Am vergangenen 6. März landete eine Gruppe hochrangiger US-Beamter überraschender-, aber angekündigterweise auf dem internationalen Flughafen von Caracas. Zur Delegation zählten Roger Carstens (Sonderemissär des Weißen Hauses für Geiselangelegenheiten), Juan González (Bereichsleiter des Nationalen Sicherheitsrates für Angelegenheiten der westlichen Hemisphäre) und Jimmy Story, US-Botschafter für Venezuela. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
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Einen Besuch, selbst auf Referenten-Ebene, hatte es seit Anfang 2019, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen Venezuelas zu den USA, nicht mehr gegeben. Der Anlass für das Gesprächs-Ersuchen sei nach Auskunft der US-Mission der anhaltende russische Überfall auf die Ukraine und die darauf von der Regierung Joe Biden verhängten Wirtschafts- und Finanzsanktionen gewesen. Mit ihrem Entschluss, die Einfuhr von russischem Rohöl und Derivaten zu beenden – die nach unterschiedlichen Angaben höchstens 8 Prozent ihres gesamten Ölimportes und weniger als 2 Prozent des Angebots auf dem Binnenmarkt ausmachen – habe die Regierung Joe Biden ihre „Energie-Sicherheit“ als Imperativ ausgerufen und erhoffe sich die Deckung des Russland-Embargos mit venezolanischen Ersatz-Lieferungen, so die US-Beamten.
Die nordamerikanische Initiative wurde mehrfach als Ironie des Schicksals bezeichnet, erkennt die US-Administration doch seit 2019 den selbsternannten „Präsidenten“, indes zur politischen Bedeutungslosigkeit verkommenen Oppositions-Politiker Juan Guaidó als „Staatschef“ Venezuelas an. Nun musste sie sich der politischen Realität beugen und Verhandlungen mit der von ihr weltweit brüskierten, kriminalisierten und mit Dutzenden von Sanktionen bestraften Regierung Nicolás Maduro aufnehmen.
Allerdings scheint mit dem US-Blitzbesuch in Caracas nur die Hälfte der ganzen Geschichte erzählt. Allen Anzeichen nach waren der Express-Visite politische Signale der Regierung Nicolás Maduro an die US-Märkte vorausgegangen. Nach Auskunft des bankennahen Wall Street Journals habe Venezuela sich zuvor mit der Bitte an einflussreiche Investoren am Geldmarkt gerichtet, ihren Einfluss auf das Weiße Haus zur Linderung der Sanktionen geltend zu machen. Der seit Jahren in Venezuela operierende US-Ölkonzern Chevron bestärkte im Handumdrehen den Appell an die US-Regierung mit dem Angebot, seine brachliegenden Förderkapazitäten in dem karibischen Land sofort wieder aufzunehmen.
Energischer UN-Bericht: Sanktionen verstoßen gegen internationales Recht und vernichten elementare Menschenrechte
Im September 2021 hatte sich das Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen bereits mit einem umfassenden Bericht über die katastrophalen sozialen Auswirkungen und mit einer energischen Ablehnung der US- und EU-Sanktionen gegen Venezuela zu Wort gemeldet.
Nach einem zweiwöchigen Untersuchungs-Aufenthalt in Venezuela trug die belarussische UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan ihre Schlussfolgerungen auf der 48. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates vor und alarmierte, dass die umfassenden Sanktionen verheerende Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der gesamten Bevölkerung gehabt haben. So sei die andauernde wirtschaftliche und soziale Krise durch die Verhängung von „sektorbedingten Sanktionen gegen die Öl-, Gold- und Bergbauindustrie“ sowie „die Wirtschaftsblockade und das Einfrieren von Vermögenswerten der Zentralbank“ verschärft worden. Infolgedessen erlitten die hauptsächlich aus dem Ölexport erzielten Einnahmen einen Absturz und wirkten sich drastisch auf die öffentlichen Systeme für Strom, Gas, Wasser, Verkehr, Telefonverbindungen und Kommunikation, auf Schul- und Gesundheitssystem sowie auf andere öffentliche Einrichtungen aus.
Douhan kritisierte, dass die Androhung von extraterritorialen und sekundären Sanktionen zu einer „übertriebenen Einhaltung durch Banken und Unternehmen in Drittländern“ geführt und die negativen Auswirkungen von primären Sanktionen verstärkt habe; ein Zustand, in dem dann „humanitäre Ausnahmeregelungen unwirksam und unzureichend zu sein scheinen“, um die Krise zu lindern. Die belarussische UN-Sonderberichterstatterin unterstrich, dass die einseitigen Sanktionen gegen Venezuela politisch motiviert sind, die grundlegendsten Menschenrechte untergraben und gegen das internationale Recht verstoßen. Sie forderte energisch die USA und ihre Verbündeten dazu auf, alle Zwangsmaßnahmen auszusetzen.
Douhans Warnung und Appell sind selbstverständlich der US-Regierung bekannt. Die Frage ist wohl, ob ihr das venezolanische Öl mehr am Herzen liegt als die elementare Moral, Sanktionen nicht als Waffe gegen unbewaffnete Hungernde einzusetzen.
