Vorbemerkung: Schreitet das Imperium USA zu neuen Höhen, wie man z.B. angesichts der Einladung nach Ramstein und des Auftretens der US-Vertreter in Ramstein denken könnte, oder geht es abwärts, wie viele Zeitgenossen meinen. Unser Autor beschreibt, was er sieht: Niedergang. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Der endlose Krieg
In der Ukraine versucht Wladimir Putin mit militärischen Mitteln die Ergebnisse eines weiteren in einer endlosen Reihe amerikanischer Regimewechsel-Kriege am Rande Eurasiens – von Osteuropa über den Nahen Osten bis Zentralasien – umzukehren. Diese Bemühungen der USA begannen nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Um den damaligen Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium, Paul Wolfowitz, damals mit Blick auf den Nahen Osten, zu zitieren, dienten die Kriege dort dazu, “ehemalige sowjetische Klientelstaaten in der Region auszuschalten, bevor die nächste Supermacht kommt”. Diese potenzielle Supermacht ist, wie sich inzwischen herausgestellt hat, China.
In den USA wuchs schon lange vor dem Ukrainekonflikt erheblicher Widerstand gegen den endlosen Krieg heran. Dieser wird aber nach wie vor durch die Unterstützung eines Großteils des politischen Spektrums ermöglicht und vorangetrieben. Insbesondere ist hier die Demokratische Partei zu nennen, die sich unter der Führung von Barack Obama, Joe Biden und Hillary Clinton inhaltlich von den klassischen Zielen der politischen Linken – Internationalismus, universelle Menschenrechte, Abmilderung der sozialen Folgen des Kapitalismus – distanziert hat. Heute treibt die Partei die Neuaufteilung der Welt in “wir gegen sie” voran, führt Regimewechsel-Kriege unter dem Deckmantel der Menschenrechte und lehnt historische sozialdemokratische Politik in wesentlichen Teilen ab. Die Partei John F. Kennedys schwang sich auf bizarre Weise zur Führerin dessen, was viele Beobachter als “Kriegspartei” bezeichnen, auf.
Die Verschiebung der ehemaligen amerikanischen politischen linken Mitte nach rechts ist ein direktes Ergebnis des wachsenden Einflusses dessen, was Präsident Dwight D. Eisenhower den militärisch-industriellen Komplex nannte. Nach dem 11. September erfuhr dieses Amalgam von Militär, Geheimdiensten, Bürokratien und Industrien durch George W. Bush eine extreme Steigerung seines Budgets, das heute dasjenige aller restlichen Länder der Erde zusammengenommen übertrifft. Begünstigt wurde diese Remilitarisierung der USA trotz des Endes des Kalten Krieges dadurch, dass alle US-Präsidenten seit Ronald Reagan, mit Ausnahme von Donald Trump, enge Verbindungen zu Militär oder Geheimdiensten pflegten. Nach 2001 wurde von jeder neu das Amt antretenden Regierung unabhängig von der Parteizugehörigkeit des Präsidenten erwartet, die vorgezeichnete Agenda des endlosen Krieges weiter zu verfolgen und damit das zugewiesene Budget zu rechtfertigen. Diese Kontinuität der Regierung erklärt beispielsweise, warum heute in der Biden-Regierung Victoria Nuland arbeitet, eine Neokonservative, die bereits unter George W. Bushs Vizepräsident Dick Cheney den Irak-Krieg mitinitiiert hatte.
Es war Frau Nuland, die 2014 als Unterstaatssekretärin im State Department unter Obama den Kiewer Putsch gegen den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowytsch säte und nun unter Biden 2022 einen ausgewachsenen Krieg um die Ukraine erntet. Und ein Putsch war es und keine demokratische Entscheidung der Ukrainer, wie unter vielen der Chef der „privaten CIA“ Stratfor, George Friedman, einräumte. Man mag argumentieren, dass ein offener Krieg mit Russland bereits damals einkalkuliert war. Allerdings weist der aktuell offenbarte mangelhafte Ausbildungs- und Ausrüstungsstand der Kiewer Armee darauf hin, dass man auf dieses Szenario seitens der USA nicht wirklich vorbereitet war. Der Fall Ukraine zeigt deutlich auf, wie sehr die Washingtoner Bürokratie inzwischen mit den Herausforderungen des endlosen Kriegs überfordert ist. Allzu offensichtlich sind die Rückschläge, verursacht durch einerseits zunehmenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Widerstand seitens der Zielländer und andererseits eine bröckelnde Phalanx der Allierten.
