Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts müsse gelten – das ist eine so konsensfähige wie wohlfeile Sentenz. Auffällig ist vor allem, wann diese Formel benutzt wird: 2014 zum Beispiel pochte Angela Merkel anlässlich der Krimkrise gegenüber Russland auf das Primat der Stärke des Rechts, genauso wie 2016 auf einer Reise nach China gegenüber ihren Gastgebern. Und im Januar dieses Jahres mahnte Bundeskanzler Olaf Scholz Russland mit diesen Worten. Die australische Journalistin Caitlin Johnstone unterzieht die „Stärke des Rechts“ in den internationalen Beziehungen einer kritischen Bestandsaufnahme. Übersetzung: Susanne Hofmann.
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Der australische Whistleblower David McBride twitterte jüngst:
„Man hat mir die Frage gestellt, ob ich denke, dass die Invasion in die Ukraine illegal ist.
Meine Antwort ist: Wenn wir unsere eigenen Anführer nicht zur Verantwortung ziehen, dann können wir andere Anführer auch nicht zur Verantwortung ziehen.
Wenn das Gesetz nicht konsequent angewandt wird, dann ist es nicht das Gesetz.
Dann ist es nur ein Vorwand, unsere Feinde ins Visier zu nehmen.
Wir werden für unsere Hybris 2003 künftig einen hohen Preis bezahlen.
Wir haben es nicht nur versäumt, Bush und Blair zu bestrafen, wir haben sie sogar belohnt. Wir haben sie wiedergewählt. Wir haben sie in den Ritterstand erhoben.
Wenn ihr Putin im richtigen Licht sehen wollt, dann stellt ihn euch vor, wie er mit einem Düsenjet landet und dann sagt: ‚Mission Accomplished‘.“
Soweit ich sehe, ist dieses Argument logisch unangreifbar. Das Völkerrecht ist ein bedeutungsloses Konzept, wenn es nur für diejenigen gilt, die die US-Macht-Allianz nicht mag. Diesen Punkt veranschaulicht das Leben von McBride selbst, dessen eigene Regierung auf seine Veröffentlichung von unterdrückten Informationen über Kriegsverbrechen australischer Truppen in Afghanistan reagierte, indem sie ihn als Verbrecher anklagte.
Weder George W. Bush noch Tony Blair sitzen im Gefängnis in Den Haag, wo sie nach dem Völkerrecht sein müssten. Bush malt immer noch in seinem behaglichen Haus vor sich hin, vergleicht Putin öffentlich mit Hitler und macht sich stark für mehr Interventionen in der Ukraine. Blair betreibt immer noch nach Herzenslust Kriegstreiberei und sagt, die NATO sollte den direkten Angriff auf russische Streitkräfte nicht ausschließen – was dem Ruf nach einem atomaren Weltkrieg entspricht.
Sie sind frei wie die Vögel und pfeifen ihre alten dämonischen Lieder von den Dächern.
Wenn man auf diesen offensichtlichen logischen Bruch in Diskussionen über die Legalität von Wladimir Putins Invasion hinweist, wird einem oft „Whataboutism“ vorgeworfen – das bringen Anhänger des Imperiums gerne lautstark vor, wenn man gerade auf erdrückende Beweise dafür hingewiesen hat, dass das Verhalten ihrer Regierung ihren Standpunkt zum Thema klar widerlegt. Das ist kein „Whataboutism“; es ist eine direkte Anklage, die das Argument völlig zunichtemacht, weil es dazu einfach kein Gegenargument gibt.
Der Einmarsch in den Irak überging die Gesetze und Protokolle zu militärischem Eingreifen, wie sie die Charta der Vereinten Nationen vorsieht. Die aktuelle militärische US-Besetzung Syriens stellt einen Bruch des Völkerrechts dar. Das Völkerrecht hat nur in dem Maße Bestand, in dem die Nationen der Welt willens und in der Lage sind, es durchzusetzen. Und aufgrund der militärischen Macht des US-Imperiums sowie, was noch entscheidender ist, seiner Kontrolle des Narrativs bedeutet dies, dass dem Völkerrecht nur mit Zustimmung dieses Imperiums Geltung verschafft wird.
