Allmachtwahn & Vernichtungsphantasien (I/II)

Allmachtwahn & Vernichtungsphantasien (I/II)

Allmachtwahn & Vernichtungsphantasien (I/II)

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Randnotizen zu Doppelmoral, Heuchelei, Sprachverluderung und zum Schwinden einer Diskussionskultur in Zeiten coronaler Kriegsstimmung.
Auf diesen Seiten erschien von unserem Autor Rainer Werning am 2. März sein letzter Text mit dem Titel „Im Amnesie-Taumel einer ‚Zeitenwende‘“. Seitdem haben sich die Dinge im Kriegsschatten der Ukraine nochmals – mehr zum Schlechten als zum Guten – so sehr gewendet, dass er im folgenden zweiteiligen Beitrag alles Revue passieren lässt und in historische Zusammenhänge einbettet. Der zweite Teil folgt am morgigen Sonntag.

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Lang ist’s her! Als sich Deutschland noch als ein „Land der Denker und Dichter“ wähnte und u.a. einen Mann wie Johann Wolfgang von Goethe wie eine Monstranz vor sich hertrug und ihn allzu gern als Leuchtboje in sämtlichen Weltmeeren verankert gesehen hätte, schien in Teutonia die Welt noch in Ordnung zu sein. Von diesem einst verehrten Säulenheiligen stammt u.a. der Satz: „Daß Glück ihm günstig sei, was hilft’s dem Stöffel, denn regnet’s Brei, fehlt ihm der Löffel.“ Und heute, da in diesem Land kaum noch gedichtet wird und sich Denker immer rarer machen, gilt es, das wehleidige Klagelied anzustimmen: „Daß Glück ihr günstig sei, was nützt’s Frau Baerbock, denn regnet’s Blei, ist sie dabei.“

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Dass ausgerechnet olivgrüne Politikerinnen und Politiker nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen zweiten Tabubruch vollzogen – im Zuge der Jugoslawien-Zerstückelung Krieg wieder „hoffähig“ zu machen und heute offen das Entsenden von Rüstungsgütern in ein Kriegsgebiet abzunicken – ist eine „Leistung“, die dem Bellizismus in der Ära Post-Goethe‘scher Belletristik Ehre verleiht. Kein bundesdeutscher Chefdiplomat hat jemals so ungeschminkt einem anderen Land qua Sanktionspaketen „den Ruin“ gewünscht, wie das von dieser „gelernten Völkerrechtlerin“ am 1. März geschah. [1] Und leider haben wir es hier mitnichten mit einer vom Tugendpfad barsch abgedrifteten Einzelperson zu tun; sie ist nur eine Stimme im anschwellenden Chor von Kriegsgelaunten.

Während ihrer Rede vor den Vereinten Nationen in New York führte die bekennende Transatlantikerin Baerbock am 1. März aus:

„Ihre (russischen – RW) Panzer bringen kein Wasser, keine Babynahrung, keinen Frieden. (…) Die Grundsätze der Vereinten Nationen bilden den Rahmen für unseren Frieden: für eine Ordnung auf der Grundlage von gemeinsamen Regeln, dem Völkerrecht, Zusammenarbeit und friedlicher Konfliktbeilegung. Russland hat diese Ordnung brutal angegriffen. Und deshalb geht es in diesem Krieg nicht nur um die Ukraine, nicht nur um Europa, sondern um uns alle.“ [2]

Nachdem sie das auch und gerade im Namen der kleinen Mia (s. den Redetext) erklärte, sattelte sie bei „Anne Will“ am 6. März noch drauf und sagte mit Blick auf den russischen Präsidenten: „Was er tut, ist Aggression hoch Tausend“. [3] Wer so redet und das noch mit patziger Gestik unterstreicht, sollte tunlichst die politische Bühne verlassen, weil damit sämtliche Gesprächsfäden mit der anderen Seite gekappt sind und sich Diplomatie selbst ad absurdum führt. Anstatt mit Contenance und Besonnenheit bei strikter Abwägung des gesprochenen Wortes unbedingt auf Deeskalation hinzuwirken!

