Mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz wurde Selbstausbeutung zur Hauptbeschäftigung an der deutschen Alma Mater. Kurzzeitverträge und Kettenbefristungen treffen seither die übergroße Mehrheit des akademischen Mittelbaus. Trotz einer Novellierung vor sechs Jahren änderte sich an den Zuständen nichts. Der Abschlussbericht einer durch die Bundesregierung beauftragten Evaluation ist Zeugnis des Stillstands, der Untätigkeit und Gleichgültigkeit. Nun soll es im nächsten Anlauf besser werden, verspricht die Bundesbildungsministerin. Wer’s glaubt. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Einmal erlassene Gesetze nach einer gewissen Zeit auf ihre Realitätstauglichkeit zu prüfen und gegebenenfalls nachzubessern, macht Sinn. Sinnlos ist es, wenn die gewonnenen Erkenntnisse folgenlos verpuffen und das neue Regelwerk so schlecht gerät wie das alte. Beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) verhält es sich genau so: 2007 in Kraft gesetzt, hat es die Politik mittlerweile einmal generalüberholt und zweimal zur Inspektion geschickt und das alles doch immer nur mit dem einen Ergebnis: Das Ding ist und bleibt ein Totalschaden.
Natürlich ist das eine Frage der Perspektive. Aus Sicht der deutschen Hochschulrektoren läuft die Karre nämlich wie geschmiert. Mit Hilfe des im WissZeitVG verankerten Sonderbefristungsrechts für die Wissenschaft sind hiesige Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu Personalverwertungsanstalten mutiert, die Henry Ford hätten frohlocken lassen. Nirgendwo in der Industrie, nicht einmal in Ansätzen, herrscht ein derart rabiates und flächendeckendes System der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft wie an der altehrwürdigen Alma Mater.
Ein Heer von „Edelpraktikanten“
Für die Betroffenen bedeutet dies: ständige berufliche Unsicherheit, lückenhafte Erwerbsbiographien, Zukunftsängste, fehlende Lebens- und Familienplanung, Unterbezahlung und unentgeltliche Mehrarbeit. Das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss), ein Zusammenschluss von Mittelbauinitiativen und Einzelpersonen aus dem akademischen Mittelbau, nennt die Zustände einen „gesellschaftlichen Skandal, der nicht dadurch gemildert wird, dass sich befristete Arbeitsverhältnisse – wenngleich in deutlich geringerem Ausmaß – auch außerhalb des Hochschulbetriebs ausbreiten“. Zur Einordnung: In der Privatwirtschaft waren 2020 lediglich knapp über sieben Prozent befristet beschäftigt, im gesamten öffentlichen Dienst 9,5 Prozent.
Das Dasein der Nachwuchswissenschaftler beschreibt die Initiative als das von „Edelpraktikanten“, die „regelhaft nur befristet“ eingestellt und „bei erheblichem Leistungs- und Konformitätsdruck in existenzieller Abhängigkeit“ von den jeweiligen Lehrstuhlinhabern gehalten werden. Dadurch werde sowohl die berufliche Laufbahn „unberechenbar als auch die freie Ausübung wissenschaftlicher Arbeit gefährdet“. Das Fazit: „Die erstaunlich langlebige Tradition der Ordinarienuniversität wirkt hier fatal mit dem marktförmigen Umbau des Hochschulsystems zusammen.“
Die neueste Bestandsaufnahme des Erreichten präsentierte am vergangenen Freitag Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) der Öffentlichkeit. Das war indes nur die offizielle Sprachregelung. Treffender wäre es zu sagen, sie hielt mit den Neuigkeiten hinterm Berg. Auf der Webseite des Bildungs- und Forschungsministeriums (BMBF) muss man nach dem Abschlussbericht zur „Evaluation des novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetzes“ lange suchen und im Pressebereich findet sich lediglich ein 80-Sekunden-Statement mit nichtssagenden Phrasen der Ressortchefin mit dem netten Titel „Gute Wissenschaft braucht faire Arbeitsbedingungen“.