Darum stammen die vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) angeklagten und inhaftierten Menschen immer aus schwächeren, überwiegend afrikanischen Nationen, während es sich die USA sogar völlig ungestraft erlauben können, ICC-Mitarbeiter zu sanktionieren, wenn sie nur davon sprechen, amerikanische Kriegsverbrechen untersuchen zu wollen. Darum hat auch die Bush-Administration 2002 das „Den-Haag-Invasionsgesetz“ erlassen, in dem festgelegt ist, dass man militärische Gewalt einsetzen werde, um US- oder mit den USA verbündetes Militärpersonal vor jedem Versuch des ICC zu schützen, sie für Kriegsverbrechen zu verfolgen. Daher rührt auch Noam Chomskys berühmter Ausspruch, dass – hätte man die Nürnberger Gesetze weiterhin fair und konsequent angewandt – jeder US-Präsident nach dem Zweiten Weltkrieg gehängt worden wäre.
Darum sagte auch der frühere US-Sicherheitsberater John Bolton einmal, dass die US-Kriegsmaschine „international im anarchischen Umfeld agiert, in dem andere Regeln gelten“, was „ein Handeln erforderlich mache, das wir in einem normalen Geschäftsumfeld in den Vereinigten Staaten unprofessionell fänden“.
Bolton weiß, wovon er spricht. Mit seinem blutrünstigen Vorstoß, Zustimmung für den Einmarsch in den Irak herzustellen, war er die treibende Kraft hinter der Absetzung des Generaldirektors der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW), einer wichtigen Institution zur Durchsetzung des Völkerrechts, und er bedrohte zu diesem Zweck unter anderem die Kinder des Generaldirektors. Die OPCW unterliegt nun dem Diktat der US-Regierung, was die Vertuschung eines False-Flag-Vorfalls im Jahr 2018 in Syrien zeigt, der zu Luftangriffen durch die USA, Großbritannien und Frankreich zu Boltons Amtszeit als Trumps oberstem Berater führte.
Die USA arbeiten kontinuierlich daran, die Institutionen zur Durchsetzung des Völkerrechts zu unterminieren, um ihre eigenen Interessen voranzutreiben. Als die USA 1991 die Zustimmung der UNO für den Golfkrieg erlangen wollten, wagte es der Jemen, dagegen zu stimmen. Nach der Abstimmung sagte ein Mitglied der US-Delegation dem jemenitischen Botschafter: „Das ist die teuerste Abstimmung Ihres Lebens.“ Der Jemen verlor nicht nur 70 Millionen Dollar Entwicklungshilfe aus den USA, sondern zudem einen wertvollen Arbeitsvertrag mit Saudi-Arabien, und eine Million jemenitische Immigranten wurden von Amerikas Verbündeten am Golf nach Hause geschickt.
Die einfache Beobachtung, wer der internationalen Strafverfolgung unterliegt und wer nicht, macht deutlich, dass das ganze Konzept des Völkerrechts zu einem narrativen Konstrukt verkommen ist, das dazu benutzt wird, Regierungen niederzuknüppeln und zu untergraben, die dem Imperium rund um die USA nicht gehorchen. Darin liegt der Grund, weshalb vor dieser Konfrontation mit Russland sich die Manager des Imperiums dafür stark machten, den Begriff „Völkerrecht“ durch die Wendung „regelbasierte internationale Ordnung“ zu ersetzen – was alles und nichts heißen kann und ganz der Interpretation der weltweit dominanten Machtstruktur unterliegt.
Es ist durchaus möglich, dass Putin eines Tages abgesetzt und vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt wird, aber das verleiht dem Gericht keine Gültigkeit. Man kann logisch argumentieren, dass Putins Invasion in die Ukraine falsch ist und katastrophale Folgen haben wird, die weit über das bisherige Blutvergießen hinausgehen. Es entbehrt aber jeder Logik, zu behaupten, dass die Invasion illegal ist. Weil es keinen glaubwürdigen Rahmen zur Durchsetzung eines solchen Konzepts gibt.
Wie der US-amerikanische Juraprofessor Dale Carpenter sagte: „Wenn Bürger nicht darauf vertrauen können, dass Gesetze gerecht und ehrlich angewandt werden, kann man nicht sagen, dass sie unter der Herrschaft des Rechts leben. Vielmehr leben sie unter der Herrschaft von Menschen, die vom Gesetz korrumpiert wurden.“ Das gilt umso mehr für Gesetze zwischen den Staaten.
Man kann das Völkerrecht nicht erst aushöhlen und sich dann darauf berufen, indem man behauptet, eine Invasion sei „illegal”. Das ist kein legitimes Vorgehen. So lange wir in einer Wild-West-Umgebung leben, die von einem weltumspannenden Imperium geschaffen wurde, das davon profitiert, sind Behauptungen zur Legalität ausländischer Invasionen nur leere Worte.
Titelbild: Andrey_Popov / Shutterstock