Mit dem Verschwinden der UdSSR hat sich die traditionelle Russophobie nur in der Erscheinung, nicht aber im Wesen verändert. Sie ist kulturell zu tief verwurzelt. Wie im Fall der Schwarzen Legende ist dieses rassistische Vorurteil weder zufällig in die Köpfe der Westler gelangt, noch ist es spontan entstanden. Die europäischen Länder, in denen es am stärksten kultiviert wurde, sind Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Auszüge aus dem Kapitel „Die Angst vor den Russen – damals und jetzt“ in dem Buch „Imperiophobie“ von Elvira Roca Barea.
Um die Russophobie isoliert zu analysieren, ist es ratsam, die Zeit vor und nach der UdSSR zu betrachten. Wir werden dann erkennen, dass russenfeindliche Gefühle einen so dauerhaften Bestand hatten, dass dieses Phänomen weit über die üblichen Ideologien hinausgeht. Die Angst vor dem Imperium überschreitet einzelne Anschauungen und sie geht tiefer als jedes liberale, sozialdemokratische oder kommunistische Credo.
In der Literatur wird üblicherweise davon ausgegangen, dass die Russophobie während des Krimkrieges in Großbritannien oder in mehreren westlichen Ländern gleichzeitig als Folge dieses Konflikts entstand. In Wirklichkeit aber kam dieses Phänomen zumindest ein Jahrhundert früher zu einer Zeit auf, die Vorurteile und Phobien hervorgebracht hat wie kaum eine andere in der Geschichte des Westens. Die Rede ist von der Aufklärung, insbesondere der Aufklärung in Frankreich. Damals wurden die Klischees der russischen Schwarzen Legende geprägt, die während des Krimkriegs bis zum Erbrechen wiederholt wurden und auch heute noch nicht aus der Welt geschaffen sind. Die Kriegspropaganda erfand nichts Neues, sondern stützte sich auf das, was die Aufklärer bereits in die Welt gesetzt hatten. Werfen wir einen Blick auf diesen Prozess und seine Ursachen. Warum kam der Antirussismus während der Aufklärung in Frankreich auf? Westeuropa erfuhr von der Existenz Russlands, als Peter I., genannt der Große (1672–1725), im Jahr 1697 eine außergewöhnliche Reise unternahm. Der Zar besuchte mehrere Länder, aber nicht Frankreich, denn abgesehen davon, dass er, wie wir alle es gelernt haben, die Erfindungen des Westens kennenlernen wollte, suchte der Zar in erster Linie nach christlichen Verbündeten im Kampf gegen die Türken. Frankreich war damals jedoch der beste Verbündete des Osmanischen Reiches.
Vor dem Frieden von Paris war Russland für die französische Aufklärung ein nachahmenswertes Vorbild, danach war es eine zum Scheitern verurteilte historische Realität. Es gibt Autoren, die von einem wahren »Russlandmythos« im Frankreich des 18. Jahrhunderts sprechen, ein Phänomen, das es allein in Frankreich und in keinem anderen Land gab. Um 1700 wurde Zar Peter als ein den Weiten Asiens entsprungenes, groteskes und barbarisches Wesen angesehen. Doch Mitte des Jahrhunderts änderte sich diese Meinung und man hielt ihn für den genialen Schöpfer eines riesigen Reiches, das – so dachte man in Frankreich – ohne die Hilfe Frankreichs und der französischen Aufklärung nicht möglich gewesen wäre. Das Paradox irritiert: Wie ist es möglich, dass die französischen Künste, das französische Talent und die französische Kultur in den Händen von Halbbarbaren ein Imperium von epischen Ausmaßen hervorgebracht hatten, jedoch in Frankreich nichts Ähnliches erschaffen konnten? In der Tat war die französische Öffentlichkeit davon überzeugt, dass alles, was in Russland und in den Vereinigten Staaten geschah, das Werk französischer Aufklärer war.
Das gigantische Missverhältnis zwischen der wahren wirtschaftlichen und sozialen Situation Frankreichs und dem Bild, das die aufgeklärten Franzosen im In- und Ausland von ihrer Nation verbreiteten, ist ein faszinierendes und wenig untersuchtes kollektives Phänomen.
