Dieser Beitrag ehrt nicht nur Rosa Luxemburgs Analyse und Weitsicht. Damit sei auch daran erinnert, dass die „Kriegswirren“ heute nicht den Bedingungen des 2. Weltkrieges, sondern denen des 1. Weltkrieges nahekommen. In diesem ging es nicht darum, sich auf die Seite einer der beiden Kriegsparteien zu stellen, sondern den Krieg gegen die Kriegsherren (im eigenen Land) zu wenden. Dabei müssen wir auch über unsere eigene Ohnmacht reden. Von Wolf Wetzel.
Die Ostermarschbewegung steht in diesem Jahr vor einem kaum lösbaren Problem, das aber auch nicht ganz neu ist. Angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine scheint man gezwungen zu sein, sich für eine Seite zu entscheiden: Für Russland oder auf der Seite der Ukraine. In der Mehrheit (der Aufrufe) überwiegt die „Solidarität mit der Ukraine“, womit hoffentlich nicht die Regierung Selenskyj gemeint ist, sondern die Bevölkerung, die diesem Krieg ausgeliefert ist.
Dafür sprechen zwei zentrale Umstände: Die russische Armee hat einen Angriffskrieg begonnen, was sie automatisch ins Unrecht setzt. Zum anderen ist die Bildregie eindeutig, mit der wir jeden Tag mit den ukrainischen Opfern versorgt werden.
Vieles spricht dafür, sich auf die Seite der „Ukraine“ zu stellen. Hinzu kommt, dass man sich scheinbar auf die gute Seite gestellt hat: Da ist ein eigentlich lustiger und komischer Selenskyj, der total nett ist und einfach nur die Freiheit und sein Volk verteidigen will. Auf der anderen Seite ist Putin, ein kaltherziger Mensch, dem es nur um Macht geht und der alles unterdrückt, was ihm nicht gehorcht. Zudem ist er ein Macho, ein Schwulenfeind, ein Mann, der nicht mehr up to date ist, was seine Performance angeht.
Wenn man will, geht es um den heroischen Kampf zwischen Freiheit und Despotismus, zwischen Fortschritt und Reaktion, zwischen Recht und Unrecht. Dass dies wenig mit den Wirklichkeiten in der Ukraine und Russland zu tun hat, spielt keine große Rolle. Es kommt auf die Erzählung an und in der muss es ein Gut und ein Böse geben.
Wie schwierig wäre es hingegen, wenn man sich die Verhältnisse genau anschaut, die zu dem Krieg geführt haben? Dann stünden sich eben nicht Gut/Böse, Fortschritt/Reaktion, Freiheit/Despotie gegenüber, sondern zwei Herrschaftsformen, die sich sehr ähnlich, geradezu erschreckend ähnlich sind. Beide haben ein oligarchisches System hervorgebracht, das den unermesslichen Reichtum ganz Weniger auf Kosten einer immer größer werdenden Armut ihrer Bevölkerung „bezahlt“.
In beiden Systemen zählt die Freiheit wenig, das Anschmiegen und Anschmeicheln an das jeweils Vorherrschende alles. Und beide Regierungen teilen sich ein knallhartes kapitalistisches System, in dem sie an unterschiedlichen Plätzen um Ab- und Aufstieg kämpfen. Beide bekämpfen nicht eine Minute diese mörderische und zerstörerische Ungleichheit, sondern kämpfen um einen besseren Platz darin – für ganz Wenige.
Die ukrainische Regierung möchte in diesem System als Bauer anerkannt werden (Nato-EU-Mitgliedschaft am Ende der Hierarchie) und die russische Regierung möchte nicht länger Bauer sein, sondern als Dame/König behandelt werden. Es geht, wenn man die Bedingungen dieses Krieges nicht weglässt und auslöscht, eben nicht um Freiheit versus Despotie, sondern um Positionskämpfe innerhalb dieser imperialen Weltordnung, in der beide Bevölkerungen nicht viel Wert haben. Und all das geschieht unter dem nicht unwahrscheinlichen Szenario, dass dieser Krieg in einem Dritten Weltkrieg münden könnte.