Die US-Austausch-Agenda
Eine Zusage Venezuelas für die erwünschten Öllieferungen möchten die USA mit einer offiziellen Lockerung der von der Donald-Trump-Administration erlassenen drakonischen Sanktionen gegen venezolanische Ölexporte honorieren. Diese werden seit 2021 von der Joe-Biden-Regierung zwar teilweise inoffiziell geduldet und trugen zu einer leichten Verbesserung der venezolanischen Wirtschaftsindikatoren bei. Die offiziellen Lockerungen will die US-Regierung jedoch mit einer innenpolitischen Agenda in Venezuela koppeln. Wie Geoff Ramsey, Geschäftsführer der Menschenrechts-Organisation Washington Office on Latin America (WOLA), erfahren haben will, stand das Weiße Haus seit geraumer Zeit unter politischem Druck von Unterhändlern der venezolanischen Opposition. Diese forderten die Administration Joe Biden dazu auf, die Regierung Nicolás Maduro zur Wiederaufnahme der im Oktober 2021 unterbrochenen Verhandlungen mit der konservativen Opposition in Mexiko-Stadt zu drängen. Verblüffte venezolanische Oppositionsführer erklärten jedoch gegenüber der Washington Post, sie hatten keine Kenntnis vom Besuch der US-Delegation gehabt, was darauf hindeutet, dass die US-Regierung zum Auftakt direkte Gespräche mit der Regierung Venezuelas ohne Mitwirkung der Opposition bevorzugte.
Umgekehrte Verblüffung auch unter Politikern und Beobachtern wegen der Zugänglichkeit der venezolanischen Regierung. Präsident Maduro ordnete zum Beispiel die sofortige Freilassung von zwei in Venezuela inhaftierten US-Bürgern an: zum einen des ehemaligen leitenden Angestellten des von den USA enteigneten venezolanischen Treibstoff-Unternehmens Citgo, Gustavo Adolfo Cárdenas; zum anderen des US-Söldners kubanischen Ursprungs, José Alberto Fernández, der im Rahmen des 2019 vom venezolanischen Militär zerriebenen „Unternehmens Gideon“ zum bewaffneten Sturz der Regierung Nicolás Maduro verhaftet wurde. Allerdings wurde Washingtons Wunsch zur Freilassung weiterer sechs Citgo-Inhaftierter sowie der drei führend in „Unternehmen Gideon“ involvierten und verhafteten ehemaligen Green Berets – Luke Denman, Airan Berry und Matthew Heath – abgeschlagen. Die als „Citgo-6“ bekannte Managergruppe wird beschuldigt, Venezuela einen Schaden von rund 4 Milliarden US-Dollar in den USA beschert zu haben, während die US-Söldner nach eigenen Aussagen den Auftrag hatten, Nicolás Maduro zu entführen und illegal in die USA auszufliegen.
Dennoch gab sich der venezolanische Staatschef außerordentlich konziliant. Ja, mit überschwänglichen Worten beschrieb er die Begegnung mit der US-Delegation in einer Ansprache im staatlichen Fernsehen:
„Letzten Samstag traf eine Delegation aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika in Venezuela ein. Ich habe sie hier im Präsidentenpalast empfangen. Wir hatten ein Treffen, das ich als respektvoll, herzlich und sehr diplomatisch beschreiben könnte. Wir hatten ein Treffen im Büro des Präsidenten, da waren die Flaggen der USA und Venezuelas und sie waren wunderschön. Vereint, wie sie es sein sollten.“
US-Beamte sinnierten indes, die Regierung Joe Biden werde den weltweit umstrittenen Juan Guaidó weiterhin als „rechtmäßigen Führer Venezuelas“ anerkennen, in einem Interview mit America’s Quarterly erklärte Juan González wiederum, man konzentriere sich auf Verhandlungen anstatt auf Umsturzpläne gegen Maduro. Wortwörtlich: „Während die Theorie des Wandels der vorherigen Regierung auf dem Zusammenbruch des Regimes basierte, ist unsere Theorie … dass nur eine Verhandlung zu einem konkreten und nachhaltigen Wandel in Venezuela in Richtung einer demokratischen Ordnung führen wird.“
Russisches Intermezzo
Eine weitere interessante Pointe war, dass das US-amerikanisch-venezolanische Treffen nur wenige Tage nach einem längeren Telefongespräch Maduros mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin stattfand, in dem der Erstgenannte Letzterem „starke Unterstützung“ für den Feldzug gegen die Ukraine mit der Übernahme des anti-nazistischen Narrativs als Überfall-Motiv versprach. Doch die Solidaritäts-Zusicherung war längst nicht der Hauptgrund des Anrufes Maduros im Kreml gewesen. Vielmehr sei das politische Umfeld der venezolanischen Regierung von einer gewissen „Panik“ erfasst gewesen, so die spanische Tageszeitung ABC, weil Wladimir Putin den Chavistas wegen den gegen Russland verhängten Sanktionen keine Garantien für das in russischen Banken deponierte venezolanische Gold und Geldvermögen geben könne.
