Wir sollen auch mal für die Freiheit der Ukraine frieren? Wir haben eine moralische Verpflichtung, die Ukraine im Kampf für ihre Souveränität zu unterstützen? Wir müssen doch was tun, wenn Menschen in Kriegen sterben und vertrieben werden? Das ist Unsinn! Freiheit und Souveränität anderer Völker interessieren uns doch sonst auch nicht. Zur Ukraine gibt es täglich Talkshows mit immer den gleichen, hoch moralisch daherkommenden Forderungen. Der Bürgerkrieg im Kongo – nur um ein Beispiel unter vielen zu nennen – schaffte es trotz vier Millionen Toten nicht ein einziges Mal in ein nennenswertes Talkformat. Es ist an der Zeit, dass wir uns mal ehrlich machen und unsere gottverdammte Selbstgerechtigkeit beiseitelegen. Eine Polemik von Jens Berger.
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Frieren für die Freiheit! Geht es auch noch dümmer? Es scheint ja mittlerweile politischer Konsens zu sein, dass „wir“ keine Energieträger mehr aus Russland importieren wollen. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wann. Und gäbe es Viktor Orban nicht, würde wohl schon jetzt kein Öl mehr aus Russland gen Westen fließen. Und was wären die Folgen? Für eindimensional argumentierende Talkshow-Populisten ist die Sache ja denkbar einfach. „Wenn Putin unser Geld nicht mehr bekommt, kann er keine Kriege mehr führen“. Ok, bereits dieser Satz ist falsch, da Russland seine Soldaten nicht in Euro bezahlt. Dass dieser Satz nicht nur dumm, sondern auch selbstbezogen und für Unbeteiligte brandgefährlich ist, versteht man jedoch nur, wenn man einmal die deutsche Brille absetzt und die globalen Folgen des eigenen Handelns betrachtet.
Deutschland wird über kurz oder lang sicher seine Energieimporte diversifizieren können. Diversifizieren ist in diesem Kontext jedoch auch nur ein anderer Begriff dafür, dass wir Kontingente auf dem Weltmarkt kaufen, die ansonsten in andere Länder gehen würden. Das machen wir nicht mit Gewalt, sondern mit unserem Geld.
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Wenn sich an der weltweiten Nachfrage nicht viel ändert, das Angebot jedoch verknappt wird – und das wird es, wenn Europa kein Öl und Gas mehr aus Russland kauft – steigt ganz simpel der Preis. Dass auch hierzulande ein Preisanstieg massive soziale Folgen haben wird, wird dabei ignoriert. Geringverdiener, Rentner und Pendler hatten schließlich noch nie eine Lobby und dem gutverdienenden Hauptstadtjournalisten mit frisch energiesanierter Altbauwohnung auf dem Prenzlauer Berg und Dienstwagen ist offenbar auch nicht möglich, über den Tellerrand zu schauen. Geschenkt.
Doch es ist ja beileibe nicht nur Deutschland, das von den steigenden Energiekosten betroffen ist. Ein Energieembargo der EU würde die weltweiten Preise für Energie in noch nie gekannte Höhen treiben. Leidtragende davon sind nicht nur die im weltweiten Maßstab ökonomisch privilegierten Europäer, sondern vor allem die Länder im globalen Süden. Hat eigentlich irgendwer mal die Menschen in diesen Ländern gefragt, ob sie für die „Freiheit und Souveränität“ der Ukraine höhere Energie- und Lebensmittelpreise bezahlen wollen? Frei nach Thomas de Maizière müsste man wohl sagen: Die Antwort auf diese Frage würde Politik und Medien verunsichern.
Nun gut, in Afrika ist es zumindest warm. Da werden die Afrikaner wenigstens nicht für die Freiheit der Ukraine frieren müssen. Ob sie aber ihre mit Stromaggregaten betriebenen Brunnen noch nutzen können, ist eine andere Frage. Und ob sie sich ihre Getreideimporte noch leisten können, wenn durch unsere Sanktionen russisches Getreide nicht mehr verschifft werden kann, ist noch mal eine ganz andere Frage. Russland ist der weltweit größte Getreideexporteur, die größten Importeure sind Länder wie Ägypten, Indonesien, Bangladesch, Algerien oder Nigeria. Andrij Melnik hat Karl Lauterbach als Deutschlands Talkshow-Dauergast Nummer Eins ja abgelöst. Aber wurde jemals auch nur ein einziger Vertreter dieser Länder, die indirekt sehr massiv von „unseren“ Sanktionen betroffen sind, in eine deutsche Talkshow eingeladen? Wir handeln nicht im luftleeren Raum und unsere Entscheidungen haben schließlich auch Konsequenzen für Dritte. Ignorieren wir das? Sind wir so dumm, dass wir das nicht wissen?