Was also tun? Auf welcher Seite steht man richtig? Sehr oft wird diese Situation mit den Bedingungen verglichen, die den Zweiten Weltkrieg geschaffen haben. Aber das stimmt in einem ganz zentralen Punkt nicht: Damals ging es neben imperialen Gründen auch um einen Krieg der Systeme, die unversöhnlich gegenüberstanden: Auf der einen Seite die kapitalistischen Staaten, auf der anderen die sozialistische Sowjetunion.
In diesem Systemantagonismus befinden wir uns 2022 nicht. Es geht um die imperialen Ansprüche innerhalb kapitalistischer Länder, um einen mörderischen Wettstreit innerhalb der „kannibalischen Weltordnung“ (Jean Ziegler).
Und genau diese Konstellation gab es schon einmal, Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich der Erste Weltkrieg anbahnte. Auf der einen Seite stand die „Entente“ (England/Frankreich/Russland), auf der anderen Seite die „Mittelmächte“ Deutschland und Österreich-Ungarn. Für die Menschen, die Lohnabhängigen, die Unterworfenen gab es auf keiner Seite etwas zu gewinnen. Sie waren überall „Kanonenfutter“.
Mit dieser sehr vernünftigen Ansicht trat auch die 2. Internationale auf, in der sich sozialdemokratische Parteien weltweit zusammengeschlossen hatten. Sie lehnten es ab, sich auf eine Seite zu stellen. In diesem Krieg konnte sie nur verlieren, egal wer am Ende gewinnen sollte. Dementsprechend klar und eindeutig war die Parole: „Krieg dem (imperialistischen) Krieg“. Und genau so klar waren die politischen Konsequenzen, die man daraus zog. Man müsse die Kriegsherren im eigenen Land bekämpfen, den Krieg um Vorherrschaft in einen Krieg für den Sozialismus transformieren. Hunderttausende gingen auf die Straße. Doch dann kippte die „Stimmung“ um. Sebastian Haffner beschreibt dies im Rückblick auf eine besondere Weise:
„Nein, mein Vater – und ebenso meine übrigen Angehörigen – waren unschuldig daran, dass ich binnen weniger Tage zum fanatischen Chauvinisten und ‚Heimkrieger‘ wurde. Schuld war – die Luft: die anonyme, tausendfältig spürbare Stimmung ringsum: Der Sog und Zug der massenhaften Einigkeit …“ (S.19)
Ob die Sozialdemokratie (nur) der „Stimmung“ nachgab oder auch den Schmeicheleien und Privilegien, die damit verbunden waren, nun als Verbündeter anerkannt zu werden, soll hier nicht geklärt werden. Auf jeden Fall waren sie aktiv dabei, den nun doch befürworteten Krieg in einen „Verteidigungskrieg“ umzudeuten und darüber hinaus dem Krieg (als ein Krieg gegen ein reaktionäres Zaren-Regime) eine fortschrittliche Note hinzuzufügen:
„Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen (…) Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus (…) viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen.“ (Hugo Haase, im Namen der SPD-Fraktion vor dem versammelten Reichstag am 4. August 1914)
Der Kapitulation 1918 ging also eine Kapitulation der Sozialdemokratie 1914 voraus, die in der Zustimmung zu den ersten Kriegskrediten gipfelte und den eigentlich geplanten Generalstreik in einen „Burgfrieden“ ummünzte.
