreich gegen die imperialen Ambitionen der USA stellen. Würden Exxon und Chevron die russischen Öl- und Gasförderstätten ausbeuten, die Gewinne daraus nicht in die russische Staatskasse fließen, sondern an die Aktionäre ausgeschüttet werden und an der Wolga US-Militärbasen stehen, hätten „wir“ sicher auch kein Problem mit Russland – egal wie demokratisch oder autokratisch es regiert wird. Und wenn nicht mehr in Peking, sondern an der Wall Street entschieden wird, wie Chinas Großkonzerne agieren, könnte die Volksrepublik in Xinjiang sicher auch tun, was sie will. „Wir“ hatten keine Probleme mit Abu Ghraib und Guantánamo, warum sollten wir dann Probleme mit Xinjiang haben?
Zu Willy Brandts Zeiten hieß die außenpolitische Devise, „Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein“. Ein Nachbar, der stetig darauf drängt, dass man so wird wie er und seine Wertevorstellungen übernimmt, ist kein guter Nachbar. Schon gar nicht, wenn er sich selbst nicht an diese „Werte“ hält und eigentlich etwas ganz anderes im Schilde führt. Ich würde lieber Willy Brandt als Toni Hofreiter zum Nachbarn haben und den Russen und Chinesen wird es ähnlich gehen.
Titelbild: © Government Communications Office, Qatar