Am 27. April jährt sich zum 50. Mal ein denkwürdiger Tag: Bundeskanzler Willy Brandt war gerade mal zweieinhalb Jahre im Amt, seit dem 21. Oktober 1969. Davor lagen 20 Jahre mit einer von der CDU geführten Regierung. CDU und CSU und die mit ihnen verbundenen Konservativen und Vertreter des Großen Geldes wollten den „Unfall der Zeitgeschichte“ von 1969 korrigieren. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Rainer Barzel versuchte am denkwürdigen 27. April sein Glück. Die Union brachte nach Artikel 67 des Grundgesetzes einen Antrag auf ein Konstruktives Misstrauensvotum ein. Rainer Barzel und seine Fraktion haben diesen Schritt gewagt, weil die sozialliberale Koalition durch Überläufer geschrumpft und ohne Mehrheit war. Barzel scheiterte trotzdem. Es fehlten zwei Stimmen zur notwendigen Mehrheit von 249 Stimmen. Waren diese Stimmen gekauft? Darüber wurde lange gerätselt. Nach der Wende verdichtete sich der Verdacht, dass die Dienste der DDR den CDU-Abgeordneten Steiner und den CSU-Abgeordneten und Parlamentarischen Geschäftsführer Wagner bestochen hatten. Barzel selbst vermutete den CSU-Vorsitzenden Strauß hinter dem Scheitern seines Versuchs, Bundeskanzler zu werden. Albrecht Müller.
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Wenig beachtete, aber interessante Folgen des Misstrauensvotums und seines Scheiterns:
- Die (vorläufige) Rettung der mit Willy Brandt eng verbundenen Politik – also der sogenannten Ostpolitik, der Verständigung auch mit den Völkern des sogenannten Ostblocks, und der Reformpolitik
- Eine erstaunliche Politisierung weiter Kreise und der damit verbundene Anstieg der politischen Beteiligung
Die Debatte vor Eintritt in die Abstimmung über das Konstruktive Misstrauensvotum wurde am Vormittag des 27. April 1972 von Millionen Menschen am Hörfunk und Fernsehen verfolgt. In vielen Betrieben wurde die Arbeit niedergelegt, um das Geschehen in Bonn verfolgen zu können. Ähnlich in Schulen. Auch in der DDR wurde dieses Ereignis aufmerksam verfolgt.
An der hohen Beteiligung der sonst oft schweigenden Mehrheit wurde sichtbar, wie groß die Unterstützung für die Friedenspolitik und die Gesellschaftspolitik des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers damals war. Das Engagement war emotional und rational zugleich – rational auch deshalb, weil die Interessen der lohnabhängig arbeitenden Menschen in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit keine große Rolle gespielt hatten. Diese Menschen wie auch die überwiegende Mehrheit der Intellektuellen, der Künstler, der Musiker und Theaterleute hielten Brandt und seine SPD für die Vertreter einer neuen weitsichtigen und sozialen Politik.
Damals war ich verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit und die Wahlkämpfe der Bundes-SPD. Uns war bei diesem Ereignis klargeworden, welch einen gewaltigen Schub die große und emotionale Beteiligung dieser vielen Menschen für die anstehende Wahl zum neuen Bundestag bringen würde. In offenen Abstimmungen würde es im Deutschen Bundestag keine Mehrheit mehr für die sozialliberale Koalition geben. Wir rechneten also mit Neuwahlen, die durch ein einvernehmlich vereinbartes Misstrauensvotum im September 1972 möglich gemacht wurden. Als Termin wurde der 19. November 1972 festgelegt.
Bis zum Wahltermin und möglichst weit darüber hinaus sollte – so die Planungen der SPD-Zentrale – das wirklich überwältigende Engagement so vieler Menschen, die sich sonst nicht besonders um Politik kümmerten, weil sie nicht viel von ihr erwarten konnten, gerettet werden.
