In Südkorea übernimmt im Mai mit Yoon Suk-Yeol ein neuer Präsident die Amtsgeschäfte im Blauen Haus, dem Seouler Regierungssitz des Staatsoberhauptes. Nach dem Ausscheiden des noch amtierenden Präsidenten Moon Jae-In droht der innerkoreanische Dialog wieder aus den Fugen zu geraten. Immerhin war es Moon, der sich persönlich mehrfach mit Nordkoreas Staatschef Kim Jong-Un im Jahre 2018 traf und mitverantwortlich dafür war, dass im Sommer desselben Jahres das historische Gipfeltreffen mit dem damaligen US-amerikanischen Machthaber Donald Trump in Singapur stattfand. Dieser Silberstreif am politischen Horizont wird sich unter Yoon und im Schatten des Krieges in der Ukraine schon sehr bald verdüstern. Ein Kommentar von Rainer Werning.
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Eines muss man Kim Jong-Un, dem Staatschef der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK – Nordkorea) und Vorsitzenden des Komitees für Staatsangelegenheiten, lassen: Er hat es tatsächlich geschafft, nach Jahren internationaler Anfeindung als „Raketenmann“ (so der frühere US-Machthaber Donald Trump im Sommer 2017 über Kim) nicht länger als der weltweit am meisten geächtete ideelle Gesamtschurke zu gelten. Spätestens seit dem am 24. Februar entfesselten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist diese schmachvolle Rolle nunmehr Russlands Präsident Wladimir Putin zugefallen. Was aber keineswegs bedeutet, dass schrille martialische Töne auf der Koreanischen Halbinsel nunmehr verstummt sind.
Ganz im Gegenteil: Am 3. April kritisierte Nordkorea die Republik Korea (ROK – Südkorea) in scharfer Manier, nachdem der südkoreanische Verteidigungsminister Suh Wook zwei Tage zuvor gesagt hatte, Seoul sei in der Lage, „präzise und schnell“ Präventivschläge gegen „jedes Ziel“ im Norden zu führen. Suhs Äußerungen erfolgten, nachdem Pjöngjang seit Jahresbeginn mehrere Raketentests durchgeführt und laut südkoreanischen Angaben erneut eine ballistische Interkontinentalrakete (ICBM) getestet hatte. Während westliche Regierungen und Medien behaupteten, der Test verstoße gegen ein Moratorium für Raketentests, hatte Pjöngjang vor mehr als zwei Jahren ein Ende dieser sich zeitweilig selbst auferlegten Politik angekündigt.
„Tut Buße, wenn ihr keine Katastrophe erleben wollt”
Kim Yo-Jong, die Schwester des nordkoreanischen Staatschefs, einflussreiche Persönlichkeit im Politbüro und stellvertretende Abteilungsleiterin des Zentralkomitees der herrschenden Partei der Arbeit Koreas (PdAK), erklärte am 3. April, Seoul müsse mit ernsthaften Konsequenzen rechnen, wenn es militärische Schritte gegen den Norden unternehme. Sie warf dem Süden vor, den Norden durch eine extreme Sprache zu provozieren und seine Bereitschaft zu bekunden, das Regime herauszufordern. Die nordkoreanische staatliche Nachrichtenagentur KCNA zitierte Frau Kim des Weiteren mit den Worten:
„Ich werde den Süden mit der mir verliehenen Macht ernsthaft warnen. (…) Tut Buße, wenn ihr keine Katastrophe erleben wollt.“
Der ICBM-Start Nordkoreas Ende März war der erste seit November 2017, wobei unter Experten umstritten ist, ob es sich dabei, wie Pjöngjang behauptet, um den Einsatz der neuesten Hwasong-17 ICBM oder um deren ältere Variante vom Typ Hwasong-15 handelte. Kim Jong-Un kommentierte den Start laut KCNA mit den Worten:
„Nur wenn man mit einer gewaltigen Schlagkraft und einer überwältigenden militärischen Macht ausgestattet ist, die von niemandem gestoppt werden kann, kann man einen Krieg verhindern, die Sicherheit des Landes garantieren und alle Bedrohungen und Erpressungen durch die Imperialisten eindämmen und unter Kontrolle bringen.“
Als unmittelbare Reaktion darauf unterzeichneten der Vorsitzende des US-amerikanischen Generalstabs, General Mark Milley, und sein südkoreanischer Kollege Won In-Choul am 31. März 2022 im Hauptquartier des US-Kommandos für den indopazifischen Raum auf Hawaii eine „strategische Planungsdirektive“, die ein bilateral eng abgestimmtes Abkommen über militärische Notfallpläne für den Fall weiterer Raketentests durch Nordkorea beinhaltet und intensivierte gemeinsame Militärübungen vorsieht. Auf diese Weise soll laut Berichten der südkoreanischen Nachrichtenagentur Yonhap der Prozess beschleunigt werden, die Einsatzpläne beider Verbündeter im Fall eines möglichen Einsatzes konventioneller und nuklearer Waffen durch Nordkorea auf den neuesten Stand zu bringen und zu konsolidieren.