Hintergrund der Befürchtungen in Caracas ist der Umstand, dass die venezolanische Regierung zur Umgehung von US- und EU-Sanktionen das europäische Büro des staatlichen Ölkonzerns PDVSA im März 2019 von Lissabon nach Moskau verlegt hat und für ihre Öl-, Gold-, Mineral- und Metall-Exporte Konten auf russischen Banken einrichtete. Doch nicht nur PDVSA, sondern angeblich auch 23 sanktionierte Generäle, Bürgermeister, Abgeordnete und Minister der Maduro-Regierung.
Mit den Sanktionen gegen Russland sähe sich Venezuela also einer Doppel-Sanktionierung gegenüber. Ein Grund, weshalb bereits 2019 die russische Gazprom-Bank zur Risiko-Minderung von Sanktionen beschloss, die Konten der venezolanischen PDVSA einzufrieren und die Zusammenarbeit mit der Firma einzustellen, was PDVSA dementierte, doch das Dementi blieb im Raum stehen. Wenn jedoch die venezolanischen Einlagen auf russischen Banken Euro und Dollar in Milliarden-Höhe summieren, wie mehrfach behauptet wird, war wiederum Nicolás Maduros Bitte an Wladimir Putin unverständlich, er möge Venezuela 40 Millionen US-Dollar zur Begleichung von Jahre alten UNO-Mitgliedschafts-Schulden leihen. Auch diesen Wunsch musste Präsident Putin abschlagen, in Moskau, so gab er zu verstehen, wird seit dem Inkrafttreten der Russland-Sanktionen jeder Cent zweimal umgedreht.
Die venezolanisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen konzentrieren sich seit nahezu zehn Jahren auf Ölförderung, Weizenexporte und russische Kreditvergaben. Diese summierten sich 2017 auf annähernd 3,15 Milliarden US-Dollar, mit einer Rückzahlungsfrist von 10 Jahren, wovon Venezuela zirka die Hälfte pünktlich zurückbezahlt hat. Rosneft, Russlands staatlicher größter Ölproduzent, ist in Venezuela unter dem Firmennamen Roszarubezhneft tätig und war bisher mit der Kreditvergabe von zurückbezahlten 7 Milliarden US-Dollar an PDVSA Venezuelas größter russischer Gläubiger. Rosneft hält eine 49,9-prozentige Beteiligung an der PDVSA-eigenen Raffinerie Citgo in den USA, wofür der Konzern 2016 ein Darlehen in Höhe von etwa 1,5 Milliarden US-Dollar vergab, jedoch unwillentlich in die umstrittene Citgo-Enteignung durch die Administration Donald Trump hineingezogen wurde. Derzeit hält Roszarubezhneft 40 Prozent Anteile an fünf Joint Ventures mit PDVSA. Zusammen gelang ihnen 2021 die durchschnittliche Tagesförderung von rund 120.000 Barrel Rohöl; eine Summe, die jedoch kaum an 30 Prozent der venezolanischen Tages-Förderungskapazität vor den US-amerikanischen PDVSA-Export-Sanktionen (3,5 Millionen Tages-Barrel) heranreicht, die die venezolanische Ölindustrie ruinierte.
Nach Absturz ein Wiederaufstieg der venezolanischen Ölförderung?
Die russische Öl-Lücke in den USA zu bedienen, beeilt sich inzwischen der US-Big-Oil-Konzern Chevron. Verschiedene US-Medien wollen herausbekommen haben, dass Chevron-Vertreter Gespräche mit der Regierung Biden mit dem Ziel geführt hätten, die gegen Venezuela verhängten Sanktionen aufzuheben und die Genehmigung zur Verdopplung seiner Produktion in Venezuela auf 800.000 Barrel/Tag zu erteilen.
In der Beurteilung von José Gonzales, Sprecher der venezolanischen Beratungsfirma GCG Advisors, bestehe der erste Vorteil darin, dass Chevron Venezuela nie wirklich verlassen habe. „Chevron betreibt Petroboscan, ein hochproduktives Mega-Ölfeld. Sie haben die Produktion aufgrund der (Trump-)Sanktionen von 2017 gegen Venezuela und der Export-Beschränkungen für venezolanisches Öl eingestellt. Chevron hat sich im Grunde genommen dem Erhalt dessen verschrieben, was es ohnehin besitzt. Wenn bestimmte Lizenzen geändert und eine relativ vernünftige Investition getätigt werden, kann Venezuela ohne Probleme und in wenigen Monaten von der gegenwärtigen Förderung von 600.000 bis 700.000 Tages-Barrel auf 1,3 oder gar 1,4 Millionen Tages-Barrel übergehen. Chevron kann das, weil es Venezuela nicht vollständig verlassen hat, die Kapazitäten besitzt und außerdem den Markt kennt“, erklärt Gonzales zuversichtlich.
Doch das venezolanische Öl hat es in sich. Nämlich etwas, was andere Länder nicht bieten können: Es handelt sich zumeist um das weltweit begehrteste, schwere Rohöl.
Moral der Geschicht‘: Die Geschichte, insbesondere die sie formenden Kriege, kennen keine Moral.
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