Zudem: So viel überbordender Zynismus und aufgeplusterte Doppelmoral/Heuchelei waren noch nie. Kein kritisches Sterbenswörtchen dieses Kalibers ward jemals aus dem Munde hochrangiger deutscher Politiker und Diplomaten zu vernehmen, als US-amerikanische „Friedenskrieger” weitaus zerstörerische Aggressionen gegen Afghanistan, Irak, Syrien, Somalia, Libyen, Jemen u.a. entfesselten. In diesen „Friedenskriegen“ wurde alles „umgepflügt“, was sich den Besatzern in den Weg stellte. Von „humanitären Korridoren“ war nicht einmal die Rede. Ganz im Gegenteil: Es wurden Streubomben mit verheerender Wirkung für Mensch und Natur eingesetzt, denen zynische Militärstrategen den Namen „Gänseblümchenschneider“ verpasst hatten. Da hätten eine kleine Fatimah oder ein kleiner Hassan noch so laut schreien können; keiner hätte diese Hilferufe auch nur hören wollen!

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Es ist augenfällig, dass ausgerechnet Staatsmänner, Generäle und Politiker im Westen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so unverblümt in Kategorien von Allmacht bei gleichzeitigem Vernichtungswahn schwelgten. Man höre sich beispielsweise die Rede von US-Präsident Harry S. Truman an, wie der Einsatz der ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki gerechtfertigt wurde. [4] Die Städte wurden bewusst fälschlich als „Militärbasis“ bezeichnet. Der Atombombeneinsatz diente eher Testzwecken „an lebendigen Objekten“, was das Massensterben unschuldiger Zivilisten in Kauf nahm, und dem Aufbau einer Drohkulisse gegenüber der damaligen Sowjetunion. Militärisch war Japan längst besiegt und ein Einsatz solch tödlicher Waffen strategisch gänzlich belanglos, was selbst unter hochrangigen US-amerikanischen Militärs unstrittig ist. [5]

Bereits sechs Jahre später befand sich die Welt tatsächlich am Abgrund eines Dritten Weltkrieges. Während des Koreakrieges (1950-53) hatte der frühere Oberbefehlshaber der Alliierten in Fernost und im Pazifik, General Douglas MacArthur, allen Ernstes erwogen, grenznahe chinesische Städte zu „pulverisieren“, d.h., sie durch den gezielten Einsatz atomarer Waffen dem Erdboden gleichzumachen. Auf diese Weise wollte der General den Krieg verkürzen und sein Ego in noch größerem Glanze erstrahlen lassen.

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Dazu schrieb der ausgewiesene Korea-Kenner und emeritierte Historiker an der University of Chicago, Bruce Cumings:

„In postum veröffentlichten Interviews behauptete MacArthur, einen Plan ausgearbeitet zu haben, mit dem er den Krieg innerhalb von zehn Tagen gewonnen hätte: ‚Ich hätte mehr als 30 Atombomben über das gesamte Grenzgebiet zur Mandschurei abgeworfen.‘ Anschließend hätte er am Yalu, dem Grenzfluss zwischen Nordkorea und China, eine halbe Million nationalchinesischer Soldaten – die sich nach ihrer Niederlage 1949 aus dem kommunistischen China nach Taiwan abgesetzt hatten – eingesetzt und dann zwischen dem Japanischen und dem Gelben Meer einen mit radioaktivem Kobalt verseuchten Landgürtel geschaffen. Da Kobalt zwischen 60 und 120 Jahre aktiv bleibt, wäre dann ‚mindestens 60 Jahre lang keine Invasion über Land nach Südkorea von Norden aus möglich gewesen‘. MacArthur war überzeugt davon, dass die Russen angesichts dieser extremen Strategie nichts unternommen hätten: ‚Mein Plan war bombensicher.‘“ [6]

