Randnotizen zu Doppelmoral, Heuchelei, Sprachverluderung und zum Schwinden einer Diskussionskultur in Zeiten coronaler Kriegsstimmung.
Auf diesen Seiten erschien von unserem Autor Rainer Werning am 2. März sein letzter Text mit dem Titel „Im Amnesie-Taumel einer ‚Zeitenwende‘“. Seitdem haben sich die Dinge im Kriegsschatten der Ukraine nochmals – mehr zum Schlechten als zum Guten – so sehr gewendet, dass er im folgenden zweiteiligen Beitrag alles Revue passieren lässt und in historische Zusammenhänge einbettet.
Hier können Sie noch einmal den ersten Teil des Artikels lesen.
Wie kommt es eigentlich, dass wir – zumindest was die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft – ausschließlich und exponiert aus dem Munde hochrangiger westlicher Politiker und Militärs bzw. Militärstrategen solche martialischen Töne vernehmen, die offen zu Vernichtung und Zerstörung aufrufen, wo doch angeblich „der Westen“ als Gralshüter solch hehrer Ideale wie Aufklärung, Vernunft, Rationalität, Liberalismus und Demokratie gelten soll? (1) Derartiges ist mir seitens Stimmen aus dem, was einst als Trikont (Asien, Afrika & Lateinamerika) bezeichnet wurde, nicht bekannt. Sieht man von peripheren Randfiguren wie Indonesiens Ex-Präsident Suharto, Pol Pot in Kambodscha und Joseph Estrada aus den Philippinen einmal ab. (Gern lasse ich mich belehren, was möglicherweise die Komplettierung einer solchen Liste betrifft.)
Suharto ging es seit 1965/66 um die „Ausrottung des Kommunismus“ auf dem Archipel. Pol Pot wollte nach dem Sieg der Roten Khmer 1975 die Gesellschaft in „Altvolk“ und „Neuvolk“ eingeteilt sehen, wobei Letzterem, der vorwiegend bäuerlichen Landbevölkerung, die Schlüsselrolle im sogenannten Demokratischen Kampuchea zufallen sollte. Unter „Altvolk“ wurden indes all jene subsumiert, die es galt, als „frühere Kollaborateure des US-hörigen Lon-Nol-Regimes, korrupte Staatsbedienstete, Intellektuelle, Städter und pro-vietnamesische Agenten“ systematisch zu unterdrücken, zu verfolgen und/oder zu „liquidieren“. Estrada verkündete auf dem Höhepunkt der (ersten telegenen) Geiseldramas auf den Inseln im Sommer 2000 den „totalen Krieg“ gegen die Moros, die vorwiegend muslimische Bevölkerung in den Südphilippinen. Die dortige Abu-Sayyaf-Gruppe hatte am Ostermontag 2000 knapp ein Dutzend westeuropäische Touristen (darunter auch Mitglieder der Familie Wallert aus Göttingen) aus dem malaysischen Ferienressort Sipadan entführt und bis Mitte September 2000 auf der Insel Jolo als Geiseln gehalten. Bis diese durch Zahlung hoher Lösegelder, die von libyscher Seite vorgestreckt wurden, wieder auf freien Fuß kamen. (2)
Der US-amerikanische Verfassungsrechtler und Autor John W. Whitehead ist u.a. Gründer und Präsident des The Rutherford Institute, das sich seit seiner Gründung 1982 der Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten und der Menschenrechte verschrieben hat. Gemäß dem Motto: „Es ist unsere Aufgabe, die Regierung dazu zu bringen, sich an die Regeln der Verfassung zu halten.“ Er verfasste kürzlich einen Essay mit dem Titel Ewige Tyrannei: Endlose Kriege sind der Feind der Freiheit, in dem er sich kritisch mit der virulenten „Kriegskultur“ in seinem eigenen Land auseinandersetzt. Whitehead schreibt dort:
„Zwei Jahre, nachdem COVID-19 die Welt in einen Zustand des globalen Autoritarismus versetzt hat, gerade als die Toleranz der Menschen für schwerfällige Mandate endlich abgenutzt zu sein scheint, werden wir auf die nächste Ablenkung und die nächste Belastung für unsere Wirtschaft vorbereitet.
