Sebastian Chwala ist promovierter Philosoph und Politikwissenschaftler aus Marburg, seine Dissertation über die radikale Rechte in Frankreich erscheint im Herbst 2022. Der Frankreichexperte Chwala beobachtet, dass die Erzählung vom bereits feststehenden Wahlsieg Macrons vor allen Dingen ein Produkt der Medienberichterstattung sei. Das könne einen nicht wundern, wenn man bedenkt, dass die Medien unter der Kontrolle weniger Großeigentümer sind, die in der Regel hinter Macron stehen, da sie von seiner Politik profitierten. Alle Umfragen sagten, so Chwala, dass ein Großteil der Wähler am 10. und 23. April Macron unbedingt verhindern wollten. Auch wollten mehr als zwei Drittel der Wähler am Ende nicht nur die Wahl zwischen Le Pen und Macron. Somit zeige sich ein nach wie vor großes Potential für einen politischen Aufbruch. Wie also ist die Situation in Frankreich, Herr Chwala? Die NachDenkSeiten haben mit ihm ein Interview geführt. Von Frank Blenz.
Die erste Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich steht an, zwölf Kandidatinnen und Kandidaten stehen zur Wahl. Wer hat warum die größten Chancen, einer der zwei Teilnehmer der Stichwahl zu werden, und was muss aus Sicht des überaus aktiven Mélenchon geschehen, dass es eben nicht zum Duell Macron versus Le Pen kommt?
Ursprünglich sah es lange Monate danach aus, dass der amtierende Staatspräsident Macron nur ernsthafte Konkurrenz aus dem rechten Lager bekommen würde. Da ist einerseits natürlich Marine Le Pen zu nennen, darüber hinaus Valérie Pécresse von der postgaullistischen Partei „Die Republikaner“ und der Journalist Éric Zemmour. Besonders Letzterer hatte über Monate gute Chancen, in die Stichwahlen einzuziehen. Der offen rassistisch argumentierende Zemmour ist vielen Französinnen und Franzosen vor allem über das Fernsehen bekannt geworden, wo er auf den Kanälen des ultrarechten Medienmoguls Bolloré gegen die degenerierte und viel zu liberale französische Republik Stimmung machte. Da sein Wahlprogramm ganz offen wirtschaftsliberal ist und er weitere Kürzungen bei sozialstaatlichen Leistungen fordert, begrenzt sich seine Unterstützung allerdings auf konservative, großbürgerliche Milieus. Lagen seine Umfragewerte lange deutlich im zweistelligen Bereich, sinken sie jetzt teils deutlich ab. Denn Zemmour konkurriert hier inzwischen mit der programmatisch fast deckungsgleichen Pécresse, die zwar Regionalpräsidentin der Hauptstadtregion Île-de-France ist, der allerdings das Charisma eines Zemmours fehlt, weshalb sich das Wählermilieu aufspalten wird und beide sich gegenseitig Stimmen wegnehmen werden, was die Chancen am 10. April (erster Wahlgang) deutlich reduzieren dürfte.
Marine Le Pen dagegen ist deutlich besser positioniert, denn sie erreicht im Gegensatz zum rechten bürgerlich-akademischen Milieu tendenziell eher Arbeiterinnen und Arbeiter, da sie ihre fremdenfeindliche Argumentation „sozial“ zu untermauern versucht. Die unsichere ökonomische Lage und die mangelnde Reichweite sozialstaatlicher Sicherungssysteme werden auf diese Weise zwar thematisiert, sollen allerdings nur die konsequente Ausgrenzung „nicht-weißer“ Menschen kompensieren. So schafft es Le Pen, die Illusion zu verbreiten, dass durch eine restriktive Politik gegenüber Zuwanderung, aber auch gegen bereits im Land lebende Menschen mit Migrationserfahrung 50 Milliarden Euro eingespart werden könnten, denn schließlich „erschlichen“ sich Menschen mit Migrationserfahrung ganz grundsätzlich jede Art sozialer soziale Leistungen.
Demzufolge plädiert auch Le Pen nicht für höhere Vermögenssteuern oder höhere Mindestlöhne, sondern für eine weitere Entlastung der Unternehmen durch die Senkung der Lohnnebenkosten sowie für niedrigere Erbschaftssteuern. Auch eine Festschreibung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre ist mit ihr nicht zu machen. Schuld bleibt in erster Linie die Migration, welche das gerechte Funktionieren des französischen Kapitalismus stört. Mit dieser Argumentation erreicht sie auch sozial wenig integrierte und von gesellschaftlichen Abstiegsprozessen betroffene Gruppen, allerdings auch Milieus, deren sozialer Aufstieg ins Stocken gekommen ist und die, anders als Macron, keine Anhänger einer vollständig neoliberalen Gesellschaftsordnung sind, weil sie die politische Rolle der Eliten und ihre zu Unrecht wahrgenommenen Privilegien kritisieren, hingegen auch eine Umverteilungspolitik zugunsten prekärer Gruppen als Stärkung einer Mitnahme-Mentalität der Unterklassen kritisieren.
