Gelingt gerade ein sozialpolitischer, ein gesellschaftlicher Wandel in Frankreich?

Gelingt gerade ein sozialpolitischer, ein gesellschaftlicher Wandel in Frankreich?

Gelingt gerade ein sozialpolitischer, ein gesellschaftlicher Wandel in Frankreich?

Ein Artikel von Frank Blenz

Während in der Bundesrepublik der Neoliberalismus einen höheren Gang eingelegt hat und auch weitere Länder Europas dank des jeweiligen Führungspersonals nationalistischer, autokratischer, intoleranter und bürgerferner ausgerichtet werden, hellt sich bei unseren Nachbarn in Frankreich die gesellschaftliche Lage möglicherweise auf. Zwar hat ein ebenso stramm neoliberal handelnder Präsident Emmanuel Macron erneut die Wahl gewonnen, doch steht ihm demnächst ein breites Bündnis sozialer, sozialdemokratischer, linker Kräfte gegenüber – zur Parlamentswahl im Juni. Von Frank Blenz.

Die Präsidentschaftswahl in Frankreich ist zu Ende, schon ist die nächste wichtige Entscheidung im Kalender vorgemerkt: die Parlamentswahl. Bei der Präsidentschaftswahl im April konnte sich der das Land überaus spaltende Emmanuel Macron zum zweiten Mal durchsetzen. Bei der nun folgenden Wahl könnte einer drohenden Macron’schen „Allmacht bis ins Parlament“ in Kombination mit seinem jetzigen Amt durch ein breites Bündnis Einhalt geboten werden. Macrons Kräfte als führende Kraft im Parlament und einen möglichen Gefolgsmann Macrons als Premier im Duett zu verhindern, das treibt viele Gegner des Präsidenten an. Es tut sich etwas bei den Franzosen. Erstmals herrscht seit vielen Jahren Einigkeit bei den vielfältigen politischen Akteuren. Die Reihen schließen sich, man spürt, gemeinsam ist man stark. So wurde die NUPES (Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale) ins Leben gerufen – ein Wahlbündnis, das sich in den vergangenen Monaten formiert hat und Parteien und Gruppierungen vereint, die bisher allein agierten und somit bisher keine starke Einheit bildeten. Nun aber, siehe da, aktuelle Umfragen sehen das Bündnis NUPES deutlich vor den „Macroniten“ und weiteren Bewerbern. Die rechte Politikerin Marine Le Pen, gerade noch Zweitplatzierte im Duell um den Einzug in den Élysée-Palast, hat Medienberichten zufolge den Kampf um das Parlament und im Konkreten um den Posten des Premiers aufgegeben.

Der Frankreichexperte und Politologe Sebastian Chwala beobachtet, dass in unserem Nachbarland zunehmend berechtigte Hoffnung bei den Gegnern Macrons aufkeimt, die Chancen für den Sieg steigen, ein Ministerpräsident Jean-Luc Mélenchon – das ist keine Utopie. Mélenchon ist enorme Energie zuzugestehen und großer Respekt, trotz der knappen Niederlage im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl weiterzumachen und nun die neue Wahl anzugehen. Sieger Emmanuel Macron hatte dagegen nicht viel Zeit zum Feiern und neue Feierlaune könnte im Juni ausbleiben. Es kam zudem keine richtige Partystimmung im Land auf. Was Wunder, keimten gegen Macron sofort Proteste auf vielen Straßen des Landes auf. Bei seinen Anhängern, den Profiteuren seines nationalen Kurses und auch international wurde gejubelt. Macron wurde gefeiert als der Visionär, als der Richtige für Europa und für Frankreich sowieso. Die Legende von der stabilen Mitte findet sich in dem Aufatmen der Bürgerlichen in „Zum Glück setzten sich keine Extremisten durch, zum Glück wurde es wieder der gemäßigte smarte Emmanuel“. Dass Macron, ein Mann der „Mitte“, so extremistisch ist, wie man als Präsident für ein vielschichtiges Land nur sein kann, landauf, landab fand und findet man kaum eine Zeile in den führenden Medien. Der aussichtsreichste Gegenkandidat, der die Teilnahme an der Stichwahl verdient gehabt hätte, Mélenchon, wurde von den Hauptmedien in Frankreich und gerade auch in Deutschland trotz dessen Erfolg geradezu ignoriert.