Das ging Präsident Truman dann doch zu weit. Am 11. April 1951 musste MacArthur seinen Hut nehmen, was in seiner Heimat, wo er als Kriegsheld gefeiert wurde, zu beträchtlichen Protesten und Demonstrationen führte. Der Historiker Niall Ferguson verglich die seinerzeit innenpolitisch aufgewühlte Stimmung mit der römischen Geschichte:

„1951 war wohl der einzige Moment in der Geschichte, in dem Amerika kurz davorstand, das Schicksal der Römischen Republik zu teilen. Der Mann, der die Rolle Cäsars gespielt hätte, war General Douglas MacArthur. […] Er überschritt gewissermaßen den Rubikon, als er Truman auch öffentlich kritisierte. Die Herausforderung des Präsidenten fand nicht nur den Beifall, sondern auch die Unterstützung der Führung der Republikaner im Kongress sowie eines beachtlichen Teils der konservativen Presse. Als Truman ihn ablösen ließ und er zu Hause als Held empfangen wurde, schien die Verfassung zur Disposition zu stehen.“ [7]

„Vom 25. Juni 1950 bis zum 27. Juli 1953 (die Zeit des Koreakrieges – RW) kamen nach konservativen westlichen Schätzungen über 4,6 Millionen Koreaner ums Leben, einschließlich drei Millionen Zivilisten im Norden und 500.000 Zivilisten im Süden der Halbinsel“

hieß es in dem am 23. Juni 2001 in New York verkündeten Urteil des Korea International War Crimes Tribunal unter dem Vorsitz des ehemaligen US-Justizministers Ramsey Clark. Weiter hieß es in diesem Verdikt:

„Die Beweise für die US-Kriegsverbrechen, die diesem Tribunal präsentiert wurden, lieferten Augenzeugenberichte und Dokumente über Massaker an Tausenden Zivilisten, die von den US-amerikanischen Militärstreitkräften während des Krieges im Süden Koreas verübt wurden. Darüber hinaus gab es erdrückende Beweise der kriminellen, teils genozidmäßig betriebenen US-Politik im Norden Koreas, wo systematisch die meisten Häuser und Gebäude durch US-Artilleriefeuer und Luftangriffe in Schutt und Asche gelegt (…) und geächtete Waffen sowie biologische und chemische Kampfmittel im Krieg gegen seine Bevölkerung eingesetzt wurden.“

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Der Koreakrieg wird mitunter auch als „der Krieg vor Vietnam“ bezeichnet. Eine zutreffende Beschreibung, was das Ausmaß des Gemetzels betraf, in deren Verlauf auch und gerade manifester Rassismus und Antikommunismus als schmutzige Schaumkronen an die Oberfläche gespült wurden. Vernichtungsphantasien hegten vor allem solche Militärs wie Curtis E. LeMay, der sein Todes„handwerk“ als Kommandeur des XXI. Bomber Command und Oberbefehlshaber des strategischen Luftkriegs gegen Japan begann. LeMay war überdies verantwortlich für den Einsatz von Napalmbomben gegen japanische Städte, die während des Koreakrieges erstmalig flächendeckend und landesweit eingesetzt wurden. Allein Tokio wurde in den Monaten von Dezember 1944 bis August 1945 über 30-mal das Ziel US-amerikanischer Bombenangriffe, in deren Verlauf die Stadt zur Hälfte in Schutt und Asche gelegt wurde und weit über 100.000 Menschen ums Leben kamen. [8]