Jean-Luc Mélenchon sah lange Zeit relativ chancenlos aus. Nach dem Wahlerfolg von „La France insoumise“ bei den Präsidentschaftswahlen 2017 (19,5 Prozent), welche als Bewegung ohne feste parteipolitische Strukturen organisiert war, reihte sich Enttäuschung an Enttäuschung. Erst konnte nur mit Mühe und Not bei den Parlamentswahlen 2017 der Fraktionsstatus erreicht werden, dann gelang es trotz großen Aufwandes nicht, selbst bei Nachwahlen in politisch gewogenen Wahlkreisen Siege zu erringen. Auch die Europa-, Regional- und Départementalswahlen lieferten Ergebnisse, die unter den Erwartungen lagen. Dagegen trumpften die französischen Grünen als stärkste Partei unter einst LFI-affinen Wählern auf. Zudem wurde Kritik an den internen Strukturen von LFI laut. Die mangelnde Formalisierung der Bewegung ließ immer wieder den Vorwurf laut werden, programmatische Entscheidungen würden allein im innersten Führungskreis um Mélenchon getroffen und eine wirkliche Debatte sei nicht möglich. Zudem entwickelte sich die Parlamentsfraktion zu einem nicht legitimierten Zentrum der Bewegung. Dies änderte allerdings nichts daran, dass zwar wichtige Köpfe aus der zweiten Reihe ihre aktive Unterstützung einstellten, ein erweiterter harter Kern an der Basis aber immer aktiv blieb.
Nachdem sichtbar wurde, dass eine Einigung auf eine gemeinsame Kandidatur mit der Kommunistischen Partei, wie es sie 2012 und 2017 gegeben hatte, aufgrund unterschiedlicher strategischer Erwartungshaltungen und persönlicher Dissonanzen nicht zustande kommen würde, versuchten Mélenchon und LFI nun selbst diese Einigung der Linkskräfte als Projekt an den Apparaten vorbei „von unten“ herzustellen. Dieser Schritt ist bemerkenswert, hatte sich LFI doch in den Jahren nach 2017 immer als neue Alternative zur französischen Linken darzustellen versucht, welche als führende progressive Kraft an deren Stelle zu treten versuchte. Für diesen aktuellen Wahlkampf allerdings versuchte LFI durch die Gründung eines Parlaments einen Raum zu schaffen, in welchem an einer linken Alternative zu Macron interessierte zivilgesellschaftliche Akteure (Bürger, Wissenschaftler, Experten) gemeinsam über alternative Konzepte diskutieren können, ohne sich politisch innerhalb von „La France insoumise“ organisieren zu müssen. Dieses Parlament soll gleichzeitig ein Fingerzeig an die politische Öffentlichkeit sein, dass eine Öffnung zur Gesellschaft erwünscht ist und man sich nicht als enge, dogmatische Linksorganisation versteht. Ein Schritt, der im traditionell parteien-kritischen Frankreich gut ankam.
Zudem lief die Wahlkampfmaschinerie bereits früh wieder an und man versucht seitdem in starkem Maße, die sozialen Medien zu nutzen. Dies hatte man schon 2017 versucht. Dazu entwickelte man erneut neue inhaltliche Diskussionsformate, die über die relevanten Streamingplattformen zu empfangen sind. Zusätzlich intensivierte man die Präsenz in den sozialen Brennpunkten, um in einem ersten Schritt prekäre (migrantisch geprägte) Bewohnerinnen und Bewohner zur Eintragung in die Wahlregister zu bewegen, damit diese in einem zweiten Schritt für Jean-Luc Mélenchon stimmen können. Mit dem Beginn der heißen Wahlkampfphase scheint sich diese Arbeit auszuzahlen, wenn man den steigenden Umfragewerten Glauben schenken darf, die Mélenchon durchweg schon auf Platz 3 sehen. Insbesondere jüngere Jahrgänge, die tendenziell zu einer viel höheren Wahlenthaltung neigen, aber in der Vergangenheit überdurchschnittlich Mélenchon wählten, scheinen erneut erfolgreich politisiert zu werden.