Befristungseifer ungebrochen
In der Evaluation liest sich das so: 2020 hatten von den hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeitern, die kein Professorenamt bekleideten, 81 Prozent eine befristete Anstellung. Zum Vergleich: Anfang der 2000er-Jahre lag die Quote bei 75 Prozent, 2010 bei ebenfalls 81 Prozent, Mitte der Zehnerjahre stieg sie auf 83 Prozent, um schließlich wieder auf dem Niveau von vor zwölf Jahren zu landen. Den faktischen Stillstand bezeichnen die Verfasser als „moderaten rückläufigen Trend“ – mehr Augenwischerei geht kaum. Zumal der Anteil der Beschäftigung auf Zeit in den Universitäten zuletzt sogar bei 84 Prozent lag, während es in den Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) „nur“ 78 Prozent waren.
Auch bei den Laufzeiten blieb praktisch alles wie gehabt: Nimmt man die Verträge der Promovierten an Universitäten, so verlängerten sich diese ausgehend von 16,9 Monaten im Jahr 2015 auf zwischenzeitlich 21,7 Monate, um dann wieder auf 17,6 Monate abzurutschen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Kontrakten mit Promovierenden. Auf ein kurzes Zwischenhoch folgte zuletzt ein deutlicher Rückfall auf einen verglichen mit 2015 zwar leicht verbesserten, aber gleichwohl ernüchternden Stand von unter 18 Monaten. Wobei hier die HAW mit 15 Monaten Laufzeit sogar hinter die Universitäten mit eineinhalb Jahren zurückfallen. 42 Prozent der Verträge an den Unis liefen nicht einmal ein Jahr, an den HAW betraf dies gar 45 Prozent.
„Die wesentlichen Ziele der WissZeitVG-Novelle wurden verfehlt. Die Novelle dämmt weder unsachgemäße Befristung noch Kurzzeitbefristungen ein, kommentierte Andreas Keller die Befunde. Nach Auffassung des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gibt es für die Ampelkoalition „keine Ausrede mehr, die überfällige Reform des Gesetzes anzupacken“. Das allerdings heiße, endlich mit „Hire and Fire in der Wissenschaft“ Schluss zu machen und das Gesetz zu einem „Wissenschaftsentfristungsgesetz“ weiterzuentwickeln, bekräftigte der Gewerkschafter.
Flexibel, dynamisch, ausbeuterisch
Zu fragen ist allerdings, ob es wirklich Ziel der 2016er Novelle war, die Dinge zum Besseren zu wenden. Die Zahlen jedenfalls geben das nicht her, so wenig wie die Vorgeschichte der Gesetzesänderung. Schon einmal hatte die Bundesregierung, damals die von Union und FDP, 2011 die Auswirkungen des vier Jahre davor verabschiedeten Ursprungsgesetzes untersuchen lassen, nicht aus freien Stücken, sondern auf Druck der Zivilgesellschaft. Die Resultate fielen damals so mau aus wie die aktuellen, weshalb sich die spätere große Koalition 2016 genötigt sah, das Gesetz zu überarbeiten. Die Befristungen, hieß es, hätten „ein Maß erreicht (…), das weder gewollt war, noch vertretbar erscheint“. Also versprach man, „Fehlentwicklungen“ entgegenzutreten, jedoch, „ohne die in der Wissenschaft erforderliche Flexibilität und Dynamik zu beeinträchtigen“.
Das freilich beschreibt die Quadratur des Kreises. Im Zuge der neoliberalen Wende ließen Bund und Länder die Hochschulen in Jahrzehnten systematisch ausbluten. In dem Maße, wie die öffentlichen Grundmittel immer weiter reduziert wurden, hat der Zugriff von Unternehmen und privaten Stiftungen durch exzessiven Drittmitteleinsatz massiv zugenommen. Sozial-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften wurden marginalisiert, Technik- und Wirtschaftsfächer gepusht. Forciert noch durch milliardenschwere staatliche Programme zur Schöpfung „akademischer Leuchttürme“ (Exzellenzinitiative, Exzellenzstrategie) agieren die Unis heute in weiten Teilen nur mehr als verlängerte, öffentlich alimentierte Forschungsabteilungen der Industrie, die nach betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Analyse operieren (Unternehmerische Hochschule). Entsprechend tauchen Beschäftigte in den Haushaltsplänen der Hochschulkanzler nicht als Menschen, sondern als Kostenfaktoren auf, die es zu zügeln gilt.