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde LeMay im Pentagon stellvertretender Leiter des Air Staff for Research and Development und 1947 nach Europa beordert, wo er die Position des Kommandeurs der US Air Forces in Europe (USAFE) übernahm. In dieser Funktion war er maßgeblich an der Organisation, Planung und Durchführung der Berliner Luftbrücke 1948/49 beteiligt. Als eingefleischter Antikommunist plädierte er für atomare Schläge gegen die Sowjetunion, bevor diese überhaupt über ein nennenswertes Arsenal solcher Waffen verfügte. Und bereits in der Frühphase des Vietnamkrieges machte er sich für eine zu der Zeit noch unpopuläre massive militärische Intervention stark:

„LeMay wird das sinngemäße Zitat unterstellt, man solle ‚Vietnam zurück in die Steinzeit bomben‘. Obwohl LeMay ab Februar 1965 nicht mehr im Amt war, wirkte sich seine militärische Doktrin insbesondere im nunmehr zum Krieg eskalierten Vietnamkonflikt nachhaltig aus. Seine Strategie massiver taktischer und strategischer Luftangriffe wurde alsbald von der US Air Force umgesetzt und als generelle Doktrin lange Zeit beibehalten. Die hieraus resultierenden Flächenbombardements Süd- sowie Nordvietnams, von Laos und Kambodscha forderten bei relativ geringer militärischer Wirkung hunderttausende zivile Todesopfer.“ [9]

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Als in den 1990er Jahren der einstige US-Verbündete Irak, der zuvor als Aggressor gegen Iran in Washington geschätzt war, zu einem unerbittlichen Gegner und Feind avancierte, wurde das Regime Saddam Husseins mit Bombenkampagnen erschüttert, mit schwerwiegenden Sanktionen abgestraft und über das Land Flugverbotszonen eingerichtet. Für den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton stand ein Regimewechsel in Bagdad hoch auf der politischen Agenda.

Am 12. Mai 1996 strahlte CBS News im Rahmen der von Leslie Stahl moderierten Sendung 60 Minutes ein Interview mit Madeleine Albright aus, die zu dieser Zeit Clintons UN-Botschafterin in Washington war. Die Interviewerin verwies in diesem Zusammenhang auf das bis dato verheerendste Sanktionsregime der Geschichte, das nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu einer Million Iraker das Leben kostete, die überwiegende Mehrheit von ihnen Kinder. Dann fragte Frau Stahl die Botschafterin: „Wir haben gehört, dass eine halbe Million Kinder gestorben sind. Ich meine, das sind mehr Kinder, als in Hiroshima starben. Und – und, wissen Sie, ist der Preis es wert?“ Madeleine Albright antwortete wörtlich: „Ich denke, das ist eine sehr schwierige Entscheidung, aber der Preis – wir denken, der Preis ist es wert.“ [10]

Halten Sie hier bitte einen Moment inne. Dann stellen Sie sich vor, heute tauchte ein hochrangiger russischer Diplomat in der Talkshow eines namhaften russischen Senders auf und erklärte en passant, 500.000 ukrainische Kinder „seien den Preis“ der „Sonderoperationen“ seines Landes gegen das Nachbarland wert – nicht auszudenken, welchen medialen Amoklauf ein solches Statement im „Westen“ provozieren würde!

Dieses ungeheuerliche Statement von Frau Albright, die ja immerhin nach ihrem Job als UN-Botschafterin als erste Frau zur Außenministerin der Vereinigten Staaten avancierte, fand seinerzeit in den westlichen Leit- oder Mainstream-Medien auffällig wenig Beachtung, von Empörung ganz zu schweigen. Zwar nahm, dass sei fairerweise hinzugefügt, diese Dame später ihre Bemerkung in 60 Minutes zurück und verwies darauf, dass sie sich seitdem bereits tausendfach entschuldigt habe. Das freilich klang wenig glaubwürdig aus dem Munde einer Person, die auch später sämtliche Aggressionskriege ihres Landes vollumfänglich befürwortete und unterstützte. [11]

