Anlass für diesen Text von Sevim Dagdelen über den Strategiewechsel des Westens im Ukraine-Krieg war ein Disput zwischen der Autorin und der FDP-Politikerin Strack-Zimmermann in der Phoenix Runde.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Waffen, Waffen, immer mehr Waffen. Es scheint, als ginge es dem Westen gar nicht mehr darum, den fürchterlichen Angriffskrieg Russlands und das Sterben in der Ukraine schnellstmöglich zu beenden. Statt einen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung zu erzielen, soll Russland nun militärisch besiegt werden. Diese Strategie ist aus zwei Gründen töricht und unverantwortlich: Erstens wird die Atommacht Russland wohl kaum bereit sein, in einem Konflikt, den sie für aus ihrer Sicht existenzielle Interessen führt, bedingungslos aufzugeben. Mit jedem Tag und jeder weiteren Waffenlieferung steigt daher die Gefahr der Ausweitung des Konflikts bis hin zum Dritten Weltkrieg und der atomaren Zerstörung Europas. Zweitens ist es zynisch, die Ukraine in einen langwierigen Stellvertreterkrieg schicken und die Menschen dort für eigene geopolitische Interessen auf dem Schlachtfeld opfern zu wollen.
Dass die Chancen auf einen Waffenstillstand und eine diplomatische Einigung schon einmal wesentlich besser standen, daran scheint sich angesichts der medialen Dauermobilmachung kaum jemand mehr zu erinnern. Dabei ist ein Blick zurück durchaus aufschlussreich.
„Offenbar eine große Annäherung“
Nach den Gesprächen in Istanbul zwischen ukrainischen und russischen Vertretern Ende März haben zahlreiche Medien über steigende Chancen auf eine Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt berichtet. Laut Redaktionsnetzwerk Deutschland gab es in der türkischen Metropole „offenbar eine große Annäherung“. Unter Verweis auf die britische Financial Times meldete RND am 29. März, dass beide Seiten in einem vielversprechenden Entwurf eines Waffenstillstandsdokuments wichtige Zugeständnisse gemacht hätten: Russland habe demnach auf einen Sturz der Regierung verzichtet, während sich die Ukraine offen gezeigt habe, einen neutralen Status des Landes sowie Verhandlungen über die Zukunft der Krim zu akzeptieren.
„Kein früher Frieden“
Am 5. April berichtete die Washington Post, dass in der NATO die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: „Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.“.
Maßgebliches „Hindernis“ in Kiew
Der Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson bei Präsident Wolodimir Selenski in Kiew am 9. April war laut ukrainischen Presseberichten das maßgebliche „Hindernis“ neben den Berichten über Kriegsverbrechen in Butscha für die Fortführung von Verhandlungen mit Russland.
Deutlicher noch die britische Times am 4. April, der zufolge Boris Johnson vor seinem Kiew-Besuch die Maxime ausgab: „Keine Einigung mit Russland, solange die Ukraine nicht die Peitsche in der Hand hat“.
Laut britischem Guardian vom 28. April hat Premier Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenski „angewiesen“, „keine Zugeständnisse an Putin zu machen“.
Die NZZ meldete am 12. April, dass die britische Regierung unter Johnson auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzt. Die konservative Unterhausabgeordnete Alicia Kearns sagte: „Lieber bewaffnen wir die Ukrainer bis an die Zähne, als dass wir Putin einen Erfolg gönnen.“
„Strategische Notwendigkeit“
Die britische Außenministerin Liz Truss bekundete in einer Grundsatzrede, dass der „Sieg der Ukraine (…) für uns alle eine strategische Notwendigkeit“ sei und daher die militärische Unterstützung massiv ausgeweitet werden müsse.
Guardian-Kolumnist Simon Jenkins warnte: „Liz Truss riskiert, den Krieg in der Ukraine für ihre eigenen Ambitionen anzufachen“. Dies sei wohl der erste Tory-Wahlkampf, „der an den Grenzen Russlands ausgetragen wird“. Johnson und Truss wollten, dass Selenski „so lange weiterkämpft, bis Russland vollständig besiegt ist. Sie brauchen einen Triumph in ihrem Stellvertreterkrieg. In der Zwischenzeit kann jeder, der nicht ihrer Meinung ist, als Schwächling, Feigling oder Putin-Anhänger abgetan werden. Dass dieser Konflikt von Großbritannien für einen schäbigen bevorstehenden Führungswettstreit missbraucht wird, ist widerwärtig.“
Russland „über Jahre“ schwächen
Nach seinem Kiew-Besuch am 25. April erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, um Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs auf Dauer militärisch und wirtschaftlich zu schwächen.
Laut New York Times geht es der US-Regierung nicht mehr um einen Kampf über die Kontrolle der Ukraine, sondern um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges.
Bei dem von Austin einberufenen Treffen von Verteidigungsministern der NATO-Mitglieder und weiterer Staaten in Ramstein in Rheinland-Pfalz am 26. April gab der Pentagon-Chef den militärischen Sieg der Ukraine als strategisches Ziel vor.