Das ist gelungen. Dabei geholfen hat die schon im April bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg erkennbare Kampagne des Großen Geldes für die CDU/CSU. Wir nannten das den „Klassenkampf von oben“, der dann im Bundestagswahlkampf von August bis November 1972 massiv mit Anzeigen und anderen Werbemitteln geführt wurde. Diese Kampagne ist in diesem Buch von rororo-aktuell dokumentiert:
Willy Brandt hatte erkannt, dass sich eine politische Kraft wie die SPD einen solch massiven Angriff finanziell gut ausgestatteter und meist anonym bleibender Kräfte nicht bieten lassen darf, wenn sie sich einen Rest von Selbstachtung erhalten will. Mit dieser selbstverständlichen Einsicht war er allerdings ziemlich allein. Aber die Unterstützung durch die vom konstruktiven Misstrauensvotum aufgeweckten Menschen reichte, um mit 91,1 Prozent zugleich die höchste Wahlbeteiligung als auch mit 45,8 Prozent das beste Ergebnis für die SPD zu erzielen.
Auf diese Umstände und Zusammenhänge weise ich hin, weil sie weder in der Betrachtung unserer Medien – damals und heute – noch in den Betrachtungen der meisten Historiker eine Rolle spielen. Ereignisse und Bewegungen, die sich im Milieu der Lohnabhängigen und anderen Teilen der Mehrheitsgesellschaft abspielen, sind offensichtlich historisch wenig interessant. So denkt man wohl. Weil das so ist, weil die Meinung der großen Mehrheit und ihr großes politisches Interesse in den üblichen Betrachtungen keine große Rolle spielen, werde ich auf den NachDenkSeiten in den nächsten Monaten bis zum 50-jährigen Jubiläum des Wahltermins am 19. November 1972 des Öfteren auf die politischen Ereignisse und Debatten jener Zeit zurückkommen.
Mit dem Scheitern des konstruktiven Misstrauensvotums vom 27. April 1972 war auch die Friedenspolitik und gesellschaftspolitische Reformpolitik des damaligen Bundeskanzlers Brandt gerettet worden. Diese zu retten, war in der Tat das Motiv vieler Menschen, die sich damals und dann im weiteren Verlauf des Jahres 1972 politisch bewegt haben – andere Menschen in Gespräche verwickelten, Aufkleber auf ihre Autos und Schultaschen klebten, Buttons trugen. Die Alten wollten nie wieder Krieg. Und wir Jungen folgten ihnen.
Wir wollten auch mehr soziale Gerechtigkeit, gerechtere Steuern, einen Ausbau der sozialen Sicherheit. Und wir Jüngeren wollten mit Umweltschutz anfangen – übrigens in enger Zusammenarbeit mit Gewerkschaften. Auch das ist heute vergessen: Wenige Tage vor dem konstruktiven Misstrauensvotum hatte die IG Metall auf Initiative ihres Vorsitzenden Otto Brenner in Oberhausen eine große Konferenz abgehalten. Ich zitiere aus einer Veröffentlichung der Otto Brenner Stiftung: „Die visionäre Tagung „Aufgabe Zukunft: Qualität des Lebens“ wird Otto Brenners frühes Vermächtnis. Auf Einladung der IG Metall kommen vom 12. bis 14. April 1972 mehr als 1.300 Gäste aus Politik, Gewerkschaften und vor allem aus der Wissenschaft nach Oberhausen.“ Das Thema wurde auch eines der großen Themen des SPD-Programms für die Wahl von 1972.
Auch darauf weise ich hin, weil in den Darstellungen der Medien und Historiker diese damaligen Akzente und Fortschritte nahezu vergessen werden. Es war die Friedenspolitik, die viele Menschen bewegte. Aber es war sie nicht alleine.
Das konstruktive Misstrauensvotum vom 27. April 1972 hat all dies ins Bewusstsein gehoben und zu der fortschrittlich geprägten großen politischen Stimmung geführt. Es war ein historisch bedeutsames Ereignis.
Hier noch der Hinweis auf ein interessantes Buch zum 27. April 1972:
Der mit Intrigen und Geheimnissen verwobenen Geschichte geht der Journalist Hartmut Palmer in seinem Buch „Verrat am Rhein“ nach.
Es ist eine Mischung aus Darstellung der Sachverhalte durch einen kundigen Journalisten, der für den Kölner Stadtanzeiger, die Süddeutsche, für den Spiegel und für Cicero gearbeitet hat, und einer romanhaften Beschreibung der Intrigen. Sie spielen in der Bundesrepublik Deutschland (West) und in der DDR.
Ein lesenswertes Buch, für Kenner der Bonner Szene sowieso. Näheres siehe hier.