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Anders klang die „Entschuldigung“ des Ex-„Falken“ und früheren Verteidigungsministers Robert S. McNamara, der auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges Mitte der 1960er Jahre als Verteidigungsminister im Pentagon das Zepter führte und in seinen Memoiren konstatierte: „Mit Blick auf Vietnam haben wir uns geirrt, schrecklich geirrt.“ [12]

In dem von Errol Morris gedrehten Dokumentarfilm The Fog of War [13] gesteht McNamara, wie Andreas Busche in seiner Rezension im Freitag anmerkte, aber gerade so viel an moralischer Verantwortung ein, wie für seinen Seelenfrieden verträglich ist:

„Morris, zweifellos ein technisch hervorragender Filmemacher, degradiert sich dabei zum Erfüllungsgehilfen. Gemeinsam mit McNamaras Autobiographie In Retrospect fungiert Fog of War als Lebenszeugnis eines Mannes, dem es angesichts der politischen Reichweite seiner Entscheidungen entschieden an kritischer Distanz mangelt. Er ringt sich schwerwiegende Selbsteinschätzungen ab wie die, dass, hätten die USA den Zweiten Weltkrieg verloren, er und General Curtis E. LeMay ganz sicher der Kriegsverbrechen angeklagt worden wären – um etwas später im Film, bei der Frage der Verantwortung für die Napalmteppiche, wieder in den Nebel des Vergessens abzutauchen. Die Antwort auf Morris‘ Frage, wer denn letztendlich die politische Verantwortung für den Vietnam-Krieg getragen habe, fällt eindeutig aus: Der Präsident.“ [14]

Busche weiter:

„Morris‘ dokumentarische Haltung erweist sich als schwammige Schein-Objektivität, wenn seine auffälligsten journalistischen Eingriffe in affirmativen Zurufen aus dem Kamera-Off bestehen. Aber nicht nur verbal gibt Morris seinem Gegenüber moralische Steilpässe. Die gesamte Bildmontage zielt darauf ab, McNamara zur historischen Autorität zu erheben. Ein Anspruch, der moralisch nicht gerechtfertigt ist. (…) Die Selbstsicherheit, mit der McNamara vor die Kamera tritt, ist von der ersten Sekunde an frappierend. Selbst wenn er von Brandbombenteppichen auf Tokio und schwerwiegenden militärischen Entscheidungen zu Zeiten des Vietnamkriegs spricht, nimmt er vor der Kamera jene autoritäre Haltung ein, die ihm schon in den fünfziger Jahren den Ruf eines arroganten Machtmenschen eingebracht hat. (…) ‚Sei darauf vorbereitet, deine Erfahrung stets neu zu hinterfragen‘ lautet die achte Lehre aus dem Leben des Robert S. McNamara. Einem Mann jedoch, der den Krieg als Schicksalsgebilde versteht, als eine Art Naturphänomen und nicht als einen von Menschenhand geschaffenen Umstand, will man solche Einsichten nicht so recht abkaufen.“ [15]

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Erinnern Sie sich noch an Mr. Jamie Shea? Das war jener Mann, der als Sprecher der NATO während des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen Jugoslawien im Jahre 1999 jeden Morgen mit verschmitztem Grinsen vor dem internationalen Pressekorps die letzten Kriegsmeldungen verkündete und kommentierte. Und das in einer Manier, als hätte der Mann mal wieder erfolgreich einen Reifenwechsel hinter sich gebracht. Shea ward der Prototyp ebenso verschlagenen wie knallharten Verdrehens, Abwiegelns, Lügens und gleichzeitig der Verkünder des „Kollateralschadens“, ein Wort, das bis dahin eigentlich nur in der Medizin und Biologie bekannt war. [16] Mr. Shea gebührt u.a. das „Verdienst“, dass in jenem Kriegsjahr als „Unwort des Jahres“ das Wort „Kollateralschaden“ gekürt wurde. Eine Entscheidung, welche die Jury seinerzeit wie folgt begründete:

