Die mentalen Verwüstungen der Russophobie
In „Die Traumdeutung“ sagt Sigmund Freud zur Phobie: „Wir erfahren so, dass das Symptom konstituiert worden ist, um den Ausbruch der Angst zu verhüten; die Phobie ist der Angst wie eine Grenzfestung vorgelegt.“ Will heißen: Eine Phobie schirmt gegen die Realität ab. Von Eckart Leiser [*]
Diese Tage in einer SMS von einem guten Freund: „Putin ist ein ähnlich gefährlicher Diktator wie Hitler… Ein einzelner kranker Mann darf nicht die Menschheitsgeschichte bestimmen. Putin muss durch Gewalt wie Hitler gestoppt werden. Das wird leider viele ukrainische Opfer dauern.“ Auslöser war dieser ihm zugeschickte Leserbrief an die NZZ: „Russland hatte Ende 2021 seine sehr konkreten Vorschläge im Rahmen des Minsker Formats zur Lösung des Donbas-Konflikts veröffentlicht. Im Westen Empörung über den diplomatischen Stilbruch. Antwort in der Sache keine, weil Selenski mauerte… Bis heute Schweigen.“ Der Freund, Psychotherapeut im Ruhestand, stellt hier fröhlich die Diagnose „kranker Mann“, ohne jeden diagnostischen Anhaltspunkt.
Am gleichen Abend eine ungewöhnlich klare Einschätzung von Dohnanyi in der Talkshow bei Maischberger zur Blockierung der Kernforderung von Putin seitens der USA, über Selenskis Angebot der Neutralität der Ukraine zu verhandeln. Dazu noch die Warnung, Putin zu dämonisieren. Maischberger, unfähig, auch nur zuzuhören und resistent gegen alle vorgebrachten Fakten, schafft es mit Müh und Not und zunehmend genervt, Dohnanyis Auslassungen als exotische Variante der Meinungsfreiheit durchgehen zu lassen.
Der obengenannte Freund zählt zur sogenannten „Altlinken“. Auch diese hat es anscheinend nie geschafft, sich von ihrer mit der Muttermilch aufgenommenen Russophobie zu befreien und die Russen zumindest als „normale menschliche Wesen“ wahrzunehmen: die Angst vor den Russen wurde lediglich überlagert durch eine Glorifizierung der Sowjetunion aus der Perspektive von Delegationsfahrten. Ein Tabu hatte diese versteckte Russophobie bisher allerdings gewahrt: Nach dem Abschlachten von 27 Millionen Sowjetbürgern sollten mit deutscher Hilfe nicht noch einmal Russen liquidiert werden. Das war ja bis vor kurzem genau die Grenze zwischen defensiven und offensiven Waffen. Mit der Lieferung „schwerer Waffen“ ist dieses Tabu nun gebrochen worden.
Um zum Vergleich (der ja kein Einzelfall ist) von Putin mit Hitler zurückzukehren, könnte man als Psychoanalytiker noch einen Schritt weitergehen. Wie die Entwicklung der letzten Jahre in Deutschland zeigt, „ist der Schoß, der das gebar“, nämlich Hitler, Naziherrschaft und Antisemitismus, durchaus noch fruchtbar. Das Profil dieser „Neugeburt“ sind nicht mehr die gestiefelten „Dumpfbacken“, sondern gepflegte Damen und Herren mit Schlips und Kragen, die immer mehr die Feuilletons, Kommentarspalten und Talkshows bevölkern. Das neue „Narrativ“ (so heißt das ja heute) ist die deutsche Kultur bis hin zum Identitären (was abgestuft funktioniert: Schutz der deutschen Kultur vor der „Umvolkung“, ukrainische Flüchtlinge dürfen umarmt werden, die von außerhalb Europas kommenden dürfen an der polnischen Grenze verrecken, und die russischen “Horden” gehören vernichtet). Was aus dem Versuch geworden ist, deutsche „Kulturwerte“ durch europäische zu entstauben, kann am Beispiel Ukraine besichtigt werden: Von der Leyen betreibt den EU-Beitritt des Landes im Schnellverfahren, während der von der britischen Zeitschrift „The Economist“ berechnete Demokratie-Index dort im Jahr 2021 gefallen ist: von 5,81 auf 5,57. Das Land bleibt aber noch in der Kategorie „hybrides System“ (eine Stufe vor der untersten Kategorie, der „Autokratie“).
Noch ist es jedoch nicht soweit, dass Hitler wieder salonfähig wäre. Aber immerhin dient er wieder zum Befeuern der Russophobie: Der in unserem Unbewussten steckende Hitler wird auf Putin projiziert, der sodann als Vertreter des russischen „Untermenschen“ gehasst und zur Liquidierung freigegeben werden darf. Mit der Ausrottung der Millionen Putins, die am 9. Mai demonstriert haben und die inzwischen mit Russland identifiziert werden, kann der Überfall auf die Sowjetunion 1941 vielleicht doch noch zu einem erfolgreichen Ende gebracht werden.