Doch die Überwachung des Globus und das Führen endloser Kriege im Ausland machen Amerika – oder den Rest der Welt – nicht sicherer, sie machen Amerika ganz sicher nicht wieder großartig und sie treiben die USA unbestreitbar tiefer in die Schulden.
Selbst wenn wir alle militärischen Einmischungen der Regierung beenden und alle Truppen nach Hause holen würden, dauerte es Jahrzehnte, die Kosten für diese Kriege zu begleichen und die Gläubiger der Regierung loszuwerden.“ (3)
Und der Autor fährt fort:
„Krieg ist zu einem riesigen Geldgeschäft geworden, und die US-Regierung ist mit ihrem riesigen Militärimperium einer der besten Käufer und Verkäufer.
Was die meisten Amerikaner – denen unablässig eingetrichtert wurde, dass Patriotismus bedeutet, die Kriegsmaschinerie zu unterstützen – nicht erkennen, ist, dass diese andauernden Kriege wenig damit zu tun haben, dem Land Sicherheit zu bescheren, sondern alles damit zu tun haben, einen militärisch-industriellen Komplex zu stützen, der weiterhin fast jeden Aspekt unseres Lebens beherrscht, diktiert und gestaltet.
Bedenken Sie: Wir sind eine militärische Kultur, die sich in ständiger Kriegsführung befindet. Die meiste Zeit unserer Existenz waren wir eine Nation im Krieg. Wir sind eine Nation, die vom Töten lebt, durch Rüstungsaufträge, Waffenherstellung und endlose Kriege.
Auch in der Unterhaltung, in den Nachrichten und in der Politik werden wir mit einer ständigen Diät der Gewalt gefüttert.
Die gesamte militärische Ausrüstung, die in Blockbuster-Filmen zu sehen ist, wird – auf Kosten der Steuerzahler – im Austausch für sorgfältig platzierte Werbespots bereitgestellt.
Als ich in den 1950er Jahren aufwuchs, endete fast jeder klassische Science-Fiction-Film damit, dass das heldenhafte amerikanische Militär den Tag rettete, ob es nun Kampfpanzer in Invaders from Mars (1953) oder militärische Straßensperren in Invasion of the Body Snatchers (1956) waren.
Was ich damals als Schuljunge nicht wusste, war das Ausmaß, in dem das Pentagon dafür bezahlte, als Amerikas Retter dargestellt zu werden. Als meine eigenen Kinder heranwuchsen, war es Jerry Bruckheimers Blockbuster Top Gun – er entstand mit Unterstützung und Ausrüstung des Pentagon – der den Stolz der Bürger auf das Militär steigerte.“ (4) (eigene Übersetzung: RW)
Ein Bericht des Projekts Costs of War der Brown University in Providence, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Rhode Island und eine der ältesten und renommiertesten Universitäten der USA, zeigt, dass 20 Jahre Krieg nach 9/11 die USA bis zum 1. September 2021 schätzungsweise 8 Billionen Dollar gekostet haben und mehr als 900.000 Menschen getötet wurden. (5) Infolge dieser Kriegsgeschehen und angesichts sich verschlechternder Klimabedingungen sind außerdem massenhaft Flüchtlinge „produziert“ worden, deren Zahl von Jahr zu Jahr wächst:
„Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Im Jahr 2020 schätzte das unschätzbare Costs of War Project der Brown University, dass Washingtons katastrophaler, zwei Jahrzehnte andauernder globaler Krieg gegen den Terror von den Philippinen und Afghanistan über den Nahen Osten bis nach Nordafrika 37 Millionen Menschen entwurzelt und vertrieben hat – eine wahrlich verblüffende Zahl.