Aber wen interessieren schon arme Afrikaner oder Asiaten. Es geht ja um das Recht auf Souveränität, um Demokratie und so weiter. Und da kennen wir keinen Spaß. Ok, die Souveränität der Palästinenser interessiert und nicht so sehr und die Kurden sollen sich auch nicht so haben – Israel und die Türkei gehören schließlich irgendwie zu den Guten. Und Demokratie? Ja da muss man nun auch mal differenzieren. Wir haben offenbar keine Probleme mit lupenreinen Diktaturen wie Saudi-Arabien oder Katar, aber in Russland jazzen wir jedes Demokratiedefizit zu einem Casus Belli hoch. Wie ist es eigentlich mit unserer eigenen Demokratie bestellt? Dass man weltweit lacht, wenn US-Bomber mal wieder weltweit die Demokratie herbeibomben wollen, verdrängen wir dabei gerne.
Aber woher sollen wir auch wissen, dass bei uns zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein ganzer Marianengraben klafft? Man kann ja schon froh sein, wenn irgendwer hierzulande die Huthi nicht für eine Kölsche Karnevalsband hält, sondern weiß, dass dies ein Volk ist, das auch gerne souverän wäre und diejenigen, die das nicht wollen, jetzt für Russland bei den Energielieferungen in die Bresche springen. Aber die Huthi sind auch selbst schuld. Hätten sie einen Botschafter vom Format eines Andrij Melnik als Dauergast in deutschen Talkshows, würden sie vielleicht sogar den European Song Contest gewinnen. Einige Voraussetzungen für unseren Mitleidsbonus bringen sie ja mit. Im Jemen werden immer wieder Schulen, Hochzeiten, Beerdigungen, Marktplätze, Flüchtlingsboote, Krankenhäuser und Moscheen vorsätzlich bombardiert. Doch dummerweise nicht von Russland, sondern von unseren Freunden aus Saudi-Arabien und Katar und dann auch noch mit Waffen aus Deutschland. Und damit sind sie natürlich im Rennen um unser Mitleid disqualifiziert.
Ist das zynisch? Das fragen sie doch mal einen Bewohner des Kongos. Dort sind im Bürgerkrieg übrigens fünf Millionen Menschen gestorben, ohne dass es einer ihrer Interessenvertreter je auf die bequemen Sessel bei Anne Will geschafft hätte und ohne dass es einen großkoalitionären Streit gegeben hätte, wie man das Leiden der Menschen dort beenden könnte. Aber warum sollte man auch? Der Kongo ist weit weg und hätte Gott gewollt, dass dort Frieden herrscht, hätte er doch die wertvollen Bodenschätze, die wir für unsere Smartphones und Computer brauchen, woanders verteilt. So sind wir ja quasi gezwungen, den Krieg dort am Laufen zu halten. Sonst würde sich noch der Chinese die wertvollen Rohstoffe sichern. Und das will ja nun niemand – außer vielleicht der Kongolese, aber der wird nicht gefragt.
Und so reden und reden wir. Wir reden und reden und reden und sagen doch nichts; zumindest nichts, was über unseren deutschen, eurozentristischen Horizont hinausgeht. Fünf Millionen Tote im Kongo? Drei Millionen Vertriebene im Sudan? Der Krieg im Jemen? Unterdrückte Palästinenser und Kurden? Uninteressant. Aber wehe eine russische Bombe trifft ein ukrainisches Plumpsklo. Dann kennen wir keinen Spaß und rufen nach Sanktionen. Wir debattieren, als gäbe es nur uns und unsere momentanen Befindlichkeiten. Die Auswirkungen unseres Handelns auf Dritte sind uns nicht einmal eine Fußnote wert.
Titelbild: sunnychicka/shutterstock.com