Es war wohl das erste Mal, dass der Staatschef eines fremden Landes per Live-Schalte vor dem Bundestag sprechen durfte. Aber was ist schon normal in diesen Tagen? Wolodymyr Selenskyj gilt als Held unserer Zeit. Und zumindest aus Propagandasicht ist Selenskyj sicher ein Volltreffer. Aber das war es dann auch. Denn ein Held ist Selenskyj sicher nicht. Echte Helden führen keine Kriege, sie verhindern sie. Echte Helden sorgen sich um die, die ihnen lieb sind, und bringen sie nicht in Gefahr. Wäre Selenskyj ein Held, hätte er nach seiner Amtsübernahme vor drei Jahren das Minsker Abkommen umgesetzt und den Krieg im Donbas beendet. Damit hätte er seinem Land und seinen Bürgern viel Leid erspart. Doch für solche wahren Helden hat unsere Kultur nur Spott übrig; man erbaut ihnen keine Denkmäler, nach ihnen werden keine Straßen benannt. Wer jedoch unschuldige junge Männer für ein „höheres Ziel“ auf dem Schlachtfeld opfert, der geht als Held in die Geschichte ein. Zeit, unser Heldenbild zu überdenken. Von Jens Berger.
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Zugegeben: Wenn man den verzweifelt wirkenden Mann mit seinem Fünf-Tage-Bart und seiner Militärkluft so reden hört, dann bewegt das einen. Aber schnell erinnert man sich auch daran, dass dieser Mann früher einmal Schauspieler war und die Rolle des angeblich von der Welt alleingelassenen, kämpferischen Präsidenten, der sich verzweifelt gegen die Übermacht des Bösen zur Wehr setzt, wohl die Rolle seines Lebens ist. Die Show gehört zum Geschäft – gerade in unserer multimedialen Welt, in der Bilder mehr zählen als Inhalte. Oder gibt es einen rationalen Grund, warum man sich im edel eingerichteten Präsidentenpalast mit brauner Militärkleidung „tarnen“ muss? Das Setting stimmt und die Medienarbeit der ukrainischen Regierung ist wirklich fantastisch. Man muss den PR-Profis, die Selenskyj so wirkungsvoll in Szene setzen, Respekt zollen. Das würde Hollywood nicht besser hinbekommen.
In Deutschland gilt er nun als Held. Ob das gut oder schlecht für ihn ist, sei dahingestellt – Helden überleben selten bis zum Abspann. Unser Heldenbild ist durch die militaristische Vergangenheit geprägt, die unsere Kultur kennzeichnet. Und das schon sehr lange. Julius Caesar war einer dieser Helden. Er überzog Europa mit Angriffskriegen und hatte sicher hunderttausende Leben auf dem Gewissen – junge Männer, die man als „Feind“ bezeichnete und junge Männer, die unter seinem Kommando standen. Söhne, Väter, Brüder, Ehemänner. Ihnen wurden freilich keine Statuen errichtet. Dabei wäre auch ein Caesar ohne ihren Tod nie der große Held geworden, als den man ihn verehrt. Unsere Geschichte strotzt nur so von großen Helden mit Blut an ihren Händen. Nur wer über Leichen geht, wird in unserer Kultur ein anerkannter Held.
Dabei hat es immer schon auch echte Helden gegeben. Männer und Frauen, die den Feind nicht abgemurkst und seine Häuser und Felder vernichtet, sondern ihm und seiner Familie Unterschlupf gegeben haben. Männer, die es nicht süß und ehrenvoll fanden, für das Vaterland zu morden und zu sterben, sondern sich um ihre Familie gekümmert, ihre Söhne und Töchter großgezogen und sie nicht dem Kaiser, König oder Präsidenten als Kanonenfutter übergeben haben. Doch für diese echten Helden hatten die Geschichtsschreiber der Vergangenheit so wenig Interesse wie die Drehbuchschreiber der Gegenwart. Auch heute ist es noch süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben.
So gesehen passt ein Wolodymyr Selenskyj gut in das Heldenbild von Tacitus bis Spielberg. Das macht diese Heldenrolle aber weder besser noch glaubwürdiger. Was sind denn die Folgen dieses Heldentums? Abertausende Menschenleben, geopfert für die Frage, welcher Oligarch der Regierung sagt, was zu tun ist? Spielt es für den Bauern in der Bukowina eine Rolle, ob sein Land neutral oder in der NATO ist? Was interessiert es den Lehrer in Charkiw, ob seine Regierung über diese oder jene Waffen verfügt? Die Menschen wollen lieben, leben und ihrem Glück hinterherjagen. Sie wollen nicht für die großen Pläne einer kleinen Minderheit sterben. Und das gilt nicht nur in der Ukraine, sondern überall auf der Welt.
Ja, Wolodymyr Selenskyj hätte ein echter Held werden können. Was hätte denn rein rational dagegengesprochen, dass er nach seiner Amtsübernahme dafür gesorgt hätte, das Minsker Abkommen einzuhalten? Helden schicken keine rechtsradikale Soldateska gegen ihr eigenes Volk aus und geben nicht den Befehl, abtrünnige Regionen zu bombardieren. Hätte Selenskyj den acht Jahre andauernden Krieg im Donbas beendet, der nach UN-Angaben 15.000 Menschen das Leben gekostet und zehntausende Menschen zu Kriegsflüchtlingen gemacht hat – ja, dann wäre er ein Held gewesen. Ein Held, der seinem Volk viel Leid und Trauer erspart hätte.
Doch was ist so heldenhaft daran, nun immer mehr und immer tödlichere Waffen zu fordern? Waffen, die einen blutigen Krieg verlängern und die Zahl der Opfer ins Unermessliche steigern? Und was ist so heldenhaft daran, ständig an den Westen zu appellieren, sich in den Krieg auf ukrainischer Seite einzumischen? Man muss kein großer Militärstratege sein, um dies als den wahrscheinlichen Beginn eines Weltkriegs zu verstehen. Eines Weltkriegs zwischen Atommächten, die jeweils über ein Arsenal an Massenvernichtungswaffen verfügen, die ausreichen, um die gesamte Welt, wie wir sie kennen, zu vernichten. Ist das etwa heldenhaft?
Die Ukraine braucht jetzt einen Helden. Einen Helden, der diesem grausamen Krieg ein Ende setzt. Denn Putin, der ebenfalls ganz sicher kein Held, sondern ein Verbrecher ist, wird dies nicht tun. Ein echter ukrainischer Held würde nun dafür sorgen, das Blutvergießen zu beenden. Wenn der Preis dafür die Neutralität und der Abbau militärischer Kapazitäten ist, dann ist dies kein hoher Preis. Wolodymyr Selenskyj wird jedoch nicht dieser Held sein. Dafür bekommt er sicher einen heldenhaften Eintrag in den Geschichtsbüchern. Das Blut der Opfer trocknet schnell. Geschichtsbücher interessieren sich nicht für Söhne, Väter, Brüder und Ehemänner. So war es schon immer und so wird es wohl leider auch künftig sein.
Titelbild: © president.gov.ua