Zunehmender Widerstand
Ohne den Einmarsch Putins in die Ukraine in irgendeiner Weise aufzuwerten oder zu rechtfertigen, wäre jede russische Regierung letztlich gezwungen gewesen, auf die Bedrohung durch den endlosen Krieg in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen und der Ukraine militärisch zu reagieren. Was das US-Verteidigungsministerium und Denkfabriken wie RAND heute als ein wiedererstarktes, aggressives Russland beschreiben, ist das Ergebnis ihrer eigenen Taktik der letzten 20 Jahre. In einer RAND-Studie aus dem Jahr 2019 werden beispielsweise sechs regionale Angriffsrichtungen auf Russland in einem Zermürbungskrieg beschrieben.[1] Putins Invasion in der Ukraine dient nun dazu, drei von ihnen auszuschalten: die wirtschaftliche Strangulierung der ethnisch russischen Bevölkerung in Transnistrien (einem Teil der Republik Moldau in der Nähe von Odessa), den Regimewechsel in Weissrussland und den für März 2022 geplanten finalen Angriff im ukrainischen Bürgerkrieg auf die in Abspaltung befindliche Region des Donbass.
Dieser letztere, von der ukrainischen Regierung mit verdeckter Unterstützung der USA hauptsächlich gegen ethnische Russen und russischsprachige Ukrainer geführte Krieg hatte zwischen dem Kiewer Regimewechsel 2014 und dem russischen Einmarsch im Februar 2022 wahrscheinlich mehr als zehntausend zivile Opfer gefordert. Die Bevölkerung zwischen Mariupol, Donezk und Lugansk, die sich 2014 in einem Referendum für den Anschluss an Russland ausgesprochen hatte, wurde faktisch seinerzeit vom neu in Kiew installierten Regime zum Feind erklärt und seitdem entsprechend feindselig behandelt. Hat irgendjemand in den zuständigen amerikanischen Regierungsstellen ernsthaft erwartet, dass Russland eine drohende ethnische Säuberung einer so großen Bevölkerungsgruppe als Konsequenz des geplanten Angriffs akzeptieren würde? Putin wird in Russland dafür kritisiert, dass er zu lange gewartet und versucht hat, einen Ausweg aus dem Bürgerkrieg durch das Minsker Abkommen auszuhandeln, das sowohl Kiew als auch Washington nie umsetzen wollten.
Die Frage der NATO-Erweiterung wurde von Russland vor langer Zeit auf den Tisch gelegt. Das State Department hat sich entschieden, die offensichtliche historische Vorlage für eine Lösung bezüglich der Ukraine zu ignorieren, nämlich den Vertrag von 1955, durch den Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg in die EU, nicht aber in die NATO aufgenommen wurde. Und hat man im Pentagon ernsthaft geglaubt, dass Russland mehrere Dutzend von ihm gesponserte Biolabore mit dubioser Aufgabenstellung in einem instabilen Staat vor seiner Haustür akzeptieren würde, der in einen langjährigen internen Konflikt verwickelt ist? Scheinbar haben die US-Regierungsbeamten vergessen, dass die Ukraine als Nachfolgestaat der Sowjetunion die drittgrößte Atommacht der Welt war, bevor sie im Budapester Memorandum von 1994 auf diese Waffen verzichtete. Im Februar 2022 hatte das Land jedenfalls die technischen Voraussetzungen, um binnen kurzer Zeit Atomwaffen zu entwickeln, und dazu noch vor aller Welt eine mögliche Absicht dazu angedeutet. Auch wenn Putin diese Probleme übertrieben dargestellt haben mag, so erinnert der Irak-Krieg 2003 doch daran, wie stark die USA auf die – dort größtenteils unwesentlichen – Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen reagiert haben. Leider verkennt Washington auch, dass eine voll bewaffnete Ukraine außerhalb der NATO auch für die nationale Sicherheit der USA eine Gefahr gewesen wäre.
Der Weg vom verdeckten zum offenen Ukrainekrieg, begünstigt durch diese vielen Fehleinschätzungen, wurde durch das fast vollständige Versagen der Kontrolle über die Regierung geebnet. Amerikas Kongress mit seiner sehr begrenzten parlamentarischen Opposition gegen die „Kriegspartei“ ist angesichts einer zunehmenden Neigung, abweichende Meinungen zu zensieren, inzwischen weitgehend dieser Funktion enthoben. Echte politische Opposition findet außerparlamentarisch oder auf Ebene der Bundesstaaten statt, wo oft die außen- und militärpolitische Kompetenz fehlt. Insbesondere der ebenfalls verdeckt geführte, und am Ende gegen den Widerstand Russlands verlorene, Syrienkrieg Obamas wurde nicht aufgearbeitet. Ein völliger Verlust der Ukraine, der immer noch im Raum steht, würde die endgültige Niederlage für dieses zunehmend verkrustete und unbewegliche Regierungssystem bedeuten. Selbst die neue, umfassendere Aufteilung der Ukraine, die einige Gesichter wahrt und von Russland offenbar mit Vorrang verfolgt wird, wird die Probleme offenlegen.