Offensichtlich ist man der Meinung, die Aufklärung sei ein Produkt „Made in France“, das überallhin exportiert und allerorts nachgeahmt worden ist. Zumindest wird angenommen, die Aufklärung habe in Frankreich ihre Vollkommenheit erlangt. Diese Idee ist nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern allgemein anerkannt. Beim Gedanken an die Aufklärung kommt einem Frankreich in den Sinn. Dieses geistige Konstrukt, das als unwiderlegbare Realität gilt, ist ein kulturelles Produkt, das von den französischen Aufklärern im Rahmen einer intellektuellen „Marketingkampagne“ in einer Weise in die Welt gesetzt wurde, die die modernsten Werbefirmen vor Neid erblassen ließe.
Die Kontroverse über Russland und das Konzept der Zivilisation, an der sich die Geister Diderots, Rousseaus, Voltaires und anderer Aufklärer schieden, ist wohlbekannt. Ohne die Umwälzungen des Siebenjährigen Krieges und den Verlust von Neufrankreich kann man diese Aufmerksamkeit, die Russlands neuem Imperium geschenkt wurde, nicht verstehen. (…) Es war das Interesse an einem Imperium, das aus dem Nichts, der Barbarei und der Wildnis auferstanden war. (…) Aber zu jener Zeit wurde auch eine Reihe von Klischees über die Rückständigkeit und die ethnischen Merkmale der Völker des Zarenreichs verbreitet. Gewiss war dies der Zeitpunkt, an dem eine stark an eine lokale, nicht expansionsfähige Macht gebundene Elite in Frankreich russenfeindliche Stereotype prägte.
Diese Auseinandersetzungen der französischen Aufklärer über Zivilisation oder Barbarei in Russland hatten einen enormen Einfluss auf alle intellektuellen Kreise in Europa. Es wurden antirussische Vorurteile in die Welt gesetzt, die in Westeuropa Fuß fassten und nicht mehr verschwinden sollten.
Die Vorstellung, dass Russland nicht gedeihen werde, weil es nur das Ergebnis einer verfälschten Zivilisation sei, findet sich überall in der Aufklärung. Viele Male wird sie von Auteroche und anderen Aufklärern von mehr Format, etwa von Diderot, wiederholt. Die Russen hätten nur den Anstrich, die Erscheinung zivilisierter Wesen. Darunter aber schlage das Herz eines wilden Asiaten.
Oktober 1797 sandte der polnische General Michal Sokoinicki ein Schriftstück mit dem Titel Aperçu sur la Russie an Frankreichs Direktorium. Im Volksmund wurde es bekannt als das „Testament Zar Peters des Großen“. Im Oktober 1812 veröffentlichte Charles-Louis Lesur, Gründer der Zeitschrift L’annuaire historique diesen Text, der zu einem der einflussreichsten in der Geschichte der Schwarzen Legende Russlands werden sollte, unter dem Titel Des progrès de la puissance russe.
Das „Testament Zar Peters des Großen“ erfreute sich für lange Zeit großer Beliebtheit. Es wurde Tausende Male zitiert und bei verschiedenen historischen Anlässen verwendet. (…) Um zu beweisen, dass „Europa unweigerlich dazu bestimmt ist, Russlands Beute zu sein“, wollte Napoleon dieses angebliche Testament weit verbreiten lassen. Arg getäuscht über das, was Russland wirklich war, stürzte sich Napoleon nun selbst in einen katastrophalen Feldzug, der seine Armee und sein Land zerstören sollte. (…)
Während des Krimkriegs (1853–1856) wurde das angebliche Testament wieder mit großem Tamtam verbreitet. Die Engländer machten ausgiebigen Gebrauch davon. Napoleon III. ordnete an, dass es in allen öffentlichen Gebäuden in Paris und in ganz Frankreich ausgestellt werden sollte. Zu diesem Zweck wurden Tausende und Abertausende von Exemplaren gedruckt. Es handelte sich eindeutig um die Fälschung eines Peter dem Großen zugeschriebenen Testaments, in dem der verstorbene Zar das Schicksal Russlands für die nachfolgenden Generationen aufgezeichnet haben soll. Dabei ging es um nichts anderes als um die Eroberung Europas.