Diese Bedingungen sind mit einer gedeihlichen und menschengerechten Personalpolitik schlicht unvereinbar und wollte die Politik tatsächlich etwas an den Verhältnissen ändern, müsste sie die Hochschuletats in gewaltiger Größenordnung aufmöbeln und den Einfluss der Industrie zurückdrängen. Das allerdings passiert nicht, weshalb die Hauptschuldigen für die Misere bei der Politik selbst mit ihrer Agenda der Privatisierung und Entstaatlichung zu finden sind.
Anschlusszusage für niemand
Die Hochschulen selbst haben sich in dieser Sphäre längst gut eingerichtet und geißeln jeden Versuch, allzu krasse Verwerfungen gesetzgeberisch einzuhegen, als Übergriffigkeit. In einer aktuellen Stellungnahme der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) wird nicht nur kontrafaktisch behauptet, die Befristungspraxis habe sich „im Sinne größerer Transparenz von Karrierewegen für Beschäftigte und Wissenschaftseinrichtungen“ verändert. Erhellender ist die anschließende Bemerkung: „Zugleich werden die Grenzen des gesetzlich Regelbaren deutlich.“ Das ist ein Fingerzeig an die Bundesregierung, die angekündigte Novellierung nicht mit übertriebenem Ehrgeiz anzugehen. Denn am Ende regeln die Hochschulen die Dinge doch immer in ihrem Sinne. Und je höher ein eventuell neues Gesetz die Ansprüche schraubt, um so größer ist die Fallhöhe, wenn sich am Ende wieder nichts tut. Diese Peinlichkeit dürfte sich bestimmt auch Stark-Watzinger ersparen wollen.
Um zu ersehen, wie sehr Regierende inzwischen nach der Pfeife der Hochschulen tanzen, hilft ein Blick nach Berlin. Das „neue“, erst seit September 2021 gültige Hochschulgesetz sollte eigentlich Befristungen nach der Promotion eindämmen und den Betroffenen eine Anschlusszusage für eine dauerhafte Beschäftigungsperspektive garantieren. Seit bald neun Monaten wurde an den Hauptstadtunis aber nicht eine einzige solche Vereinbarung getroffen. Stattdessen obstruierten diese alle Vorstöße zu Neueinstellungen und Vertragsverlängerungen und nötigten den Senat zu einer „Reparaturnovelle“, die inzwischen als Gesetzentwurf vorliegt.
Diese beschränkt den Kreis derer, die auf eine „Anschlusszusage“ hoffen dürfen, auf diejenigen, die ab Oktober 2023 auf einer aus öffentlichen Haushaltsmitteln finanzierten Position ersteingestellt werden. Damit bleiben alle bisher Befristeten sowie die Beteiligten an Drittmittelprojekten außen vor. Was als „Reparatur“ daherkommt, macht in Wahrheit eine vergleichsweise fortschrittliche Regelung kaputt und begünstigt mit den Hochschulen genau die Akteure, die „kalkuliert Schaden anrichteten“, schrieb dazu die Tageszeitung „junge Welt“.
Berufserfahrung gleich Qualifizierung
Der Vorgang bietet sich auf Bundesebene zur Nachahmung an. Schon in einer vor zwei Jahren veröffentlichten Studie, hier durch die NachDenkSeiten behandelt, hatte die GEW aufgezeigt, wie das WissZeitVG durch unbestimmte Rechtsbegriffe Schlupflöcher öffnet, die Hochschulen und Forschungseinrichtungen für die Fortsetzung des Befristungsunwesens nutzten. Im Zentrum steht dabei der Begriff der „Qualifizierung“, denn für diesen Zweck – neben der Drittmittelbefristung – war ein Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft überhaupt erst gesetzlich eingeräumt worden. Laut Analyse entwickelten die Hochschulen „enorme Kreativität“ dabei, nahezu sämtliche Tätigkeiten im Wissenschaftsalltag zur Qualifizierungsmaßnahme zu deklarieren – um so einen Freibrief zum Heuern und Feuern zu haben.