Rosa Luxemburg war mit ganz wenigen zusammen gegen diesen Kotau. Selbst Karl Liebknecht stimmte den Kriegskrediten zu. Während andere Sozialdemokraten ein gutes Leben im Dunstkreis des Kaisers genossen, saß Rosa Luxemburg im Gefängnis. Dort schrieb sie die „Junius-Broschüre“ (1915). Auf die Frage, auf welcher Seite die Arbeiterklasse kämpfen solle, antwortete sie:
„Sieg oder Niederlage kommt unter diesen Umständen für die europäische Arbeiterklasse in politischer genau wie in ökonomischer Beziehung auf die hoffnungslose Wahl zwischen zwei Trachten Prügel hinaus. Es ist deshalb nichts als ein verhängnisvoller Wahn, wenn die französischen Sozialisten vermeinen, durch militärische Niederwerfung Deutschlands dem Militarismus oder gar dem Imperialismus aufs Haupt zu schlagen und der friedlichen Demokratie die Bahn in der Welt zu brechen. Der Imperialismus und in seinem Dienste der Militarismus kommen vielmehr bei jedem Siege und bei jeder Niederlage in diesem Kriege vollauf auf ihre Rechnung, ausgenommen den einzigen Fall: wenn das internationale Proletariat durch seine revolutionäre Intervention einen dicken Strich durch jene Rechnung macht.“
Gegen Ende ihrer Schrift kommt sie zu dem Schluss:
„Der Imperialismus mit all seiner brutalen Gewaltpolitik und Kette unaufhörlicher sozialer Katastrophen, die er provoziert, ist freilich für die herrschenden Klassen der heutigen kapitalistischen Welt eine historische Notwendigkeit. Nichts wäre verhängnisvoller, als wenn sich das Proletariat selbst aus dem jetzigen Weltkriege die geringste Illusion und Hoffnung auf die Möglichkeit einer idyllischen und friedlichen Weiterentwicklung des Kapitalismus retten würde. Aber der Schluß, der aus der geschichtlichen Notwendigkeit des Imperialismus für die proletarische Politik folgt, ist nicht, daß sie vor dem Imperialismus kapitulieren muß, um sich fortab in seinem Schatten vom Gnadenknochen seiner Siege zu nähren. (…) Der Wahnwitz wird erst aufhören und der blutige Spuk der Hölle wird verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland und Frankreich, in England und Rußland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hand reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Kriegshetzer wie den heiseren Schrei der kapitalistischen Hyänen durch den alten mächtigen Schlachtruf der Arbeit überdonnern: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen. Man kapitulierte nicht vor dem vereinten Proletariat, sondern vor dem Feind.
Mit der Waffe in der Hand …
Ich wollte in den 1970er Jahren den Kriegsdienst verweigern. Dafür musste man eine „Gewissensprüfung“ über sich ergehen lassen. Im Großen und Ganzen wusste ich nur, dass man Gewalt ganz grundsätzlich ablehnen musste und dies am besten aus religiösen und/oder ethischen Gründen. Ich suchte für die Details Hilfe und landete schließlich in einer Beratungsstelle der Kirche. Der Pfarrer fackelte nicht lange:
„Das Beste ist, wir üben die Situation vor dem Ausschuss. Ich stelle dir ein paar Fragen und du antwortest nach bestem Wissen und Gewissen. Danach gehen wir deine Antworten durch.“
Ich war einverstanden und ganz Ohr.
„Stellen Sie sich vor, sie ständen vor einem KZ. Alle Wärter sind geflohen. Nur noch ein Wachmann ist zu sehen.“
Ich schaute den Pfarrer mit großen Augen an und zuckte schon einmal leicht mit den Schultern.
„Und Sie haben eine Waffe in der Hand. Mit einem Schuss könnten Sie also alle KZ-Häftlinge befreien.“
Er machte eine kurze Pause und ich spürte das Unbehagen in mir hochkommen.
„Was würden Sie machen?“
Mir wurde es ganz heiß und ich spürte recht schnell, dass jede Antwort die falsche ist. Ich stotterte etwas von unrealistisch und schaute ihn ratsuchend an.
Er sah meine verstockte und hilflose Haltung, was meine einmalige Chance anbelangt, KZ-Häftlinge mit „einem Schuss“ zu befreien. Der Pfarrer ließ mich noch eine Weile zappeln, bevor er loslegte.
„Du hast es bemerkt. Du kannst in diesem Beispiel nur verlieren. Wenn Du die Waffe benutzt, dann hast du vor diesem Ausschuss verloren. Und wenn Du die KZ-Häftlinge nicht befreist, machst du dir ewig Vorwürfe.“
Ich nickte.
„Aber was du nicht bemerkst, ist die Tatsache, dass du damit stillschweigend Bedingungen akzeptierst und als gegeben hinnimmst, die jede freie Entscheidung von Dir unmöglich machen.“
Ich kann ihm nur halbwegs folgen, was dem Geistlichen durchaus auffällt.