Darüber hinaus wird Seoul künftig sein Waffenarsenal modernisieren und beträchtliche Summen für die Entwicklung von Drohnen und Laserwaffen aufwenden. Außerdem ist vorgesehen, zusätzliche Batterien des US-Raketenabwehrsystems Terminal High Altitude Area Defense (THAAD) aufzustellen. THAAD hat in den vergangenen Jahren nicht nur für scharfe innenpolitische Kontroversen gesorgt, sondern auch in hohem Maße das Verhältnis zur Volksrepublik China beeinflusst, mit der Seoul just vor drei Jahrzehnten diplomatische Beziehungen aufnahm.
Entschärft wurde dieser Streit dadurch, dass Präsident Moon Jae-In trotz heftiger Anfeindungen seitens des stockkonservativen Lagers an seiner „Drei-Nein“-Politik festhielt: Keine weiteren THAAD-Batterien zu akzeptieren, sich nicht in ein regionales Raketenabwehrsystem zu integrieren und aus dem trilateralen Bündnis mit den Vereinigten Staaten und Japan auszutreten.
Schmutzige Wahlen mit äußerst knappem Ergebnis
Der Krieg in der Ukraine ließ die am 9. März in Südkorea abgehaltene Präsidentschaftswahl ins mediale Hintertreffen geraten, deren Ausgang auch und gerade weitreichende Auswirkungen auf künftige Kräftekonstellationen in der Asien-Pazifik-Region hat.
Die diesjährige Wahl war die bis dato kontroverseste und von hässlichsten persönlichen Animositäten überschattete Präsidentschaftswahl mit überdies knappstem Ergebnis: Der Hardliner der konservativen People Power Party und ehemalige Generalstaatsanwalt, Yoon Suk-Yeol (61), ging aus ihr mit 48,6 Prozent aller Stimmen als Sieger hervor, während sein Gegenspieler, Lee Jae-Myung von der Gemeinsamen Demokratischen Partei, den Sieg um nur knapp 247.000 Stimmen verfehlte. Am 10. Mai tritt Yoon seine fünfjährige Amtszeit an.
Yoon profilierte sich im Wahlkampf mit einer Anti-Korruptions-Agenda und versprach, Eingriffe des Staates in die Wirtschaft zu reduzieren, Anreize für Unternehmen zu schaffen, die Rolle der Kernenergie zu stärken, den Bau von über zwei Millionen Wohnungen voranzutreiben und als strammer Antifeminist das Ministerium für Geschlechtergerechtigkeit und Familie abzuschaffen.
Außenpolitisch beabsichtigt Yoon einen Kurs der „Zwei Neins und ein Ja“. Womit konkret gemeint ist, dass er künftig vis-à-vis Nordkorea als auch zur VR China „Nein“ und gegenüber der „Schutzmacht“ USA ein „Ja“ bekunden wird. Was gleichzeitig ein engeres politisch-diplomatisches Verhältnis zu Tokio einschließt.