Im dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kam es zwischen Großbritannien und Russland zu Reibereien um das zunehmend zerfallende Osmanische Reich. Die Russen hielten es für besser, dieses zerrüttete Reich zu stützen, als mit den Westmächten, insbesondere Österreich-Ungarn und Großbritannien, Krieg zu führen. Sie wussten, dass keine der beiden Mächte es hinnehmen würde, wenn sie Konstantinopel einnehmen und die Kontrolle über die Meerengen übernehmen würden. Es war besser, alles so zu belassen, wie es war.
Doch die Versuche der Russen, eine bewaffnete Auseinandersetzung zu vermeiden, waren vergeblich.
Zur Herabwürdigung des Feindes kamen nun die politischen und intellektuellen Eliten – natürlich in Zusammenarbeit mit der Presse – ins Spiel. (…) Die englische Presse – wie zuvor der neu aufgekommene protestantische Klerus – wurde zum wichtigsten Medium der Meinungsbildung. (…)
Um dem Argument der britischen Führungseliten, sie verfolgten eine rein defensive Politik, Glaubwürdigkeit zu verleihen, musste die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, dass der Feind aggressiv war und die Briten über alles hasste. Am 18. Oktober 1838 druckte Morning Herald die Slogans von The Times ab und eröffnete seinen Leitartikel mit folgendem Satz: „Die Politik Russlands war lange Zeit vom Geist der tödlichen Feindseligkeit gegenüber England durchdrungen.“ (…) Europa wurde mit vulgären Pamphleten über Russland übersät.
Das Stereotyp des betrunkenen, ignoranten, barbarischen und aggressiven Russen verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der europäischen Presse, und zwar sowohl in den Ländern, die in diesem Krieg gekämpft hatten, als auch in denen, die nicht daran teilgenommen hatten, wie zum Beispiel Spanien. (…) Wie bereits erwähnt, geht man üblicherweise davon aus, die Russophobie sei im 19. Jahrhundert in Großbritannien in die Welt gesetzt worden. Wir bestehen hingegen darauf, dass der Ursprung dieses Phänomens viel früher liegt und auf die französische Aufklärung zurückgeht.
Es stimmt freilich, dass viele Klischees, die vor 1917 über Russland kursierten, infolge der antirussischen Propaganda Großbritanniens, das sich gerade in einer expansionistischsten Phase befand, populär wurden. Allerdings waren sie nicht von den Briten in die Welt gesetzt worden. Für die Fabrikation eines minderwertigen und bestialischen Russen wurden alle gängigen Medien verwendet, mit denen wir uns in diesem Buch vertraut machen werden.
Bakunin schrieb, dass es wenige Russen gebe, die sich nicht darüber bewusst waren, in welchem Maße die Deutschen Russland hassten. „Dieser Hass ist eine der stärksten nationalen Leidenschaften Deutschlands.“
Hegel und ein Teil der deutschen Idealisten sprachen den Russen jeden Beitrag zur europäischen Zivilisation ab, ja sogar das Recht auf ein unabhängiges Leben, ohne von den „überlegenen Völkern“ bevormundet zu werden. In einem geteilten und zumeist armen Deutschland, wo die letzten Überreste der Sklaverei und Fronarbeit in Westeuropa überlebt hatten, war es lächerlich, die Situation so zu betrachten. Wie Frankreich, so projizierte auch Deutschland vor der Vereinigung seine enormen historischen Frustrationen auf Russland.
Als Hitler verkündete, die slawischen Rassen – die „Untermenschen“ aus dem Osten – müssten versklavt werden, erfand er nichts Neues. (…) Houston Stewart Chamberlain, ein deutschsprachiger Brite, hatte Gobineaus „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ übernommen und verkündete, dass es letztlich das natürliche Schicksal der Slawen sei, Sklaven zu sein. Damit scherzte er über die Herkunft dieses Wortes in vielen westeuropäischen Sprachen. Das Wort „Sklave“ kommt tatsächlich von „Slawe“. Im Laufe des Mittelalters verdrängte es den lateinischen Begriff servus infolge des Zustroms versklavter Gefangener slawischer Herkunft, die dann in Europa verkauft wurden.