„Na ja, eine Antwort vor diesem Ausschuss könnte sein: Genau deshalb möchte ich den Kriegsdienst verweigern. Ich möchte alles tun, damit es zu dieser Situation erst gar nicht kommt. Wie konnte es in Deutschland dazu kommen, dass man KZs errichtete? Wie konnte es in Deutschland dazu kommen, dass Juden erst diskriminiert, dann entrechtet und schließlich ermordet wurden? Ich will also alles dafür tun, damit es erst gar nicht zu dieser Situation kommt, in die Sie mich hier bringen.“
Diese eindrucksvolle Situation und Lehrstunde half mir, das Dilemma heute auszuhalten und eben kein „Heimkrieger“ zu werden. Denn es gehört zu den Grundbedingungen einer Linken (in Europa), dass sie keinen Krieg stoppen, dass sie keine Massaker verhindern kann, dass sie im imperialen Machtgefüge nicht einmal den Hofnarren spielen kann und darf. Aber genau dieses Wissen machte nicht ohnmächtig oder gar teilnahmslos, sondern steckt/e den Rahmen ab, in dem wir handeln können.
Denn wenn wir beide Kriegsparteien ablehnen, dann haben wir überhaupt erst die Chance, genau das zu benennen, was die beiden Kriegsseiten verbindet: Sie wollen ihre Herrschaft sichern oder ausdehnen, mit deutlich ungleichen Ambitionen:
Die ukrainische Regierung möchte so gerne „Bauer“ auf dem Schachbrett der Granden sein und die russische Regierung möchte nicht länger „Bauer“ sein, sondern als „Dame“ behandelt werden.
Eine Linke, die sich auf diesem Schachbrett einen Platz sucht, dort eine gute Figur abgeben möchte, hat verloren – vor dem ersten Zug. Erst unsere Ablehnung gegenüber beiden Kriegsparteien eröffnet den Blick auf das, worum es jenseits dieses Schachbrettes gehen muss: Gerade weil nicht einmal die beiden Kapitalismen (Russland/Ukraine) ohne Krieg leben und auskommen können, muss sich eine Linke für all das stark machen, was jenseits dieser (selbst-)mörderischen Weltordnung liegt.
Das gilt als naiv und weltfremd. Aber es gibt heute mehr denn je keinen Grund, realistisch und pragmatisch zu sein. Diese „Weltfremdheit“ würde keine Linke in Europa aufs Schlachtfeld bringen, stattdessen aber eine Vorstellung wachsen lassen und sichtbar machen, die sich diesem Wahnsinn widersetzt.
Und genau deshalb ist es keine „Neutralität“, wenn man auf keine der beiden Kriegsparteien steht, sondern eine sehr parteiische Entscheidung, hier, in Deutschland, alles zu tun, um den schwarz-rot-gelb-grünen Kriegskurs zu bekämpfen, wofür man nicht in die Ukraine gehen muss. Wer meint, dass eine solche politische Haltung luxuriös sei, dem verspreche ich ein helles Erwachen – wenn wir uns tatsächlich zusammen außerhalb dieser imperialistischen Anordnung stellen.
Und noch etwas zur Ehrlichkeit: Wer sich jetzt – mit diesem Wissen – auf die Seite der „Ukraine“ stellt, der ist nicht ganz nahe bei den Opfern in der Ukraine, sondern nahe einer für ihn/sie komfortablen und aussichtsreichen Variante, nahe an „Dame“ und König“ dieser Weltordnung. Die wirkliche Sorge gilt nicht den Opfern dieses Krieges, sondern einem möglichst sicheren Platz darin.
Das setzt aber recht erbarmungslos voraus, dass man all die Millionen von Menschen, die vor, parallel und nach dem Ukraine-Krieg ihr Leben und ihre Lebensgrundlage verlieren – der Blutpreis für diesen sicheren Ort hier – unsichtbar macht.
Quellen und Hinweise:
Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, Junius-Broschüre 1915
Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Pantheon 2014
Wenn die Friedenstaube an Long Covid Symptomen leidet, Wolf Wetzel
Titelbild: Heiko Kueverling/shutterstock.com