Jetzt, nach einer erneuten Untersuchung der Ergebnisse dieser 20 Jahre Invasionen, Luftangriffe, Kommandoüberfälle, Nationenbildung (oder eher Entstaatlichung) und wer weiß, was noch alles, haben die Forscher des Projekts diese Zahl auf 38 Millionen erhöht, und das Verblüffende daran ist, dass sie vermuten, dass dies nur eine Untergrenze aufweist. Die wahre Zahl könnte irgendwo zwischen 49 und 60 Millionen Menschen liegen, die zu Binnenvertriebenen oder Flüchtlingen geworden sind, die aus ihren Heimatländern fliehen. Wir sprechen also von mehr Vertriebenen als jemals zuvor im 20. Jahrhundert, abgesehen von den Jahren um den Zweiten Weltkrieg. Versuchen Sie, sich das einen Moment lang zu vergegenwärtigen – und denken Sie dabei noch nicht einmal an die geschätzten 200 Millionen bis 1,2 Milliarden Flüchtlinge, die innerhalb der nächsten drei Jahrzehnte durch künftige Schrecken des Klimawandels auf diesem Planeten in Bewegung geraten könnten.“ (6) (eigene Übersetzung: RW)
Zwei Jahre Corona-Pandemie und jetzt Krieg haben bei vielen Menschen zu massiven Ohnmachtsgefühlen geführt – genährt durch eine Mischung aus Panikmache, geschürter Angst und lähmender Furcht. Gezielte Aufklärung, sachliche Information und ein zu diesem Zweck interdisziplinär gebildetes Fachgremium anstelle regierungsfreundlicher Virologen und Epidemiologen als bestallte Kassandrarufer – Fehlanzeige. Kein Wunder, dass Desorientierung, Hilf- und Ratlosigkeit und Dauerfrust einen Humus schufen, aus dem Mythenbildung, tatsächliche oder vermeintliche Verschwörungstheorien oder schlicht bizarre Erzählungen üppig ins Kraut schießen konnten. Dazu erklärte kürzlich das Kölner Rheingold-Institut unter der Leitung seines Gründers, des Psychologen und Sachbuchautors Stephan Grünewald (7), und auf der Basis eigener Befragungen:
„Die Bürger erleben einen plötzlichen Einbruch einer bedrohlichen Kriegswirklichkeit, von der sie das Gefühl haben: Das hat ein Eskalationspotenzial, das unvorstellbar ist.“ (8)
Grünewald beschrieb den Zustand mit „Melancovid“:
„Gerade junge Leute spürten, dass man gefühlt seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in einer ‚Krisenpermanenz‘ lebe. Neben Corona müsse man auch an die Finanzkrise und die Klimakrise denken. Der russische Angriff auf die Ukraine habe nun obendrauf eine ‚ungeheure Wucht‘ entwickelt, berichtete Grünewald aus den geführten Gesprächen mit Bürgern. Viele hätten ihre Sehnsüchte in einer Art ‚Enttäuschungs-Prophylaxe‘ zurückgeschraubt.
Weniger als ein Viertel (22,6 Prozent) habe in der Befragung etwa angegeben, wieder zu der Lebensfülle und Risikobereitschaft der Zeit vor Corona zurückkehren zu wollen. 30,5 Prozent hätten an sich eine gewisse Antriebslosigkeit beobachtet. 29 Prozent hätten an einigen Dingen die Lust verloren, die ihnen früher Freude bereitet hätten.“ (9)
Dieser Krieg hat wie die seit zwei Jahren währende Pandemie dazu geführt, dass unterschiedliche Meinungen in einem aufgeheizten Klima von Vorverurteilungen und rigider Rechthaberei kaum noch ausgetauscht und diskutiert, sondern stattdessen vorgefertigte Standpunkte nur noch zementiert werden. Von der seit Kindesbeinen an gepriesenen Vernunft, Rationalität und Einfühlsamkeit, die angeblich unseren Kulturkreis in besonderer (positiver) Weise auszeichnen (sollen), ist von Monat zu Monat immer weniger zu spüren. Oktrois, Verbote, Einschränkungen von Grundrechten und Ausgrenzungen bestimmen zunehmend den Alltag und scheinen zur Norm zu werden. Diese neue „normative Kraft des Faktischen“ hat mittlerweile auch langjährige persönliche Beziehungen vergiftet oder platzen lassen. Ich dachte, es könnte mir durch Besonnen- und Gelassenheit sowie durch ungetrübte Disputfreude im Geiste aufklärerischen Wirkens irgendwie gelingen, sich solchen Erfahrungen zu entziehen und dagegen gewappnet zu sein.