Dieser Mechanismus ist anscheinend resistent gegen jegliches Gegenmittel und gegen jede Art von historischen Fakten. Beispiel: Inzwischen gibt es eine offizielle Liste russischer Verbrechen, die von Politikern und Medien am laufenden Band heruntergebetet werden: Georgien, Syrien, Krim, Donbas und jetzt der Angriff auf die Ukraine. Man reibt sich die Augen: Georgien, was war denn da nur? Grabungen im Gedächtnis ergeben: der georgische Präsident Saakaschwili hatte am 8. August 2008 Südossetien angegriffen, das sich zu diesem Zeitpunkt nach vielen Konflikten mit Georgien einer faktischen und von Russland geschützten Autonomie erfreute. Erst nach dieser gewaltsamen Veränderung des status quo griff Russland militärisch ein und stoppte die georgische Offensive. Eine eigenartige Definition von „Angriffskrieg“ oder besser gesagt: eine plumpe Geschichtsfälschung. Die Antwort dazu aus dem persönlichen akademischen Umfeld ist aber: Solche historischen Richtigstellungen sind reine Ideologie!
Und Syrien, das nächste „Verbrechen“ Putins, was war denn da nur? Grabungen im Gedächtnis ergeben diesmal: Es ging dort um die Bekämpfung des IS, und der zu recht Aversion auslösende Assad, nichtsdestotrotz Präsident eines souveränen Staates, hatte Russland um Hilfe gebeten, im Unterschied zu der eigenmächtigen (und erfolglosen) militärischen Einmischung der USA. Wäre es nicht logisch, Aleppo zumindest gegen die Gräuel des von Russland besiegten IS abzuwägen, bevor Putin zum Kriegsverbrecher erklärt wird?
Wohlgemerkt: bei der letzten Sünde, dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, besteht Einigkeit.
Nach anfänglicher Sperre gelingt es schließlich, einen Kommentar in Spiegel online freigeschaltet zu bekommen:
„Was mich so fassungslos macht, ist die Frivolität, mit der Politiker sich für die Lieferung schwerer Waffen entscheiden, ohne auch nur das Risiko eines Atomkriegs zu erwähnen oder es gar abzuschätzen.
Was mich noch fassungsloser macht, ist das Reden über die Notwendigkeit, diesen Krieg zu gewinnen. Während des Kalten Krieges war man sich immerhin einig, dass es bei einem Atomkrieg keine Gewinner geben wird, da das Ergebnis das Auslöschen der Menschheit wäre. Und wie zum Teufel kann man glauben, dass Russland, eine Atommacht, die obendrein noch angeblich von einer Art „Satan“ geführt wird, ein „Verlieren“ dieses Krieges zulassen würde?
Was mich weniger fassungslos macht, sind die total manipulierten Medien. Zu den angeprangerten geopolitischen Interessen Russlands: Mit keinem Wort wird die bis heute gültige Monroedoktrin erwähnt, die ganz Lateinamerika zum Interessengebiet der USA erklärt und mit der eine Unzahl von militärischen Interventionen (=Angriffskriege) der USA gerechtfertigt wurden und werden (aktuell Venezuela!). Und was ist mit dem Angriffskrieg gegen Irak und den folgenden Kriegsverbrechen mit geschätzten 600.000 zivilen Opfern? (für deren Aufdeckung Julian Assange über 100 Jahre Haft drohen). Oder was war mit der „territorialen Integrität“ Jugoslawiens? Beredtes Schweigen oder historische Demenz?“
Völlig sinnloser Eifer. Reaktion: eine Vielzahl von „dislikes“ und Belehrungen: Man darf doch Missetaten nicht aufrechnen. Und was die russischen Untermenschen machen (Vergewaltigungen!) ist per se mit keinem anderen Verbrechen vergleichbar. (Darüber hatte ja übriges die Nazipropaganda schon angesichts der vorrückenden Roten Armee alles gesagt – in der DNA des russischen Soldaten stecken nun mal die Vergewaltigungen).
Die durch die Russophobie angerichteten Verwüstungen in den Köpfen der Deutschen haben inzwischen einen Grad erreicht, der jede Gegenwehr sinnlos macht. Am Ende bleibt man als „Putinversteher“, Relativierer oder unheilbarer Nostalgiker der Sowjetunion allein auf weiter Flur.
[«*] Eckart Leiser, Prof. Dr., ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin und arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Saragossa (Spanien). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die epistemologischen Grundlagen der Psychologie sowie strukturale Anthropologie und Psychoanalyse. Lehrtätigkeit in Frankfurt, Berlin, Mexiko-Stadt, Wien, Madrid, Saragossa und Buenos Aires.