Kehrtwenden stehen bevor
In der US-amerikanischen Zeitschrift „Foreign Policy“ veröffentlichten die beiden Autoren Kuyoun Chung und Andrew Yeo am 7. März einen Beitrag mit dem bezeichnenden Titel „Südkorea will mitspielen, nicht zuschauen“. Chung, Assistenzprofessorin für Politikwissenschaften an der Kangwon National University in Südkorea, und Andrew Yeo, Vorsitzender der SK-Korea Foundation und Senior Fellow an der Brookings Institution sowie Professor für Politik an der Catholic University of America in Washington, D.C., entwerfen darin eine Abkehr von der unter Präsident Moon verfolgten Außenpolitik, indem sie konstatieren:
„Die südkoreanische Außenpolitik wird oft als eine Entscheidung zwischen gemeinsamen Werten und wirtschaftlichen Interessen beschrieben. In Südkorea wird diese Entscheidung oft so formuliert: ‚Die Vereinigten Staaten für die Sicherheit und China für die Wirtschaft‘. Diese Dichotomie ist in einer Welt, in der Sicherheit und Wirtschaft miteinander verflochten sind und in der sich Werte mit strategischen Prioritäten und wirtschaftlichen Realitäten überschneiden, weit weniger sinnvoll. Südkoreas diplomatische Haltung der strategischen Zweideutigkeit – seine Zurückhaltung bei der Parteinahme in Rivalitäten zwischen Großmächten – ist in einer Zeit zunehmender geopolitischer Rivalität zunehmend unhaltbar geworden.“
Des Weiteren kritisieren die Autoren:
„Die mangelnde Bereitschaft der Moon-Regierung, sich energischer gegen chinesische wirtschaftliche Nötigung, Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Hongkong und unrechtmäßige Souveränitätsansprüche im Südchinesischen Meer auszusprechen, hat den Anschein erweckt, dass Südkorea weiterhin eine ausgleichende Rolle in Nordostasien spielen will. Doch das ist ein Rezept für Irrelevanz: Ohne klare Werte wird die Außenpolitik Südkoreas begrenzt und wenig überzeugend bleiben.“
Nach Meinung der Autoren und offensichtlich auch gemäß den Vorstellungen des designierten Präsidenten Yoon wird künftig eine weitaus engere Zusammenarbeit auf allen Ebenen mit Washington angestrebt, wie das jüngst in deren formulierter Indo-Pazifik-Strategie zum Ausdruck kommt.
Eine solche starre Fixierung auf die USA bedeutet tatsächlich eine markante Kursänderung. Moon Jae-In hatte wenigstens versucht, den engen politischen Manövrierraum gegenüber der „Schutzmacht“ USA im Sinne eines unverkrampften innerkoreanischen Verhältnisses zu nutzen. Nicht wenig, bedenkt man, dass es bis heute – 69 Jahre nach dem Ende des Koreakrieges, des ersten „heißen“ militärischen Konflikts in der Ära des Kalten Krieges – noch immer keinen Friedensvertrag auf der Koreanischen Halbinsel gibt. Das lediglich seit Ende Juli 1953 geltende Waffenstillstandsabkommen (seinerzeit nicht einmal von Südkorea unterzeichnet!) dokumentiert, wie volatil die Lage in der weltweit höchstmilitarisierten Region ist und bleibt. Im Falle einer neuerlichen militärischen Konfrontation auf der Halbinsel wäre es ein US-amerikanischer Vier-Sterne-General (seit dem 2. Juli 2021 Paul J. LaCamera), der als Chef des sogenannten Combined Forces Command (CFC) auch die Oberhoheit über sämtliche südkoreanischen Streitkräfte ausübte.
