Die Gethsemanekirche im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg war in der DDR ein Zufluchtsort für Oppositionelle und Friedensbewegte. Nun steht sie wieder im Brennpunkt. Nach Protesten von Corona-Maßnahmenkritikern, die an der Kirche starteten, meldet dort seit Mitte Dezember eine sogenannte Anwohnerinitiative jeden Montag eine Gegenveranstaltung an. Unterstützt wird die Initiative von allerlei Prominenz aus Politik und Gesellschaft. Die Medien-Präsenz ist enorm, berichtet haben neben der lokalen Berliner Presse unter anderem die „taz“, der „Deutschlandfunk“ und „Die ZEIT“. Das Motto der Initiative lautet: „Gemeinsinn leben. Demokratische Werte schützen.“ Von Thomas Trares
Doch wer gedacht hat, der Initiative geht es vor allem darum, in schwierigen Zeiten Brücken zu bauen und den gesellschaftlichen Dialog zu fördern, der hat sich getäuscht. Denn in den Aushängen, Flugblättern und sonstigen Verlautbarungen der Initiative deutet nur wenig auf „Gemeinsinn“ und „demokratische Werte“ hin. „Raus aus dem Kiez, der Stadt, dem Land“ etwa stand am vergangenen Montag auf einer der Zettelbotschaften, die die Initiative vor der Kirche aufgehängt hatte. Auf anderen war zu lesen: „Wir leben nicht in einer Diktatur“ und „2022 ist nicht 1989“.
Worum es der Initiative geht, kann man in der Petition nachlesen, die sie Mitte Februar gestartet hat. Darin wirft sie den Protestierenden vor, die Gethsemanekirche und die „Symbole der Friedlichen Revolution in der DDR“ zu vereinnahmen. In dem dazugehörigen Aufruf heißt es dann: „Es ist an der Zeit, dass die große Mehrheit der Gesellschaft aktiv wird und für den Zusammenhalt in unserer Demokratie eintritt.“
Petition zeichnet Zerrbild der Proteste
Auf die Kernanliegen der Maßnahmenkritiker, nämlich eine freie Impfentscheidung und die vollständige Wiederherstellung der Grundrechte, geht die Initiative jedoch mit keiner Silbe ein. Stattdessen zeichnet sie in weiten Teilen ein ausgesprochenes Zerrbild der Proteste. Diese würden sich „inzwischen sogar gegen das Personal in Krankenhäusern und Impfzentren“ richten. Außerdem ist von „umherziehenden Protestler*innen“ und „als Spaziergänge deklarierte Aufmärsche mit Kerzen“ die Rede. Auch die Kampfbegriffe „Corona-Leugner“, „Verschwörungserzählungen“ und „Wissenschaftsleugnung“ dürfen nicht fehlen – ebenso wenig wie das Wiesel-Wort „Solidarität“.
Unter den Erstunterzeichnern der Petition findet sich allerdings nur eine Handvoll Anwohner. Der weitaus größte Teil ist ein „Who is Who“ aus Politik, Kirche und Kultur. Auch lokale Initiativen sind vertreten. Unterschrieben haben etwa der Volksbühnen-Intendant René Pollesch, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, und die Netzaktivisten Anke und Daniel Domscheidt-Berg. Einige Erstunterzeichner traten auch als Gastredner bei den Aktionen der Initiative auf, so etwa der frühere rechtspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen, Volker Beck, der frühere Berliner Innensenator Andreas Geisel, der frühere Präsident des deutschen Bundestags, Wolfgang Thierse, der Berliner Kultursenator Klaus Lederer und die ehemalige Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, Marianne Birthler.