Zu beobachten ist, dass Medien, viele Bürger in Frankreich und auch hier in Deutschland die Wahl schon für getroffen halten: Macron macht es, er ist geeignet und so weiter. Warum strahlt seine Figur so, obwohl viele Schatten auf seine erste Amtszeit fallen, die mögliche zweite nicht minder wenig sonnig werden könnte?
Die Erzählung vom bereits feststehenden Wahlsieg Macrons ist vor allen Dingen ein Produkt der Medienberichterstattung. Das kann einen nicht wundern, wenn man bedenkt, dass die Medien unter der Kontrolle weniger Großeigentümer sind, die in der Regel hinter Macron stehen, da sie von seiner Politik profitieren.
Lassen wir die „Reformen“ noch einmal Revue passieren: Macron hat faktisch die Vermögenssteuer beseitigt (nur noch Immobilienbesitzer müssen diese abführen), gleichzeitig wurden Kapitalertragssteuern auf 30 Prozent gesenkt, zudem wurden Steuerkreditprogramme fortgeschrieben, welche die Großunternehmen um Dutzende Milliarden entlasteten, ohne dass dadurch in nennenswertem Maße neue Beschäftigung entstanden wäre. Gleichzeitig wurden die sozialstaatlichen Leistungen weiter gesenkt. Angefangen bei der Senkung des Wohngeldes bis hin zur letzten Reform der Arbeitslosenunterstützung, welche in Zukunft die Menschen nicht nur zwingt, statt vier nun sechs Monate gearbeitet haben zu müssen, und bei Teilzeitarbeit nicht mehr der Durchschnittslohn, sondern nur noch die real gearbeiteten Stunden angerechnet zu bekommen.
Vor der Tür steht die Rentenreform, welche das gesetzliche Renteneintrittsalter von 60 auf 65 Jahre erhöhen will, um die Leistungen aus der gesetzlichen Rente weiter senken zu können. Denn fast 25 Prozent der französischen Geringverdiener erreichen das 66. Lebensjahr gar nicht erst. Und denken wir an die Schlangen von Studierenden, die während der Hochphase der Restriktionen in Frankreich gegen die Covid-19-Pandemie vor Suppenküchen anstanden, weil einfach kein Geld für eine warme Mahlzeit mehr vorhanden war. Macron und seine Regierung lehnen es bis heute ab, über eine Erweiterung des Rechts auf Grundsicherung für junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahre überhaupt zu diskutieren. Auch die Verbesserung der sozialen Unterstützungsleistungen für Studierende lehnt Macron schlichtweg ab und will Studierende zur Erwerbsarbeit zwingen oder ihnen gleich das Recht auf ein Studium entziehen.
Denn sämtliche durchgeführten und geplanten Reformen laufen auf die Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors hinaus, der bewusst auf die „Dequalifizierung“ der jungen Generation setzt, welcher der Weg an die Universitäten durch die Erhöhung der Kosten durch Studiengebühren deutlich steiniger machen soll. Die Pläne für die neue Legislaturperiode deuten schließlich auf eine Verschärfung des politischen Drucks hin, jede auch noch so schlecht entlohnte Tätigkeit anzunehmen.
Es ist allerdings nicht zu negieren, dass über 20 Prozent der Wahlberechtigten am 10. April ihre Stimme Macron geben werden. Dies liegt daran, dass es gesellschaftliche Akteure gibt, die von seiner Politik profitiert haben (knapp 10 Prozent) und eine Fortsetzung dieser Politik gerne sähen. Zudem gibt es Gruppen, die sich aktuell aus Angst vor den Auswirkungen der geopolitischen Krise um den Präsidenten scharen und sich durch seine Wiederwahl Stabilität und Kontinuität versprechen und Angst vor radikalen Umbrüchen haben. Diese Leute stammen allerdings eher aus sozial privilegierten Milieus. Diese Gruppen werden garantiert zur Wahl gehen, sie sind in den Umfragen seit jeher überrepräsentiert.
In der Gesamtbevölkerung überwiegen andere Probleme. Hier überwiegen die Sorgen über Preissteigerungen und die Zukunft des Sozialstaates. Freilich handelt dieser Teil der Gesellschaft nicht kollektiv oder homogen. Gerade die prekärsten Gruppen ziehen sich aus Hoffnungslosigkeit ins Private zurück oder resignieren im Angesicht der staatlichen Gewalt, der offenem Protest in Frankreich seit Jahren entgegenschlägt. Macrons Amtszeit hat hier einen neuen Höhepunkt erreicht, denn es wurden nicht weniger als sieben sogenannte „Sicherheitsgesetze“ erlassen. Besonders scharf wurde gegen die Gelbwestenbewegung vorgegangen, da sich hier zum ersten Mal seit langem wieder politisch kaum aktive Menschen, die größtenteils der Arbeiterklasse angehören, artikulierten und drohten, Macrons politische Macht wenigstens phasenweise herauszufordern. Gerade die Gelbwesten handelten aus Empörung über die etablierte Politik von „rechts“ und „links“ in Frankreich, welche die gesellschaftlichen Lasten immer weiter auf die Schultern der Lohnempfängerinnen und -empfänger verschob.