Dieser in deutschen Medien nur halb übersetzte Begriff aus der NATO-offiziellen Berichterstattung über den Kosovo-Krieg vernebelte auf doppelte Weise die Tötung vieler Unschuldiger durch NATO-Angriffe. ‚Kollateralschaden’ lenkte mit seiner imponierenden Schwerverständlichkeit vom schlimmen Inhalt dieser Benennung ab und verharmloste – auch und gerade wenn man den Begriff wörtlich nimmt – die militärischen Verbrechen in diesem nicht erklärten Krieg als belanglose Nebensächlichkeit.“ [17]

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Bis zur Jahreswende 2017/18 galt die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK – Nordkorea) als weltweit ideeller Gesamtschurke, der sich anmaßte, sogar Interkontinentalraketen zu testen und internationalen Sanktionen die Stirn zu bieten. Um diesen „Schurken“ zurechtzuweisen und dem „Raketenmann“ – wie Nordkoreas Staatschef Kim Jong-Un von dem damaligen Machthaber im Weißen Haus gern karikiert wurde – Einhalt zu gebieten, holte US-Präsident Donald Trump Mitte September 2017 zu einem Rundumschlag aus und drohte der DVRK in seiner ersten Rede vor der UN-Vollversammlung in New York mit der „völligen Vernichtung“. [18] Sollte die Regierung Nordkoreas mit ihren Atomwaffen die USA oder amerikanische Verbündete bedrohen, so Trump, bliebe seinem Land keine andere Wahl, als einen noch nie dagewesenen Sturm von „Feuer und Zorn“ gegen die DVRK zu entfachen. Der Machthaber in Washington übte in seiner etwa 45-minütigen Rede gleichzeitig harsche Kritik an Iran, dessen Regime er einen Export von Gewalt und Extremismus vorwarf. Er deutete einen Ausstieg der USA aus dem internationalen Atomabkommen mit Teheran an.

Meines Wissens war dies das erste Mal, dass der weltweit mächtigste Politiker vor einem weltweiten Plenum offen die Vernichtung eines anderen Landes mitsamt seiner Bevölkerung androhte. Eine angemessene Reaktion darauf – nämlich sofort den Plenarsaal der Vereinten Nationen als Protest darauf zu verlassen – unterblieb! Anders viereinhalb Jahre später: Als der russische Außenminister Sergei Lawrow inmitten des Krieges gegen die Ukraine zugeschaltet wurde, verließen gleich scharenweise die Anwesenden den Saal.

Lindsey Graham, wie Trump Mitglied der Republikanischen Partei und seit 2003 Senator des US-Bundestaates South Carolina, vertrat mit Blick auf Nordkorea dieselbe Position, unterstützte vorbehaltlos die letzten Angriffskriege der USA und setzt sich heute für den massiven Einsatz von Drohnen zwecks Überwachung der Landesgrenzen ein. Anfang März machte er erneut auf sich aufmerksam, als er via Twitter Russen dazu aufrief, Präsident Putin zu töten. [19]

Titelbild: zef art/shutterstock.com


[«1] rnd.de/politik/ukraine-krieg-baerbock-ueber-sanktionen-das-wird-russland-ruinieren-RZDYS2DEPRK5OST7ZGGRZ6UN4I.html; handelsblatt.com/dpa/wirtschaft-handel-und-finanzen-baerbock-sanktionen-werden-russland-ruinieren/28107296.html?ticket=ST-10052798-jzLHWtSUjqN2A6jqegIc-ap4 & n-tv.de/mediathek/videos/politik/Beschlossenes-Sanktionspaket-wird-Russland-ruinieren-article23155892.html

[«2] Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Notstandssondertagung der VN-Generalversammlung zur Ukraine – Auswärtiges Amt * kiew.diplo.de/ua-de/-/2514782