Ich habe mich geirrt. Spätestens seit Ende Februar, mit Beginn der in Berlin offiziell verkündeten „Zeitenwende“, erlebe ich, wie Freundschaften, die ein halbes Jahrhundert unerschütterlich waren, nunmehr tief erschüttert wurden. Vielleicht ist jetzt ja sogar der Zeitpunkt gekommen, wo einst gemeinsame Tischtücher zerschnitten werden.
Kürzlich schrieb mir ein langjähriger Freund und Genosse, von Haus aus Physiker, der lange Jahre im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) tätig war:
„Erschrocken hat mich in den letzten Tagen die Reaktion der deutschen Wissenschaftsorganisationen, insbesondere der Allianz der Wissenschaftsorganisationen (Alexander von Humboldt-Stiftung, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Hochschulrektorenkonferenz, Leibniz-Gemeinschaft, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Deutscher Akademischer Austauschdienst, Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Wissenschaftsrat), die fordern, ‚bereits zum jetzigen Zeitpunkt wird jedoch empfohlen, dass wissenschaftliche Kooperationen mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres eingefroren werden.‘ Aus meiner Sicht muss man jetzt genau das Gegenteil tun: Kooperation mit den Wissenschaftlern in Russland fördern. Russische Kollegen und Kolleginnen zu Parias zu machen, ist das Gegenteil von allem, wofür für mich Wissenschaft steht.“
Und der gute Freund führte weiter aus:
„Die Max-Planck-Gesellschaft formuliert dazu (28.2.2022): ‚Dieser Krieg wird auch zu schweren Verwerfungen und Einschränkungen in der Wissenschaft führen. Das ist umso trauriger, als es gerade auch in Kooperation mit russischen Kolleginnen und Kollegen wichtige Forschungsprojekte gibt, die einen Beitrag zur Lösung der drängenden globalen Probleme unserer Zeit, insbesondere dem Klimawandel leisten sollen. Die aktuelle Lage lässt uns aber leider keine Wahl. Deutschland wird Sanktionen daher auch im Bereich der Forschung anwenden, um auf die aktuelle Aggression des russischen Regimes zu reagieren.‘
(…) Wie geschichtsvergessen sind solche und andere Stellungnahmen, die man auf dem Portal ‚pro-physik‘ nachlesen kann. Erschrocken hat mich an den bisherigen Stellungnahmen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Wurde auf den Angriffskrieg der USA und einiger Verbündeter 2003 gegen den Irak (wegen nicht-vorhandener Massenvernichtungswaffen) so reagiert? Wurden da die Kooperationen mit amerikanischen und britischen Wissenschaftlern eingefroren? Wurde nach der Invasion in Afghanistan 2001 so reagiert? Wurde nach der Zerbombung Libyens 2011 durch die USA, Frankreich und Großbritannien so reagiert? Wurde der Angriffskrieg gegen Jugoslawien (Präventivkrieg, um ‚ein zweites Auschwitz‘ zu verhindern) so bewertet? Die Liste von Kriegen seitens der westlichen ‚Wertegemeinschaft‘ ist leider sehr lang. Aber zu keinem Zeitpunkt hat man auf Kontakte zur Wissenschaft in dem jeweiligen Land verzichtet und macht das heute auch nicht in Bezug zum z.B. Iran. Selbstverständlich ist der Krieg in der Ukraine zu verurteilen (auch wenn es Sinn macht, die Hintergründe genau zu studieren) und es ist entsetzlich, welches Leid über die Bevölkerung gebracht wird. Und natürlich ist auch dieser Krieg durch nichts zu rechtfertigen. Aber aus dem Charakter auch dieses Krieges als Angriffskrieg zu schlussfolgern, man muss alle Kooperationen mit russischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen einfrieren oder abbrechen, ist für mich erschreckend. Die Hetze gegen alles ‚Russische‘ in den Medien erinnert mich an dunkle Zeiten in diesem Land. Diese Stellungnahmen übertreffen alles, was ich zu Zeiten des Kalten Krieges erlebt habe.“ (10)