Was hat Mélenchon, was Macron nicht bietet – in Sachen Programmatik, Inhalte, Auftreten? Die Frage unterstellt durchaus den Unterschied in Sachen Progressivität und Humanismus.
Würde man eingefleischte Unterstützer von Mélenchon fragen, würden sie wahrscheinlich erst einmal sehr einhellig antworten und auf das Wahlprogramm verweisen, das wie 2017 bereits auch dieses Jahr wieder unter dem Titel „L`Avenir en Commun“ (Die gemeinschaftliche Zukunft) veröffentlicht wurde. Auch in Umfragen verweisen Wähler gerne darauf, aus programmatischen Gründen für Jean-Luc Mélenchon zu stimmen. Dies stimmt aber nur zum Teil. Viel macht es auch die Art und Weise, wie er sich in der Öffentlichkeit präsentiert. Ihm ist Charisma und ein großes Selbstbewusstsein nicht abzusprechen, was dazu führt, dass er wenig Probleme damit hat, explizit nicht wie zahlreiche klassische Berufspolitiker aufzutreten, die gerade den Medien möglichst wenig Reibungsfläche anbieten möchten.
Im Gegenteil, Mélenchons politisches Konzept besteht darin, genau den Konflikt zu suchen, um Journalisten und politische Gegner bewusst bloßstellen zu können. Dabei zeichnet er sich oft durch eine profunde Sachkenntnis aus und versucht, mit seiner Intellektualität zu punkten. Dies macht Mélenchon zu einer polarisierenden Figur in der französischen Öffentlichkeit, die große Zustimmung, aber auch heftige Ablehnung erfährt. Besonders in traditionellen linken (akademischen) Strukturen wird seine dominante und mitunter ruppige Art und die Begeisterung, die er zu entfachen in der Lage ist, als autoritär und demagogisch abgelehnt. Zudem stört sich die radikale Linke an der starken Betonung und Verteidigung des französischen Nationalstaates. Für Mélenchon gehören Patriotismus und die Verteidigung der sozialen Republik in der Traditionslinie vom Jakobinismus einschließlich der Errungenschaften der Arbeiterbewegung unmittelbar zusammen. Deshalb gibt es bei LFI auch kein Plädoyer gegen das Militär. Man fordert sogar die Wiedereinführung eines sozialen Pflichtdienstes als Dienst an der Nation, der positive Wirkungen zum Abbau gesellschaftlicher Spannungen entfalten könnte, da so die gesellschaftliche Desintegration weiter Teile der Unterklasse überwunden werden könnte.
In der Mainstreampresse wird Mélenchon zum „Tribun“ stilisiert, der ein exemplarisches Beispiel für einen „populistischen“ Politiker sei, der die Irrationalität der breiten Masse fördere und mit seinen radikalen Ansichten eine Gefahr für die repräsentative Demokratie und ihre vernunftbegabten und rationalen politischen Köpfe und Parteien sei. Tatsächlich ist das Programm von LFI, das Mélenchon repräsentiert, aus einer neoliberalen Sicht sicherlich radikal, bricht aber aktuell gar nicht mit der Vorstellung einer marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft. Vielmehr fordert „L`Avenir en Commun“ die Rückkehr zu einer stärkeren Wirtschaftssteuerung, bei der Verstaatlichungen wichtiger zentraler Bereiche der Grundversorgung zwar ein wichtiger Schritt sind, aber nicht alle Bereiche umfassen. Eher plant LFI eine Umsteuerung zu einer nachfrageorientierten Ökonomie. Dies soll durch Steigerung der Mindestlöhne, die Stärkung des öffentlichen Sektors, aber auch über die Rücknahme sämtlicher Reformen im Sozial- und Wirtschaftsbereich erfolgen. Zentral ist für LFI die Stärkung des Bildungswesens. Auch eine Art Studierendengehalt von knapp 1064 Euro soll eingeführt werden. Zudem soll der sozial-ökologische Umbau der Volkswirtschaft in Angriff genommen werden. Dabei plant man nicht nur die Schaffung einer ökologischen Landwirtschaft, sondern auch infrastrukturelle Eingriffe, um dem Klimawandel Einhalt zu gebieten. Zudem sollen kurze Produktionsketten geschaffen werden, um Frankreichs Importe zu senken und die französische Ökonomie zu stärken.