[«3] Baerbock kritisiert Putin und verteidigt Nato-Politik: „Was er tut, ist Aggression hoch Tausend“ – Politik – Tagesspiegel * tagesspiegel.de/politik/baerbock-kritisiert-putin-und-verteidigt-nato-politik-was-er-tut-ist-aggression-hoch-tausend/28137068.html

[«4] Präsident Trumans Radioansprache zur Atombombe auf Hiroshima – SWR2 * swr.de/swr2/wissen/archivradio/praesident-truman-august-1945-radioansprache-atombombe-auf-hiroshima-100.html

[«5] Rainer Werning: „Regen der Zerstörung aus der Luft“ * nachdenkseiten.de/?p=63618

[«6] Bruce Cumings: Napalm über Nordkorea * monde-diplomatique.de/artikel/!662464 & Du-Yul Song/Rainer Werning: Korea: Von der Kolonie zum geteilten Land. Wien 2012: Promedia

[«7] Niall Ferguson: Das verleugnete Imperium. Chancen und Risiken amerikanischer Macht. Berlin 2004: Propyläen & William Manchester: American Caesar: Douglas MacArthur, 1880-1964. Boston 1978: Little, Brown and Co.

[«8] Johann Althaus: Curtis LeMay: Die US-Version von „Bomber“ Harris – WELT * welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article233173517/Curtis-LeMay-Die-US-Version-von-Bomber-Harris.html

[«9] de.wikipedia.org/wiki/Curtis_E._LeMay

[«10] youtube.com/watch?v=FbIX1CP9qr4

[«11] David Marchese: Madeleine Albright Thinks It’s Good When America Gets Involved – The New York Times * nytimes.com/interactive/2020/04/20/magazine/madeline-albright-interview.html & Amy Goodman: Democracy Now! Confronts Madeleine Albright on the Iraq Sanctions: Was It Worth the Price? | Democracy Now! * democracynow.org/2004/7/30/democracy_now_confronts_madeline_albright_on

[«12] Robert S. McNamara with Brian Van De Mark: In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam, New York 1995: Random House, Inc. / deutsche Ausg.: Robert S. McNamara: Vietnam – Das Trauma einer Weltmacht, München 1997: Goldmann – Kernpassagen daraus: „Wir haben uns schrecklich geirrt (…) Amerikanische Sprühaktionen haben zu keiner Zeit zu irgendeiner tatsächlichen und dauerhaften Sicherheit Südvietnams geführt (…).“ Die damals angenommene „nordvietnamesische Gefahr“ sei während des Kalten Krieges vollkommen überbewertet worden. Der Vietnamkrieg, so McNamaras rückblickendes Resümee, war „ein furchtbarer Irrtum.“

[«13] Errol Morris: The Fog of War (2003): errolmorris.com/film/fow.html

[«14] Andreas Busche: Im Kino ǀ Geschichte nach Art des Strategen – der Freitag * freitag.de/autoren/andreas-busche/geschichte-nach-art-des-strategen

[«15] Ebd.

[«16] Lutz Kinkel: Sprache der Politik (I): Jamie Shea und der Kollateralschaden | STERN.de * stern.de/politik/deutschland/sprache-der-politik–i–jamie-shea-und-der-kollateralschaden-3497804.html

[«17] Ebd. & eine kritische Würdigung Sheas liefert u.a. Ann Talbot: NATO-Sprecher Jamie Shea: Die Erziehung eines Kriegspropagandisten – World Socialist Web Site * wsws.org/de/articles/1999/06/shea-j22.html

[«18] Thomas Seibert: Rede vor Vereinten Nationen: Trump droht Nordkorea mit „völliger Vernichtung” – Politik – Tagesspiegel * tagesspiegel.de/politik/rede-vor-vereinten-nationen-trump-droht-nordkorea-mit-voelliger-vernichtung/20348626.html

[«19] US-Senator ruft zur Ermordung von Putin auf * berliner-zeitung.de/welt-nationen/us-senator-ruft-zur-ermordung-von-putin-auf-li.215394

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