Nun befindet sich Frankreich weiter im Protest- und Aufbruchmodus. Zahlreiche Bürger schrien ihre Enttäuschung heraus, dass man Macron nicht verhindert hat, dass lediglich die einzige Verhinderung gelang, indem die rechte Marine Le Pen nicht siegte. Kurios war bei dem Duell, der Stichwahl Macron vs. Le Pen, dass viele, die im ersten Wahlgang Macron nicht wählten, nun ihre Stimme taktischerweise dem an sich verhassten, bislang amtierenden Präsidenten gaben. Das Dilemma daraufhin scheint jetzt gerade Tempo aufzunehmen: der Sozialstaat wird weiter geschliffen, die Reichen werden bevorteilt, die Demokratie verachtet, die Polizei zu einer repressiven Eingreiftruppe umgebildet. Doch Macron das Feld überlassen, wollen viele nicht (mehr). Eine linke Regierung neben Macron würde dem Präsidenten ein Durchregieren unmöglich machen.

Sebastian Chwala sieht dazu Schwächen bei den führenden Kräften im Umfeld des Präsidenten, Uneinigkeit und eine politische Zielsetzung der Macroniten, die nachdenklich stimmen muss…:

Was machen eigentlich gerade die “Macroniten” in Frankreich? Die Antwort lautet, sie geben gerade auf einer Pressekonferenz die ersten 200 Kandidat*innen für die kommenden Parlamentswahlen bekannt.

Diese scheibchenweise Verkündung liegt an den inneren Konflikten der “Macroniten”, da sich insbesondere Ex-Premier Philippe innerhalb des Blocks eine eigene Machtbasis für die Präsidentschaftswahl 2027 schaffen möchte (Macron kann nach zwei Amtszeiten erst einmal nicht mehr kandidieren und müsste bis 2032 pausieren) und eine eigene Fraktion einfordert. Hier gibt es noch Klärungsbedarf.

Während des Pressetermins gab es noch andere Neuigkeiten: Die “Marschierer” benennen sich um. Aus der Partei LREM wird “Renaissance”. Was wiedergeboren werden soll, bleibt freilich noch offen.

Sebastian Chwala hat eine böse Vorahnung:

Wahrscheinlich die grenzenlos liberale Dienstbotengesellschaft des 19. Jahrhunderts.

Politologe Chwala beobachtet, dass die potentielle Stärke des neuen Linksbündnisses NUPES erkannt wird und die Medien zunehmend Position beziehen:

Während auch die Medien langsam begreifen, dass die Parlamentswahlen kein formaler Akt bleiben und je nach Standpunkt für oder gegen das neue Linksbündnis NUPES in Frankreich in die journalistische Schlacht gezogen wird, zeigen die Umfragewerte eine Woche nach der offiziellen Besiegelung des Pakts für NUPES, dass die Zustimmung für das Bündnis konstant hoch bleibt.

Diese Wahlen sind nicht mit jenen Parlamentswahlen zu vergleichen, die im Nachgang der Präsidentschaftswahlen der letzten 15 Jahre stattfanden. Damals gab es jedes Mal einen Amtswechsel und ein neues Staatsoberhaupt konnte die Wähler*innen bitten, mit der Wahl einer politisch gleichgerichteten „Kammer“ den Weg frei zu machen, seine Agenda zu verfolgen.

Doch dieses Jahr wurde Emmanuel Macron durch die Stimmen des linken Frankreich wiedergewählt. Seine politischen Ziele sind bekannt. Dies gilt ebenfalls für die seiner Mannschaft. Die Wahlen Mitte Juni werden nun von vielen Menschen als Chance wahrgenommen, die Präsidentschaftswahlen zu korrigieren. Über 80 Prozent der Anhänger*innen der Linken in Frankreich stehen deshalb hinter dem Projekt NUPES und die Zahl der dissidentischen Kandidaturen im linken Lager bleibt überschaubar.

Die Zahlen lauten aktuell: Die NUPES bleibt deutlich vorne (31 Prozent) gefolgt von den Ex-“Marschierern” (27 Prozent). Deutlich dahinter rangiert der ultrarechte RN (19 Prozent).

