In der Ukraine werden Opposition und Medien unterdrückt. Wer aber darauf hinweist, “wiederholt russische Propaganda”, wie EU-Sprecher aktuell behaupten. Das Bild der Ukraine in westlichen Medien und die Realität im Land könnten unterschiedlicher kaum sein – das führt zu bizarren Heucheleien. Die äußert sich aktuell auch in der Rezeption von Madeleine Albright bzw. Wladimir Putin. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Aus der Ukraine wird aktuell die Unterdrückung von politischen Parteien und von Medien gemeldet: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vor einigen Tagen laut Medienberichten elf politischen Parteien die Arbeit verboten. Unter dem Titel „Kiew schaltet gleich“ beschreibt die „Junge Welt“ weitere Hintergründe zu den Parteiverboten und zu Medien, die nun zu „vereinheitlichten“ Nachrichtenprogrammen genötigt werden.
Solche Vorgänge sollten erhebliche Irritationen bei den Hütern der heiligen EU-„Werte“ auslösen. Noch dazu in einem Staat, der momentan von der westlichen Presse und Politik als Leuchtstern in Sachen Freiheit und Demokratie dargestellt wird. Schließlich sei die Ukraine „wirtschaftlich erfolgreich“, durch „liberale Werte geprägt“ und „demokratisch“ und würde durch diese Werte „das System Putin infrage“ stellen, so etwa die „Welt“.
Zu den aktuellen Verboten in der Ukraine kommt hinzu, dass bereits vorher viele Handlungen der ukrainischen Regierungen seit dem Maidan-Umsturz Anlass für Kritik hätten geben müssen: unter vielem anderem der 2014 von Kiew begonnene inner-ukrainische Krieg mit über 10.000 Opfern vor allem aus den „Volksrepubliken“, die Sabotage der Friedensverhandlungen, die Duldung von rechtsradikalen Strukturen, das Anstreben schwerer Bewaffnung, die Entfesselung von inneneuropäischen Konflikten im Interesse der USA.
EU-Sprecher: Hinweis auf die Verbote ist “russische Propaganda”
Doch wie reagiert die offizielle EU auf die nun zusätzlich verstörenden Handlungen der ukrainischen Regierung bezüglich Demokratie und Meinungsfreiheit? Laut dem Blog „Lost In Europe“ hat die EU-Kommission kein Problem mit dem Verbot der wichtigsten Oppositionsparteien in der Ukraine. Dazu befragt, erklärte der Chefsprecher der EU-Kommission, es gelte nun mal Kriegsrecht in der Ukraine, das seien “außergewöhnliche Umstände”. Ein kritisches Wort kam ihm demnach nicht über die Lippen.
Verteidigt wurde das Verbot vom Sprecher des EU-Außenbeauftragten Borrell. Jetzt sei “nicht die richtige Zeit”, um über dieses Thema zu sprechen, erklärte er. Die Ukraine habe eine “legitime Regierung” und genieße die uneingeschränkte Unterstützung der EU. Wer das anders sehe und von Repression spreche, “wiederholt russische Propaganda”.
Ich denke, diese Doppelmoral bedarf keines weiteren Kommentars.
Verehrte Albright, dämonisierter Putin
Es gibt ein weiteres aktuelles Beispiel für die momentan grenzenlose Nutzung von doppelten Standards in Presse und Politik, wenn es um die Einordnung US-amerikanischer bzw. russischer Kriegshandlungen geht. Dabei handelt es sich um die geschichtsvergessenen Reaktionen auf den Tod der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright. Die Dämonisierung des russischen Präsidenten Wladimir Putin und die gleichzeitige Verehrung der extrem belasteten Albright wären in einer funktionierenden Medienlandschaft gar nicht möglich. In Deutschland geht das. Etwa die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock twitterte am Mittwoch:
„Mit Haltung, Klarheit und Mut stand Madeleine Albright als erste US-Außenministerin ein für Freiheit und die Stärke von Demokratien. Mit ihr verlieren wir eine streitbare Kämpferin, wahre Transantlantikerin und Vorreiterin. Auch ich stehe heute auf ihren Schultern.“
Die „Haltung“ von Albright hatte unter anderem zum Tod hunderttausender irakischer Kinder durch Sanktionen geführt. Ein Akt der Barbarei, den Albright damals auch noch öffentlich verteidigt hatte:
Ohne Relativierung keine rationale Einordnung
Solche Rückblicke und Vergleiche (Kritiker nennen das negativ Relativierung oder „Whataboutism“) sind unverzichtbar zur rationalen Beurteilung aktueller Konflikte. Das Bemühen, den russischen Krieg gegen die Ukraine als einen extremen Sonderfall in der Geschichte darzustellen, müsste eigentlich scheitern, wenn man sich mit den westlichen Angriffskriegen der letzten Jahrzehnte befasst – weitere Gedanken zum „Vergleich“ zwischen z.B. Ukraine- und Irakkrieg und zur Vorgeschichte des russischen Krieges gegen die Ukraine finden Sie hier. Dass die Kriege des Einen nicht die Kriege des Anderen prinzipiell rechtfertigen, ist selbstverständlich.
Betont werden muss momentan immer wieder: Die aktuellen Waffenlieferungen, die neue Hochrüstung, die Sanktionen und die Dämonisierung Russlands werden mutmaßlich keinem einzigen ukrainischen Zivilisten das Leben retten oder das Leid der dortigen Menschen lindern.
Titelbild: shutterstock.com / Bits And Splits