Die Antwort darauf folgte prompt aus der Feder eines anderen Freundes aus Jugendjahren (zu dritt arbeiteten wir in den 1970er Jahren gemeinsam in einem Verlagskollektiv), der nach seinem Magisterabschluss in Publizistik und Soziologie langjährig im Mediengewerbe tätig war:
„Deinen Furor solltest Du besser bremsen, der ist aus der Zeit gefallen! Putins Krieg ist gerade einmal 5 Tage alt, und er beginnt aus Ärger, Frustration, Paranoia alle Hemmungen zu verlieren. Lässt Schulen, Krankenhäuser, ja auch Universitäten angreifen. In so einer Situation zu sagen, Wissenschaft ist ‚ideologiefrei‘, grenzt an Realitätsverschiebung in Putinschen Ausmaßen. ALLE russischen Institutionen müssen spüren, dass die Putinsche Aggression weltweit geächtet ist und sie mit im Boot sitzen. Bis sich hoffentlich bald der Aufstand der Anständigen manifestiert und Putin in seine Schranken weist, besser noch verjagt. Hat ja erstaunlicherweise historisch schon anderswo geklappt. Wenn die Wissenschaft sich hier wegduckt, ist das ein jämmerliches Versagen.“
Wie schnell doch in heutigen Zeiten Gewissheiten „verdunsten“ und kritischer (Rest-)Verstand wie das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausgekippt wird!
Was ist, was bleibt? Der erstmalig 1981 aufgetauchte Spruch „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ (11) ist vollends verbleicht. Was damals die Herzen friedensbewegter Menschen wohlig frohlocken ließ, ist 41 Jahre später zu einem „Stell Dir vor, es ist Krieg und viele steißtrommeln mit“ verkommen. Über die stromlinienförmige Ver(bl)ödung in den sogenannten Mainstream- oder Leitmedien ist auf diesen Seiten häufig und ausführlich berichtet worden. Das geht so weit, dass mittlerweile – wie beispielsweise in der Berliner Zeitung am 5. März geschehen – von in Deutschland grassierendem „toxischem Pazifismus“ schwadroniert wird. (12) Die EU, offensichtlich auch ihrerseits auf Einhegung von Dissens und Protest erpicht, verbietet russische „Feindsender“ (13), als gewahrte sie eine unmittelbare Störung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung. Alles gemäß dem Motto: Krieg ist Frieden, Frieden schaffen mit noch mehr Waffen! Und: Denken Sie daran, wie lange das Geeiere dauerte, bis auch das Wirken der Bundeswehr in Afghanistan jenseits von „humanitärem Einsatz“ und „Mission“ als das bezeichnet wurde, was es von Anfang an war – ein Kriegseinsatz!
Dieser „Neusprech“ wird gleichermaßen auch von der anderen Seite praktiziert. Am 5. März verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das bei einer Veröffentlichung von „Falschnachrichten“ über die russischen Streitkräfte Haftstrafen von bis zu 15 Jahren sowie hohe Geldbußen vorsieht. Darunter fällt bereits die Nutzung von Begriffen wie „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“ in der Berichterstattung über den Konflikt mit der Ukraine. Moskau selbst bezeichnet den Krieg lediglich als eine „Sonderoperation“. Auch der Aufruf zu Sanktionen gegen Russland und das Diskreditieren russischer Streitkräfte sind untersagt. Was George Orwell, der in den 1920er Jahren als kleiner Beamter der britischen Kolonialpolizei im fernen Birma/Burma (heute Myanmar) mit seinem bereits 1949 veröffentlichten Buch 1984 groß herauskam, weitere Steilvorlagen in Sachen Dystopie geliefert hätte.