Bröckelnde Allianzen
Diese Gründe für die Konfrontation mit Russland liegen für den größten Teil der Welt offen. Einzig die massiv propagandisierten Bevölkerungen und politischen Systeme in Nordamerika und Europa sind kaum in der Lage, sie zu erkennen und zu ihnen eine kritische Diskussion zu führen. Eine Koalition von Schwellenländern hat sich herausgebildet, die konkret den alternativ zur direkten militärischen Intervention geführten Finanz- und Wirtschaftskrieg des Westens gegen Russland ablehnt. Zu allererst steht hier China hinter Russland, weil es weiß, dass es das langfristige Ziel der Regimewechsel-Kriege ist. China wirft den USA offiziell eine Mentalität des Kalten Krieges vor. Aber auch das geopolitisch zunehmend gewichtige Indien beteiligt sich nicht an den Sanktionen. Der ehemalige indische Botschafter in Russland, D. Bala Venkatesh Varma, steht für die dortige Mainstream-Politik, wenn er sagt: “Dies ist kein Konflikt, den wir geschaffen haben”.
Besonders bitter ist, dass die USA in weiten Teilen des Nahen Ostens ihre Unterstützung verloren haben, nachdem sie Billionen an Staatsgeldern für Kriege in der Region ausgegeben haben. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate brüskieren Washington mit ihrer Ablehnung von Sanktionen, während sich die Türkei, der historische Erzfeind Russlands, in einer neutralen Vermittlerrolle wiederfindet. Selbst Israel schwankt in seiner Unterstützung für die Haltung der USA in der Ukraine. Die Versuche, die Regimewechsel-Zielstaaten von gestern, den Iran und Venezuela, dazu zu bewegen, mehr Öl zu fördern, sehen erbarmungswürdig aus. Schließlich werden sich Lateinamerika, darunter Schwergewichte wie Mexiko und Brasilien, Afrika einschließlich Südafrika und die meisten anderen asiatischen Länder, mit Ausnahme der westlichen Exklaven am Rand des Pazifiks, den Sanktionen gegen Russland nicht anschließen. Das rohstoffarme und auf Handel angewiesene Europa hat in dieser Konstellation die Wahl, entweder wirtschaftlichen Selbstmord zu begehen oder die Sanktionen so weit zu verwässern, dass es sich dem Rest der Welt anschließt.
EU-Europa muss handeln
Die derzeitige Priorität der US-Regierung scheint darin zu bestehen, diese eklatante geopolitische Schwächung zu ignorieren und sich auf die Konsolidierung seiner politischen Allianz mit Großbritannien und seinen osteuropäischen Verbündeten zu konzentrieren. Das heißt, die Ukraine weiter zu bewaffnen und einen Stellvertreterkrieg gegen Russland bis zum letzten Ukrainer zu führen. Gleichzeitig könnte sie als Reaktion auf den fehlschlagenden Finanz- und Wirtschaftskrieg einen offenen Krieg um die Ukraine beginnen, einschließlich direkter Angriffe auf Russland. Anzeichen für Letzteres gibt es bereits, wie die mysteriöse Versenkung des russischen Kriegsschiffes Moskva und Anschläge auf Versorgungseinrichtungen tief im russischen Hinterland zeigen. Eine Ausweitung selbst ‚nur‘ zu einem regional begrenzten konventionellen Krieg mit dieser neuerlichen Koalition der Willigen – nach Vorbild des russischen Bürgerkriegs Weiße gegen Rote Anfang der 1920er Jahre – würde den Westen politisch zerreißen und Europa um Jahrzehnte zurückwerfen.
Viele in Europa und insbesondere in Deutschland haben sich der öffentlichen Empörung über die russische Invasion angeschlossen. Darunter sind aber nicht wenige, die insgeheim hoffen, dass die Einsicht in die mit dem Konflikt in der Ukraine offenbar gewordenen Fehleinschätzungen der US-Regierung wächst und im Wahljahr 2022 eine kritische Diskussion der Risiken des endlosen Krieges innerhalb der USA zustande kommt. Ein republikanisch dominierter Kongress könnte den notwendigen Druck auf die Regierung erhöhen, wieder der Diplomatie und dem Handel Vorrang vor militärischer Intervention und Wirtschaftssanktionen einzuräumen und so den Krieg so rasch wie möglich zu beenden sowie akut bedrohte Allianzen mit Schwellenländern wieder zu stärken.
Mit einer solchen Taktik würde man auf strategischer Ebene den seit 22 Jahren regierenden und wahrscheinlich amtsmüden Putin mangels Bedrohung russischer Interessen überflüssig machen und die russische Bindung an China aufweichen. Aber eine rein inner-amerikanische Diskussion wird angesichts der Schwächung des politischen Systems nach über 20 Jahren des endlosen Krieges für das Heranreifen neuer Ansätze nicht mehr ausreichen: vor allem EU-Europa muss, anstatt sich unter dem Trommelwirbel der Propaganda wegzuducken, im Eigeninteresse auf einen kurzfristigen Wandel in Washington drängen, um die dem Kontinent drohende wirtschaftliche, politische und vielleicht sogar militärische Katastrophe noch abzuwenden.
Der Autor ist finanz- und wirtschaftspolitischer sowie geopolitischer Analyst mit 30 Jahren Berufserfahrung in über 50 Ländern weltweit, darunter fast allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Er schreibt unter Pseudonym.
Titelbild: Claudine Van Massenhove / Shutterstock