Die Bundesregierung gab ihre ablehnende Position bezüglich Panzerlieferungen in die Ukraine auf, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sagte in Ramstein die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zu, angefangen mit Flugabwehrpanzern vom Typ Gepard.
Die FAZ berichtet am 27. April über den Strategiewechsel der US-Administration, der laut US-Präsident Biden darin bestehe, Russland „über Jahre“ zu schwächen.
„Sünde amerikanischer Politik“
Der frühere Bundesminister und Erste Bürgermeister von Hamburg, Klaus von Dohnanyi, machte in der ARD gerade die USA mitverantwortlich für den Krieg in der Ukraine. Es sei zum Krieg gekommen, „weil der Westen nicht bereit war, über die einzige wichtige Frage für Russland und Putin auch nur zu verhandeln“, die Frage nach der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. US-Präsident Joe Biden habe Verhandlungen darüber stets abgelehnt. Putin sei zwar „der Aggressor“, so der SPD-Politiker, die Möglichkeit den Krieg zu verhindern habe aber „im Westen“ gelegen. Es sei eine „Sünde amerikanischer Politik“, nicht verhandelt zu haben.
Eine „für alle Seiten tragfähige Lösung“ sieht Dohnanyi dennoch. Dafür müssten sich die Europäer jedoch an Washington und nicht an Moskau wenden. Die USA müssten erklären, dass der ukrainische Präsident Selenski recht habe, wenn er sagt, die Ukraine könne auch neutral sein.
„Bis zum letzten Ukrainer“
Der langjährige US-Diplomat und ehemalige stellvertretender Verteidigungsminister für internationale Sicherheitsfragen, Chas Freeman, äußerte sich schon am 22. März in einem Interview zur Kriegsstrategie des Westens, die offenbar darauf abziele, „die Kämpfe zu verlängern, anstatt ihr Ende und einen Kompromiss zu beschleunigen“. Zwar werde dieses Vorgehen zu einer großen Zahl an Todesopfern führen; dennoch fragten sich einige im Westen offenbar insgeheim: „Was ist so schrecklich an einem langen Krieg?“ Schließlich sei das Ganze – de facto ein Stellvertreterkrieg gegen Russland – für den Westen „im Wesentlichen kostenfrei“. Man könne die Strategie der US-Regierung im Ukraine-Krieg auf den Punkt bringen, „bis zum letzten Ukrainer“ zu kämpfen.
„Grundlagen für einen Frieden“
Starökonom Jeffrey Sachs warnte bereits am 1. April im Interview mit der Welt vor der US-Strategie, die auf einen jahrelangen Stellvertreterkrieg in der Ukraine mit Tausenden von Toten hinauslaufe. Auf die Frage, ob Energiesanktionen die Maßnahmen seien, die Putin zum Einlenken bewegen und den Ukraine-Krieg beenden könnten, antwortete Sachs: „Was den Ukraine-Krieg beenden könnte, sind die Angebote, die Präsident Wolodymyr Selenskyj Russland vor den Verhandlungen in Ankara (…) gemacht hat. Eine neutrale Ukraine, Autonomie für den Donbass und die Bereitschaft, den Krieg am Verhandlungstisch zu beenden; das sind Grundlagen für einen Frieden. Die Europäische Kommission, Deutschland und die anderen EU-Länder sollten sich jetzt darauf konzentrieren, eine schnelle Verhandlungslösung zu fördern. Es wird ständig über Sanktionen oder militärische Hilfen geredet, aber nicht genug darüber, wie eine Verhandlungslösung aussehen könnte.“
Im Rausch des neuen deutschen Militarismus haben sich deutsche Politiker, allen voran die von Kriegseuphorie benebelten Bellizisten Annalena Baerbock, Anton Hofreiter und Agnes-Marie Strack-Zimmermann, zunehmend den Ansatz der USA und Großbritanniens zu Eigen gemacht, auf die wahnwitzige Illusion eines Siegfriedens zu setzen und dafür die Waffenlieferungen an die Ukraine immer mehr auszuweiten.
Im Gegensatz zur ukrainischen Presse wird der Johnson-Besuch in Kiew in seiner politischen Bedeutung und weitreichenden Wirkung für das Aus der Verhandlungsgespräche zwischen Vertretern der Ukraine und Russlands in den hiesigen Medien und Politik leider vollkommen unterbewertet.
Inwieweit die Verbrechen in Butscha die Verhandlungen entscheidend beeinflusst haben, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese Kriegsverbrechen müssen dringend durch eine internationale unabhängige Untersuchung aufgeklärt werden. Es muss alles getan werden, um so schnell wie möglich durch einen Waffenstillstand und einen Verhandlungsfrieden weitere Verbrechen dieser Art zu verhindern und um zu verhindern, dass nicht weiter viele Menschen in diesem Krieg sterben.
Titelbild: petch one / shutterstock.com