Vergessen wir hier auf keinen Fall das weltweit größte „Freilichtgefängnis“ und langjährigen Hort der Dystopie – Gaza! Wer dort als Jugendlicher Steine auf die Besatzer wirft, ist buchstäblich als „Terrorist“ zum Abschuss freigegeben. Sein gleichaltriger Bruder in jedem x-beliebigen Ort der heutigen Ukraine wird für die gleiche Tat überschwänglich als „Freiheitskämpfer“ gefeiert und genießt garantiert eine zumindest auf Jahre gesicherte Existenz im Westen. Ach, wie viel Freude herrschte doch unerwartet unter Jugendlichen in Gaza, würde „feministische Außenpolitik“ auch und gerade dort einmal praktiziert und die Kiddies erhielten seitens der ansonsten larmoyanten Muttis von der Leyen, Baerbock und Lambrecht mal als kleines Spielzeug ein Steiff-Tierchen mit oder ohne Knopf im Ohr!
Kürzlich schrieb der Jurist Peter Vonnahme auf diesen Seiten:
„Der einzig angemessene Aufenthaltsort für so jemanden (wie Putin – RW) ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Dort könnte er sich mit amerikanischen Präsidenten (z. B. Bush Vater und Sohn, Clinton, Obama) zum Spaziergang im Gefängnishof treffen. Denn auch sie haben das Völkerrecht mit Füßen getreten. Dieses elitäre Treffen bleibt jedoch bis auf Weiteres ein Wunschtraum. Eine Strafverfolgung dieser Kriegsverbrecher ist derzeit nicht möglich. Weder Russland noch die USA (und auch nicht die Ukraine!) haben bisher den Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert – und sie wissen warum. All die Schelme, die nach jahrelangem peinlichen Schweigen plötzlich so laut nach dem Völkerrecht rufen, mögen sich dafür einsetzen, dass die genannten Staaten das ‚Rom-Statut‘ unterzeichnen!“ (14)
Eine sympathische Vorstellung zwar, wiewohl dies – leider – mitnichten geschehen wird. Eher ist damit zu rechnen, dass im Zuge von Flucht und Vertreibung infolge der Kriegswirren in der Ukraine sieben Jahre nach der ersten „Willkommenskultur“ in Deutschland erneut Ausgrenzung, Sozialneid und vor allem rassistische Hetze und Antikommunismus Urstände feiern. Schon jetzt werden Afrikaner daran gehindert, die Ukraine zu verlassen. Asylsuchende Menschen aus Syrien, Irak oder Afghanistan werden zunehmend schlechte Karten haben, überhaupt erst nach Deutschland zu gelangen – von über das Mittelmeer Flüchtenden ganz zu schweigen. (15) Und da bei vielen Menschen – ob bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – Putin als Geschöpf der ehemaligen Sowjetunion wahrgenommen wird, kann sich die westdeutsche Staatsideologie der 1950er und 1960er Jahre, manifester Antikommunismus, aufs Neue austoben. (16) Nicht nur zeigt(e) sich die Judikative – eine auffällige Konstante westdeutscher Nachkriegspolitik – auf dem rechten Auge notorisch blind. Natürlich schwingen bei alledem auch Projektionen mit:
„Die Deutschen haben mit den Russen ebenso ihr Issue wie mit den Juden; sie suchen in der Jetztzeit Möglichkeiten, die Last der Vergangenheit abzutragen, suchen, um ein Wort von Eike Geisel zu nehmen, Wiedergutwerdung. Die Ukrainer geraten den Deutschen dabei zum Stellvertretervolk, durch das die Nachfahren der Täter sich zum Opfer hin identifizieren können.“ (17)