Noch verfügt Südkorea über keine eigenen militärischen Aufklärungssatelliten und ist bei der Überwachung strategischer Einrichtungen in Nordkorea auf die Spionagesatelliten der USA angewiesen. Das könnte sich unter dem neuen Präsidenten Yoon ändern. Kürzlich erst führte Südkorea nach eigenen Angaben den ersten erfolgreichen Start einer Feststoffrakete durch, was als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Erlangung eigener Weltraumüberwachungsfähigkeiten gilt.
Entspannteres Verhältnis zu Tokio, wahrscheinliche Friktionen mit Beijing
China und Südkorea unterhalten seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor genau drei Jahrzehnten außerordentlich enge wirtschaftliche Beziehungen. Die Volksrepublik ist das mit Abstand wichtigste Zielland für koreanische Waren. Allein im vergangenen Jahr entfiel ein Viertel aller koreanischen Exporte auf China. Die Vereinigten Staaten lagen mit 15 Prozent weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch auf der Importseite Koreas wider. So vermochten trotz THAAD starke chinesisch-südkoreanische Handelsbeziehungen zu überdauern. Bleibt abzuwarten, wie die Reaktion Beijings im Falle einer von Seoul nunmehr avisierten Aufstockung von THAAD-Batterien ausfällt.
Was das südkoreanisch-japanische Verhältnis betrifft, wird sicherlich eine Entkrampfung stattfinden, nachdem es in den letzten Jahren u.a. wegen der Problematik ehemaliger Zwangsprostituierter (euphemistisch „comfort women“ genannt) der Kaiserlich-Japanischen Arme während des Zweiten Weltkriegs zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Seoul und Tokio gekommen war. Der zeitweilig dermaßen eskalierte, dass gegenseitige Boykottmaßnahmen ergriffen wurden.
Bereits zwei Tage nach seinem Wahlsieg telefonierte Yoon mit Japans Premierminister Kishida Fumio und versicherte ihm bei der Gelegenheit laut übereinstimmenden Medienberichten aus Tokio und Seoul:
„Korea und Japan haben in der Zukunft viele Herausforderungen zu bewältigen, wie z.B. Sicherheitsfragen in Nordostasien und wirtschaftlicher Wohlstand, daher sollten wir zusammenarbeiten, um die freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern zu fördern.“
Da Yoon die Präsidentschaftswahl mit nur knapper Mehrheit gewann und die Opposition immer noch das Parlament kontrolliert, dürften diese Avancen allerdings auf erheblichen innenpolitischen Widerstand stoßen.
Starrheit in Bewegungen
Was ist, was bleibt? Joe Bidens Nordkorea-Politik unterscheidet sich von derjenigen Trumps und ähnelt eher dem von Präsident Barack Obama verfolgten Kurs „strategischer Geduld“. Anstatt mit „Feuer und Zorn“ zu drohen, erklärte die Biden-Regierung wiederholt, sie sei „zu einem Treffen ohne Vorbedingungen bereit“ und hege „keine feindlichen Absichten gegenüber der DVRK“. Dennoch beharrt Washington auf einer verifizierbaren und vollständigen Denuklearisierung Nordkoreas, ohne im Gegenzug konkrete Lockerungen von Sanktionen in Aussicht zu stellen. Letztlich eine Politik, die wie in der Vergangenheit auch im ersten Jahr von Bidens Präsidentschaft keinerlei Ergebnisse brachte.
So ist es sehr wohl möglich, dass Pjöngjang anlässlich des 110. Geburtstags des Staatsgründers und „ewigen Präsidenten“ Kim Il-Sung am 15. April und des Gründungstages der Nordkoreanischen Revolutionären Volksarmee am 25. April aufs Neue „starke Signale“ aussendet, um so die neue südkoreanische Regierung, die am 10. Mai ins Amt eingeführt wird, sowie die Biden-Administration vor den Zwischenwahlen im November in Zugzwang zu versetzen.
Dr. Rainer Werning ist u.a. Ko-Autor dieser beiden Korea-Bücher: Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land & Brennpunkt Nordkorea
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