Tatsächlich kommen die Hochschulen damit durch, zumal sie ohnehin keine Sanktionen fürchten müssen, wenn sie dem Wortlaut des Gesetzes zuwiderhandeln. Der Gang vors Gericht ist der einzige Weg der Leidtragenden, sich zur Wehr zu setzen. Anfang Februar hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Klage einer mehrfach befristeten Diplomingenieurin abgewiesen, nachdem noch das Landesarbeitsgericht Köln mit der Begründung zu ihren Gunsten entschieden hatte, die Qualifizierungsziele dürften sich „nicht bloß auf die selbstverständliche Gewinnung von Berufserfahrung beschränken“.
Laut BAG ist dagegen „jeglicher fachlich-inhaltlicher (Mit-)Arbeit an Forschungsprojekten ein Kompetenzzuwachs ungeachtet des bisher erreichten Kenntnisstandes immanent“, womit eine „bewerbungstaugliche Steigerung des Wissens- und Qualifizierungsniveaus“ einhergehe. „Was in anderen Arbeitsbereichen als Berufserfahrung bezeichnet wird, wird in der Wissenschaft zu ‚Qualifizierung‘ und darf befristet werden“, befand dazu GEW-Vize Keller. Damit bestätige das Gericht „die gelebte Praxis an Hochschulen und Forschungseinrichtungen: maximale Flexibilität der Arbeitgeber und maximale Unsicherheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“.
Schweizer Käse und Etikettenschwindel
„Das WissZeitVG ist löchrig wie ein Schweizer Käse und wird als Einfallstor ausufernder Befristungen in Form von Dauerschleifen von Kurzzeitverträgen für die Beschäftigten“, beanstandete am Freitag Nicole Gohlke von der Bundestagsfraktion Die Linke. Der Begriff der Qualifizierung müsse „endlich rechtssicher und eindeutig“ bestimmt werden und „wir brauchen Mindestvertragslaufzeiten, damit die Betroffenen ein Mindestmaß an Sicherheit und Planbarkeit erhalten“. Außerdem müsse die Tarifsperre fallen, „damit Gewerkschaften für bessere Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten Verhandlungen führen können“.
Ob das mal die BMBF-Chefin vernommen hat? Stark-Watzinger halluzinierte dieser Tage von „einigen Verbesserungen für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland“. Als großen Erfolg wollte sie die Novelle aber dann auch nicht verkaufen. „Es gibt nach wie vor Verbesserungsbedarf“, bemerkte sie mit Blick auf die im Koalitionsvertrag angekündigte Reform der Reform der Reform. Man werde „darauf hinwirken, dass in der Wissenschaft Dauerstellen für Daueraufgaben geschaffen werden“, heißt es darin. Damit greifen die Ampelparteien den gängigen Slogan einer GEW-Kampagne auf, die maßgeblich dazu beigetragen hat, das Thema einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Dass dies mehr als nur ein Versuch der Anbiederung ist, erscheint angesichts der vielfach gebrochenen Versprechen ziemlich unwahrscheinlich. Schließlich war schon die 2016er Reform nichts als Etikettenschwindel. Kaum beschlossen, gab es anstandshalber und temporär ein paar minimale Anzeichen der Umkehr, die sich dann rasch wieder erledigten. Die Aktivisten des NGAWiss gehen deshalb gleich in die Vollen. Für sie gehört das ganze WissZeitVG abgeschafft. Bis es so weit kommt, wird noch manche Novelle (miss)glücken. Je nach Perspektive.
Titelbild: Matej Kastelic/shutterstock.com