„Die Welt ist eben die Hölle“, schrieb der Philosoph Arthur Schopenhauer, gleichzeitig einer der Großmeister des Aphorismus, vor reichlich 170 Jahren „und die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin.“ (18) Wir Nachgeborenen wissen spätestens seit dem 9. März – nicht lang‘ ist’s her – dass des „Teufels“ Werk darin besteht, von der höchstdotierten pfäffischen Silberlocke der Nation, Pastor Joachim Gauck, folgenden Quälvers ungebeten vor den Latz geknallt bekommen zu haben:
„Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.“ (19)
Tja, wer schon keine Qual hat, wählt das ominöse „Wir“, um sich sogleich dahinter zu verstecken! Fragt sich nur noch in diesen vermaledeiten Zeiten, wann der BILD-hafte Furor Teutonicus mit der Pöbelschlagzeile aufwartet: „Kauft nicht bei Russen!“
Anm.: Lesenswerte Texte zur aktuellen Situation sowie zum Verhältnis Russland/Ukraine publizierten in diesen Tagen folgende US-Medien jenseits der sogenannten Corporate Media:
John-Janusz Ebel: A Few Provisional Thoughts on Putin as a Historical Figure – CounterPunch.org * ; Jonathan Cook: Russia-Ukraine War: A Different Invasion, the West’s Same ‘Madman’ Script – Antiwar.com *; Ted Galen Carpenter: The U.S. and NATO Helped Trigger the Ukraine War. It’s Not ‘Siding With Putin’ to Admit It * & Andrew J. Bacevich: The ‘end of history’ … again? – Responsible Statecraft *
Titelbild: zef art/shutterstock.com
[«1] Lohnenswert ist in diesem Zusammenhang die nochmalige Lektüre der Schrift von Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Frankfurt a. M. 1967: Fischer). Darin geht es dem namhaften Vertreter der Frankfurter Schule und ihrer kritischen Theorie um den Nachweis, dass zwischen der Unterdrückung der (inneren wie äußeren) Natur und intrahumanen Herrschafts- und Unterdrückungsformen ein Zusammenhang besteht – dergestalt, dass die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, die Natur zu unterjochen, auch die Geschichte der Unterjochung des Menschen durch den Menschen ist und Naturbeherrschung mithin Menschenbeherrschung einschließt.
[«2] Siehe dazu: Rainer Werning: Indonesien 1965-85: Lange Schatten des Terrors. Münster 1985: WURF; Rainer Werning: nachdenkseiten.de/?p=78580; Walter Aschmoneit/Rainer Werning (Hrsg.): Kampuchea – Lesebuch zur Geschichte, Gesellschaft, Politik. Illustrationen, Karten, Chronologien. Münster 1981: SZD sowie Rainer Werning: freitag.de/autoren/rainer-werning/geisel-business & Rainer Werning: wissenschaft-und-frieden.de/artikel/verlierer-und-gewinner-im-geiselpoker/
[«3] John W. Whitehead & Nisha Whitehead: The Rutherford Institute: Perpetual Tyranny: Endless Wars Are the Enemy of Freedom * rutherford.org/publications_resources/john_whiteheads_commentary/perpetual_tyranny_endless_wars_are_the_enemy_of_freedom & The Rise of Global Fascism and the End of the World as We Know It * rutherford.org/publications_resources/john_whiteheads_commentary/the_rise_of_global_fascism_and_the_end_of_the_world_as_we_know_it
[«4] Ebd.
[«5] Costs of the 20-year war on terror: $8 trillion and 900,000 deaths | Brown University * brown.edu/news/2021-09-01/costsofwar
[«6] Nick Turse: War Torn – TomDispatch.com * tomdispatch.com/war-torn/
[«7] U.a.: Stephan Grünewald: Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft. Köln 2019: Kiepenheuer & Witsch
[«8] Psychologie: Ukraine-Krieg bereitet Bürgern Ohnmachtsgefühle, in: Rheinische Post Online, 3. März 2022 * rp-online.de/panorama/deutschland/psychologie-ukraine-krieg-bereitet-buergern-ohnmachtsgefuehle_aid-66813953
[«9] Ebd.