Auf der institutionellen Ebene wird die Abschaffung der präsidialen 5. Republik gefordert und die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung angestrebt, welche eine Grundlage für die 6. Republik schaffen soll, die viel stärker basisdemokratisch funktionieren, aber weiterhin auf repräsentativen Elementen beruhen soll.
Sicherlich ebenso zentral sind die außenpolitischen Vorstellungen. Hier fordert LFI den Austritt aus der NATO und eine „blockfreie“ Außenpolitik, um sich aus der Vormachtstellung der USA zu lösen. Auch die „Francophonie“ soll gestärkt werden. Die Beziehungen sollen sich allerdings partnerschaftlich und ohne jede postkoloniale Hierarchie entwickeln. Zwar ist man bezüglich eines potentiellen EU-Austritts weniger forsch als 2017, doch weiterhin plädiert Mélenchon für eine Neuverhandlung der EU-Verträge, die zum Ziel haben sollen, die EU-Stabilitätskriterien für Frankreich aushebeln zu können.
Scheint also Mélenchons Wahlprogramm für deutsche Augen befremdlich national, ist doch zu erwähnen, dass sich dieser beinahe als einziger Spitzenpolitiker konsequent gegen die fremdenfeindliche Grundstimmung dieses Wahlkampfes stellt. Während Macron und die Rechtskandidaten sich darüber streiten, wer am schärfsten die französische Identität bewahrt, steht Mélenchon für das Konzept der „Créolisation“. Für Mélenchon ist somit die französische Nation eine sich ständig kulturell und ethnisch neu durchmischende Gesellschaft, die nicht daran festhalten kann, in erster Linie weiß und westeuropäisch zu sein. Freilich ist es auch für LFI nicht denkbar, Konzepte wie eine ethnisch konotierte „positive Diskriminierung“ im nordamerikanischen Stil stark zu machen, die dem Geist der Französischen Revolution und der Schaffung der modernen Nation, die eine vollständige Gleichheit aller postuliert, entgegensteht. Mélenchons’ Appell für die vollständige Gleichberechtigung auch der „nicht-weißen“ Bevölkerungsgruppe findet massiven Zuspruch in der migrantisch geprägten Community. Zuletzt sprachen sich mehrere Interessenverbände, die in den französischen Vorstädten Sozialarbeit leisten, für ihn aus.
Wenn es denn so kommt, dass Macron weiter Präsident bleibt, bedeutet das nicht, dass die Verlierer und ihre Wähler resignieren? Was muss die folgenden Jahre seitens der Opposition geschehen, dass Macron nicht durchregieren kann?
Alle Umfragen sagen, dass ein Großteil der Wähler am 10. und 23. April Macron unbedingt verhindern wollen. Auch wollen mehr als zwei Drittel der Wähler am Ende nicht nur die Wahl zwischen Le Pen und Macron haben. Es besteht ein nach wie vor großes Potential für einen politischen Aufbruch. Leider haben die letzten Jahrzehnte viel dazu beigetragen, soziale und ökonomisch bedingte Bindungen stark zu schwächen. Mit der Transformation weg von einer Gesellschaft, in der die Industrie und damit die stark gewerkschaftlich organisierten Industriearbeiter dominant waren, hin zu einer dienstleistungsorientierten, arbeiten heute viele Menschen in der Logistikbranche. Eine gemeinsame Interessenvertretung besteht dort nicht. Der Aufbau neuer politischer Strukturen muss wieder ganz von unten anfangen. Also über die Selbstorganisation von Mietern oder soziale Angebote gerade für die Prekärsten, denen der Versuch folgen muss, politisches Bewusstsein für die eigene soziale Lage zu vermitteln. Die traditionsreiche Kommunistische Partei kann dies schon seit Jahrzehnten nicht mehr leisten, weshalb deren politischer Einfluss in Frankreich deutlich zurückgegangen ist. Köpfe wie Mélenchon können die Menschen in diesen Quartieren allerdings nur kurzzeitig mobilisieren. Deshalb muss eine neue Generation von politisch aktiven Menschen her, die ernsthaft die Belange gerade der Unterklassen vertreten und sich nicht in erster Linie als Berufspolitiker verstehen, für die das große Spiel der Politik auf taktischen Volten und Hinterzimmerabsprachen beruht und dies sich fern der täglichen Nöte der Menschen abspielt. Kurz und gut, mehr Arbeiter und Angestellte müssen wieder in Parteien und Parlamenten präsent sein!
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