Zehn Tage nach der Flutkatastrophe im Ahrtal machte die damalige rheinland-pfälzische Umweltministerin Anne Spiegel erst einmal Urlaub. Vier Wochen Frankreich standen an. Dort wollte sie sich samt Familie erst einmal erholen. Die Krankheit ihres Mannes und die Corona-Maßnahmen waren eine „wahnsinnige Herausforderung“, so Spiegel. Dafür muss man menschliches Verständnis haben. Doch muss man auch dafür Verständnis haben, dass sie wenige Wochen später die auch nicht gerade als Halbtagsstelle mit perfekter Work-Life-Balance bekannte Stelle einer Bundesministerin übernommen hat? Oder zeigt sich hier ein Phänomen, das auch bei anderen Grünen-Politikern bekannt ist – dass man sich selbst über- und das Amt und dessen Bedeutung für die Allgemeinheit unterschätzt? Von Jens Berger.
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Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich habe größte Hochachtung vor Menschen, die ihre Karriere hintanstellen, um mehr Zeit und Energie für sich selbst und ihre Familie zu haben. Auch für mich wäre ein – natürlich rein hypothetisches – politisches Amt, das mehr als 80 Stunden Wochenarbeitszeit und jede Menge Stress mit sich bringt, keine erstrebenswerte Sache. Dafür ist mir meine Freizeit und meine Familie viel zu wertvoll. Viele unserer Mitbürger haben den Luxus jedoch nicht, dies frei zu entscheiden. Gerade im Niedriglohnsektor sind viele Menschen gezwungen – gerade, wenn sie dazu noch alleinerziehend sind – physisch wie psychisch an ihre Grenzen zu gehen und diese zu überschreiten, um ihrer Familie ein Leben jenseits der absoluten Armutsgrenze zu ermöglichen. Für diese Menschen ist bereits der Begriff „Work-Life-Balance“ ein Hohn. Wenn dann noch Schicksalsschläge wie eine Krankheit oder die von Millionen Eltern als blanker Horror empfundenen Corona-Maßnahmen hinzukommen, entstehen schnell Lebenskrisen und nur sehr wenige haben das Privileg, diesen Krisen mit einem vierwöchigen Frankreich-Urlaub zu entfliehen.
Aufgabe der Politik wäre es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die solche Krisen verhindern. Insbesondere das Familienministerium, das Anne Spiegel nun leitet, steht hier in einer Bringschuld. Ist es da nicht paradox, dass ausgerechnet eine Politikerin dieses Amt bekleidet, die für sich selbst den Luxus in Anspruch nimmt, beruflich mal Fünfe gerade sein zu lassen, wenn es hart auf hart kommt?
Es sei Frau Spiegel von Herzen gegönnt, dass sie offenbar beruflich und finanziell in einer derart privilegierten Lage ist. Wer ein öffentliches Amt bekleidet, steht jedoch allen voran nicht sich selbst, sondern der Öffentlichkeit in Verantwortung. Und so hart es klingt: Wer trotzt krankheitsbedingter Schicksalsschläge in der Familie und der Last der Coronamaßnahmen für die Kinder ansetzt, in Sachen Karriere richtig durchzustarten, leidet vor allem an Selbstüberschätzung. Anne Spiegel übernahm – trotz Krankheit ihres Mannes und Coronamaßnahmen – im Frühjahr 2021 zusätzlich zum Amt der Landesfamilienministerin das Amt der Landesumweltministerin und ließ sich auch noch als Spitzenkandidatin für die im März 2021 abgehaltenen Landtagswahlen nominieren. Das würde wohl jeden überfordern; auch ganz ohne private Belastungen. Dass man danach ausgebrannt ist, ist menschlich ebenso verständlich.
Doch wie sieht es mit ihrer professionellen Verantwortung aus? Hätten Sie Verständnis für einen überarbeiteten Chirurgen, der einen „Kunstfehler“ begeht, an dem Ihre Liebste oder Ihr Liebster stirbt? Auch Minister haben ein hohes Maß an Verantwortung. Vor dieser Verantwortung ist Anne Spiegel geflohen.
Fehler können passieren, doch dann sollte man auch die Verantwortung daraus ziehen. Ein Bundesministerium zu übernehmen, ist jedoch ganz sicher nicht die richtige Antwort darauf und zeigt letztlich nur, wie sehr Grünen-Politiker wie Anne Spiegel sich selbst über- und die Verantwortung höchster öffentlicher Ämter für die Allgemeinheit unterschätzen. Nun macht Anne Spiegel als Familienministerin Politik für diejenigen, die nicht so privilegiert sind wie sie; die nicht in Lebenskrisen beruflich alles stehen und liegen lassen können, um erst einmal vier Wochen in Frankreich neue Kraft zu tanken. Das ist ein Hohn für all die Alleinerziehenden und prekär Beschäftigten, die nicht so privilegiert wie Frau Spiegel sind.
Gerhard Schröder hat in seiner ganzen chauvinistischen Borniertheit das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mal als „Ministerium für Familie und das anderes Gedöns“ bezeichnet. Fragt sich, ob Anne Spiegel dieses Amt ernster nimmt als der Altkanzler.
Titelbild: © Bundesregierung / Kugler