[«10] Dankenswerterweise stellte mittlerweile die Offene Akademie diese Stellungnahme in vollem Wortlaut am 9. März auf ihre Website: Prof. Dr. Dr. h.c. Lorenz Ratke: offene-akademie.org/mit-zweierlei-mass-gemessen-zur-reaktion-der-deutschen-wissenschaftsorganisationen-auf-den-krieg-in-der-ukraine/ — Der Autor war Leiter einer Arbeitsgruppe am Institut für Materialphysik im Weltraum beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), die einen Leichtbeton entwickelte, der hinsichtlich Wärmeleitfähigkeit, Dichte und Dämmeigenschaften herausragende Eigenschaften aufweist. Seine Charakteristik erhält dieser sogenannte Aerogelbeton durch die Zugabe von Aerogelen in die Zementmischung. Sein letztes Buch verfasste Ratke gemeinsam mit seinem russischen Kollegen Pavel Gurikov und trägt den Titel: The Chemistry and Physics of Aerogels: Synthesis, Processing, and Properties. Cambridge University Press, 2021
[«11] spiegel.de/geschichte/graffiti-stell-dir-vor-es-ist-krieg-und-keiner-geht-hin-a-1062067.html
[«12] Jesko zu Dohna: Scheinheiliger Kurswechsel: In Deutschland grassiert toxischer Pazifismus * berliner-zeitung.de/wochenende/scheinheiliger-kurswechsel-in-deutschland-grassiert-toxischer-pazifismus-li.215177 — Der Autor ist stellv. Chefredakteur der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung.
[«13] Rainer Stadler: Russische Sender verboten – ein fragwürdiger EU-Entscheid – infosperber * infosperber.ch/medien/russische-sender-verboten-ein-fragwuerdiger-eu-entscheid/ — Siehe in diesem Zusammenhang auch die zeitgemäße Publikation: Thomas Klikauer: Media Capitalism: Hegemony in the Age of Mass Deception. CH-Cham 2021: Palgrave Macmillan
[«14] Peter Vonnahme: Putin gehört wie ehemalige US-Präsidenten vor den Internationalen Strafgerichtshof * nachdenkseiten.de/?p=81623
[«15] Urs P. Gasche: Warum behandelt Europa andere Flüchtlinge anders? – infosperber * infosperber.ch/freiheit-recht/menschenrechte/warum-behandelt-europa-andere-fluechtlinge-anders/
[«16] Josef Foschepoth: Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg. Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht; portal.uni-freiburg.de/herbert/publikationen/sonstige-publikationen/foschepothverbot & vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/aktuelles/verfassungswidrig-zweite-auflage — Bei diesem sich annähernd fünf Jahre hinziehenden Verfahren gab es nachweislich Absprachen der Karlsruher Verfassungsrichter mit der Bundesregierung, dem Kanzleramt sowie den Justiz- und Innenministern, wobei der Verfahrensablauf bis ins Detail festgelegt wurde. Selbst BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle sprach 2017 mit Blick auf das KPD-Verbot von einem „Gesinnungs- und Weltanschauungsverbot“.
[«17] Felix Bartels: Daheim ist, wo der Hauptfeind steht (Tageszeitung junge welt) * jungewelt.de/artikel/422482.krieg-in-der-ukraine-daheim-ist-wo-der-hauptfeind-steht.html
[«18] Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine Philosophische Schriften. Zweite und beträchtlich vermehrte Auflage, aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers. Zweiter Band, Kapitel 12, Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt, § 157, S. 653: e-artnow 2014
[«19] rp-online.de/panorama/fernsehen/joachim-gauck-bei-maischberger-wir-koennen-auch-einmal-frieren-fuer-die-freiheit_aid-67007441