NUPES ist also eine große Chance, ein Durchregieren Macrons zu verhindern. Was indes nicht bedeutet, darauf verweist Chwala, dass es nur sonnige Aspekte zu berichten gibt und NUPES nicht angreifbar sei. Frankreich ist ein in vielerlei Hinsicht tief gespaltenes Land, politisch, sozial, weltanschaulich, in Frankreich grassiert ein intensiver Nationalismus und Rassismus.

Sebastian Chwala sagt zum Thema „besondere, böse Art von Volkssport“, den auch Mitstreiter innerhalb des neuen Bündnisses betreiben:

„Ich sehe gerade einen perfiden Angriffspunkt innerhalb des Linksbündnisses, es betrifft den Umgang mit den Vorstädten. Hier steht „La France insoumise“ mit den dortigen, verhältnismäßig vielen Aktivist*innen im Kreuzfeuer. In Frankreich ist zum absoluten Volkssport geworden, Französ*innen mit migrantischen Wurzeln zu Staatsfeinden zu erklären, wie es einst so populär mit dem französischen Antisemitismus gewesen war. Unter dem Vorwand, die politische Durchsetzung der Laizität vorantreiben zu wollen, stehen alle Menschen, denen ein kultureller Bezug zum Islam unterstellt wird, unter Generalverdacht. Jede Sichtbarkeit des religiösen Bekenntnisses soll aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Gleichzeitig wird unter dem Paradigma der „Gleichheit“ negiert, dass Rassismus und Ausgrenzung überhaupt relevante gesellschaftliche Probleme seien. Die Betroffenen bräuchten sich doch nur assimilieren und alle Probleme gehörten der Geschichte an. Eine besonders problematische Rolle spielt hier die Kommunistische Partei, die selbst ultralaizistisch unterwegs ist und den bekannten und populären Journalisten Taha Bouhafs zu Fall gebracht hat, der für LFI im Lyoner Banlieu kandidieren sollte, aber in der Vergangenheit immer wieder zur Zielscheibe des etablierten Politik-und Medienbetriebs wurde. Dies nutzte die Kommunistische Partei vor Ort aus, um sich des Mannes zu entledigen. Sie trat eine Kampagne gegen den angeblichen Verteidiger von „Parallelgesellschaften“ los, um so einer lokalen kommunistischen Bürgermeisterin die nachträgliche Nominierung zu ermöglichen. Und dann geschah es: Nachdem auch noch Parteichef Roussel medienwirksam gegen Bouhafs nachtrat, verzichtete dieser auf seine Nominierung. Klar ist, dass diese Geschehnisse gerade in den Vorstädten mit Entsetzen aufgenommen werden. Mehr und mehr lokale Komitees denken über eigene Kandidaturen gegen die NUPES nach. Sollte dies passieren, wäre dies ein Schlag in die Magengrube der Linken und erneut ein Beweis der Unfähigkeit der traditionellen französischen Linken, sich den wirklichen Realitäten im Lande zu stellen. Es sei allerdings angemerkt, dass in den meisten Wahlkreisen die strategische Union der NUPES bisher ohne Probleme gestartet worden ist.

Der Wahlkampf nimmt Fahrt auf, die Gegner von NUPES kommen in Stimmung und sehen Frankreich im Fall der Wahl Mélenchons zum Premier auf den Weg in die Diktatur a la Nordkorea, der linke Kandidat wird als Reinkarnation Hugo Chavez’ verspottet.

Dem Volk aufs Maul geschaut, um zu erfahren, wie die einfachen Menschen ticken, zeigt sich zum Thema in einem Fundstück aus den Medien (Die Zeit, April 2022):

Das kleine Volk hat sich mit dieser Wahl einen Bärendienst erwiesen. Für mich ist Macron kein Präsident der Franzosen, sondern ein Präsident der Reichen. Für uns auf dem Land wird alles immer nur teurer. Ich habe zweimal Marine Le Pen gewählt und habe kein Problem damit, das zuzugeben. Sie ist nicht so rassistisch wie ihr Vater und sie ist die einzige, die sich um die Probleme kleiner Leute schert. Vor allem habe ich sie gewählt, um Macron zu verhindern. Ich habe wirklich den Rand voll von seiner Arroganz. Der hat sich auf dem Land nur blicken lassen, um Stimmen zu fangen. Jetzt haben wir wieder einen Präsidenten, den die Mehrheit hier nicht wollte. Estelle Drezen, 32, häusliche Pflegehilfe und Markthändlerin

Titelbild: BalkansCat/shutterstock.com

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