Der Spaziergang vom 13. Dezember
Gegründet hat sich die Initiative nach dem Spaziergang der Corona-Maßnahmenkritiker vom 13. Dezember 2021. An jenem Montagabend hatten sich rund 350 Personen an der Gethsemanekirche getroffen, um anschließend durch den „Kiez“ zu laufen. Schon damals hatte die Initiative ein schiefes Bild von den Corona-Protesten gezeichnet. In der Erklärung, die die Initiative nach dem Spaziergang veröffentlichte, erweckt sie unter anderem den Eindruck, dass Demonstranten an jenem Abend Mitglieder der Kirchengemeinde angespuckt und ihnen die Masken vom Gesicht gerissen hätten. Tatsächlich hatte sich dies aber drei Tage zuvor ereignet, als eine Person „die Andacht gestört“ hatte und in „sehr lautstarker Weise extrem unflätig wurde“, wie auf der Homepage der Gethsemanekirche nachzulesen ist. Mit dem Spaziergang hatte dieser Vorfall also überhaupt nichts zu tun. Gleichwohl war in der „B.Z.“ dann die Schlagzeile zu lesen: „Corona-Leugner stürmte Andacht, spuckte und riss Gläubigem Maske weg.“ Und in der „taz“ hieß es: „Erst im Dezember eskalierte hier ein Querdenker-Aufmarsch: Coronaleugner*innen rissen Kirchenmitgliedern die Masken vom Gesicht, spuckten sie an und bedrohten Anwohner*innen.“
Inwieweit an jenem Abend des 13. Dezember ein „Querdenker-Aufmarsch“ tatsächlich eskaliert ist, sei einmal dahingestellt. Fakt ist, dass es zwei massive Polizeieinsätze gegen unbeteiligte Personen gab. Von einem dieser Vorfälle existieren sogar Filmaufnahmen. In diesen ist zu erkennen, wie Holger Zimmer, Journalist des „Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb)“, der zufällig an der Gethsemanekirche vorbeikam, von Polizisten zu Boden gerungen und dann zur Feststellung der Personalien in ein Einsatzfahrzeug gebracht wurde. Zimmer hatte die Beamten zuvor gefragt, was hier los ist. Den Vorfall hat Zimmer dann am nächsten Tag in einem Podcast geschildert und auf die Homepage des „rbb“ gestellt. Dort wurde der Beitrag nur wenige Stunden später wieder gelöscht. In dem zweiten Fall wurde ein Passant, der drei Einkaufstüten in den Händen hatte, von der Polizei recht unsanft in die Außengarnitur der Gaststätte „Hintersee“ hineingedrückt, die sich gegenüber der Kirche befindet. Die Gründe dafür sind bis heute nicht bekannt.
Die Rolle der Kirche
Zu hinterfragen ist auch die Rolle der Kirche. Sie nimmt in diesem gesellschaftlichen Konflikt keine neutrale Rolle ein: Vielmehr „begleitet“ sie von Anfang an die Aktionen der „Initiative Gethsemanekiez“. Deren Flugblätter etwa hängen im Schaukasten der Kirche neben den Informationen über Gottesdienste und anderen Aktivitäten der Kirchengemeinde. Außerdem nutzt die Initiative bei ihren Aktionen eine Leinwand, die am Kirchenzaun befestigt ist, um ihre Inhalte auch nach außen hin sichtbar zu machen. Zudem sorgt der Posaunenchor der Kirche für das musikalische Rahmenprogramm. Und nicht zuletzt finden sich unter den Erstunterzeichnern der Petition auch einige Kirchenvertreter wie etwa der Alt-Bischof der Evangelischen Landeskirche, Markus Dröge.
„Früher war die Kirche offen für Andersdenkende. Wir konnten da jederzeit rein. Das war überhaupt keine Frage. Heute jedoch sind die Türen zu“, sagte Marlene Müller, die 1989 vor der Kirche Flugblätter gegen das DDR-Regime verteilt hatte und heute gegen die Corona-Politik der Bundesregierung auf die Straße geht. Und Jule Lindner, die 1989 ebenfalls bei den Protesten dabei war, ergänzt: „Also wirklich jeder war in der Kirche willkommen und wurde sogar geschützt vor den Übergriffen des Staates. Es wurde nicht gemeinsame Sache gegen den Bürger veranstaltet.“ Heute jedoch findet sie es anmaßend, dass sich die Anwohnerinitiative auf die Historie bezieht und diese als Argument nutzt, genau dies aber anderen verweigern will. „Die Frage bleibt: Wer hat Anrecht auf geschichtsträchtige Untermalung seiner eigenen Argumentationen?“, sagt sie.
Alles in allem lassen einen die Vorgänge vor der Gethsemanekirche etwas ratlos zurück. Es stellt sich ganz grundsätzlich die Frage: Wie will eine Gesellschaft wieder zusammenfinden, wenn selbst hochrangige Vertreter aus Politik und Gesellschaft nicht auf Dialog setzen, sondern das begründete Anliegen eines Teils der Bevölkerung schlichtweg ignorieren, ja sogar skandalisieren? Und wäre es nicht gerade Sache der Kirche, eben jenen Dialog zu ermöglichen und zwischen beiden Lagern zu vermitteln, anstatt zur Verhärtung der Fronten beizutragen? Eine Antwort auf diese Fragen ist derzeit nicht in Sicht. Die „autoritäre Schließung der Gesellschaft“, wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in ihrem neuen Essay schreibt, ist inzwischen auch vor der geschichtsträchtigen Gethsemanekirche im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg angekommen.
Titelbild: © Thomas Trares