Hitler, Gobineau und Chamberlain sind abgesondert im Kreis der Verfluchten, aber viele andere, die ihre Ideen teilten, werden in unserem Europa ohne Wenn und Aber verehrt und angebetet. Ihr Prestige und ihre außergewöhnliche intellektuelle Stellung in der Gesellschaft trugen dazu bei, dass perverse Ideen legitimiert, populär und glaubwürdig gemacht wurden. Persönlichkeiten wie Voltaire, Rousseau, Goethe, Fichte oder Hegel, die noch heute unsere tiefste Bewunderung wecken, teilten antisemitische Ideen, Konzepte über die Bedeutung der Schädelform oder über die natürliche Minderwertigkeit der mediterranen und slawischen Völker.
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert haben sich die Russen in eine gründliche, neurotische Analyse vertieft, denn sie wollen ihren wahren Nationalcharakter kennenlernen und wissen, wie bei diesem undefinierbaren Charakter ihre Zukunft aussehen wird.
(…) Was Russland eigentlich ist und welches Schicksal es erwartet, ist ein immer wiederkehrendes Thema unter den russischen Philosophen und Schriftstellern. Mit der metaphysischen Frage nach dem Grund für Russlands Existenz in der Geschichte beschäftigte sich der Philosoph Wladimir Solowjew immer wieder und auch Dostojewski oder Solschenizyn haben sie aufgeworfen. Für Nikolai Berdjajew ist die Dualität zwischen Ost und West der Gordische Knoten des russischen Leids, das gerade wegen der „Inkonsequenz des russischen Geistes“ von außergewöhnlicher Natur ist. Russland wird seinen wahren Platz in der Welt erst dann entdecken, wenn es diesen Konflikt zwischen Ost und West löst. (…)
Für Anatol Lieven ist es klar, dass die Russophobie nicht nur von der Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion während des Kalten Krieges herrührt, und er ist der Ansicht, dass die Russophobie „auch eine Hinterlassenschaft der Studien über Russland und die Sowjetunion ist, die in westlichen Hochschulen durchgeführt wurden“. Im Falle der Russen gibt es also diese Komponente der intellektuellen Achtbarkeit, die für antiimperiale Vorurteile im Gegensatz zu anderen Arten von Vorurteilen charakteristisch ist. Dieses Phänomen ist seit der Aufklärung eng mit der Russophobie verknüpft. (…)
Vladimir Volkoff bezeichnet die Russenfeindlichkeit, die seit 1991 im Westen zu beobachten ist, als postmoderne Russophobie. Humorvoll beschreibt er, wie die westlichen Medien tagtäglich eine „Orgie der Russophobie“ feiern. Dieses erneute Aufblühen der Russophobie erklärt er mit den Gefühlen der meisten Medieninhaber und Intellektuellen, für die der Fall der UdSSR und des Kommunismus ein unverzeihliches Scheitern der von ihnen jahrzehntelang verehrten Ideale darstellt. Seitdem Russland nicht mehr das gelobte Land eines neuen Glaubens ist, kann nichts anderes hingenommen werden als ein korruptes und dekadentes Russland. Entgegen aller Logik stellt sich in internationalen Umfragen heraus, dass sich das Image Russlands seit dem Ende des Sowjetregimes verschlechtert hat.
Nach dem Ende des Krimkrieges wurde erneut der Untergang Russlands oder zumindest seine Niederwerfung angekündigt, die das Land unwiederbringlich aus der Oberliga der Geschichte verdrängen würde. Dasselbe wurde nach der Revolution von 1917, dem Bürgerkrieg und nach dem Fall des Kommunismus behauptet. Die Krise in der Ukraine und auf der Krim im Jahr 2014 zeigt, dass der Westen sich wieder einmal getäuscht hat, wenn er glaubt, Russland gebe sich geschlagen.
Titelbild: Satirische Karte von 1887. Am Bild des bösen Russen, der sich Europa unterwerfen will, hat sich wenig geändert. Bild: gemeinfrei