Diktatorendämmerung
Als Franklin D. Roosevelt einmal auf den nicaraguanischen Diktator und US-Partner Somoza García angesprochen wurde, antwortete er gänzlich pragmatisch: “Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn”. So unprätentiös drücken sich heutige Politiker natürlich nicht mehr aus, wenn sie ihr ganz besonderes Verhältnis zu den Potentaten der arabischen Welt beschreiben. Als der ägyptische Diktator Husni Mubarak vor wenigen Monaten auf Staatsbesuch in Deutschland war, bezeichnete Außenminister Westerwelle “unseren Hurensohn” noch als “Mann großer Weisheit mit einem festen Blick für die Zukunft”. Selbstverständlich wusste Westerwelle damals schon, dass “der Mann großer Weisheit” in seinem Land die Menschenrechte mit Füßen tritt, zehntausende politische Häftlinge eingekerkert hat und jegliche oppositionelle Tätigkeit mit äußerster Brutalität unterdrückt. Die Begriffe “Demokratie” und “Menschenrechte” sind für unsere Politiker jedoch zum Inhalt von Wahlwerbespots und Sonntagsreden verkommen und werden nur dann ins Spiel gebracht, wenn dies “deutschen Interessen” dient – das Wohlergehen des ägyptischen Volkes gehört dabei nicht zwingend zu den “deutschen Interessen”. Jens Berger
Ägypten ist für die deutsche und europäische Politik zuallererst ein Stabilitätsfaktor. De facto ist Ägypten seit 1952 eine Militärdiktatur mit präsidialem Anstrich. Im Kalten Krieg war das Land Spielball der Blöcke. Husni Mubarak war seit seiner Amtsübernahme im Jahr 1981 ein treuer Verbündeter des Westens. Neben der Abkehr von der Sowjetunion konnte das ägyptische Militärregime vor allem durch seine gemäßigte Positionierung gegenüber Israel im Westen Freunde gewinnen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Mubarak für den Westen vor allem als Bollwerk gegen den Islamismus von unschätzbarem Wert. Um diesen Zweck zu erreichen, war den Verbündeten jedes Mittel recht. Bereits seit 1995 war Ägypten der wichtigste US-Partner für die berüchtigten „Rendition“-Programme, bei denen Verdächtigte von den US-Behörden nach Ägypten überstellt wurden, um dort – abseits jeglicher Menschenrechte – gefoltert zu werden. Heute sitzen in Ägypten 17.000 politische Häftlinge ein, Folter ist die Regel und nicht die Ausnahme. Bei den politischen Häftlingen handelt es sich dabei keineswegs ausschließlich um Islamisten – auch Menschenrechtsaktivisten, Linke, Nasseristen, Gewerkschaftler und Liberale werden in Ägypten systematisch verfolgt. Der Preis für Stabilität war im Falle Ägyptens die Unterstützung einer folternden Militärdiktatur, die jegliche Opposition gewaltsam unterdrückt. Diesen Preis zahlte und zahlt der Westen jedoch gerne. In seiner Realpolitik ist kein Platz für “Demokratie” und “Menschenrechte”.
Hinter Israel ist Ägypten mit rund zwei Milliarden Dollar pro Jahr der weltweit größte Empfänger amerikanischer Transferzahlungen – alleine 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe fließen jedes Jahr von Washington nach Kairo. Auch Deutschland sorgt sich rührend um das Wohlergehen des ägyptischen Diktators. Die Zahl der genehmigten Waffenexporte hat sich von 2008 auf 2009 mit 77,5 Millionen Euro nahezu verdoppelt. Wenn ägyptische Sicherheitskräfte auf Demonstranten schießen, vertrauen sie dabei auch auf die deutsche Wertarbeit des Waffenherstellers Heckler & Koch. Ägypten ist mittlerweile das bedeutendste Empfängerland in der Liste der aus Deutschland mit Waffen belieferten Entwicklungsländer. Die Menschenrechtssituation spielte dabei nie eine große Rolle.
In den letzten Jahren ist Ägypten für Deutschland und die EU auch zu einem relevanten Handelspartner geworden. Im Vorkrisenjahr 2008 stiegen die deutschen Exporte nach Ägypten um 28%, während die Importe aus Ägypten sogar um 39% gesteigert werden konnten. Wohlhabende Ägypter lieben Automobile aus Sindelfingen und die Maschinen des stetig wachsenden verarbeitenden Gewerbes in Ägypten stammen ebenfalls häufig aus Deutschland. Im Gegenzug importiert Deutschland gerne ägyptische Agrarprodukte, die klimabedingt saisonal vor den europäischen Produkten auf den Markt geworfen werden können. Die Frage, warum sich die reiche Oberschicht immer mehr Qualitätsprodukte made in Germany leisten kann, interessiert hierzulande ebenso wenig, wie die Frage nach den Lohnkosten ägyptischer Bauern oder die Frage der verheerenden Wasserbilanz des ägyptischen Agrarsektors.
Jeder dritte Beschäftigte in Nordafrika muss von weniger als zwei Dollar pro Tag leben, die Jugendarbeitslosigkeit ist gigantisch, die Preise steigen rasant – sogar die FAZ spricht mittlerweile von einer „verlorenen Generation“. Das Land wird von einer schmalen Oberschicht ausgepresst, das Volk kann sich die elementarsten Dinge nicht mehr leisten und die europäische Wirtschaft bejubelt den Wachstumsmarkt. Für Goldman Sachs gehört Ägypten zur Gruppe der “Next Eleven” – elf Nationen, denen der Aufstieg zu Schwellenländern als nächstes zugetraut wird. Wenn das Geld fließt, drückt man nicht nur bei Menschenrechten, sondern auch bei sozioökonomischen Fragen hierzulande gerne die Augen zu.
Seit den jüngsten Aufständen in der arabischen Welt hat sich natürlich auch die Sprache der westlichen Politik flugs geändert. Auch wenn die deutschen “Nachrichtensender” lieber Konserven über “Megatrucks” und “Gefährliche Raubkatzen” ausstrahlen, während sich in Ägypten eine Revolution abspielt, stellt natürlich auch der deutsche Wähler Fragen. Warum demonstrieren die Menschen? Ist unser Lieblingsurlaubsland etwa keine lupenreine Demokratie? Warum haben unsere Politiker nie etwas dazu gesagt? Auf diese Fragen kann die Politik natürlich keine klaren Antworten geben, die den Wähler nicht verstören würden. Stattdessen lavieren die offiziellen Statements zwischen der Forderung, keine Gewalt gegen das eigene Volk anzuwenden, der Hoffnung auf Reformen und der Feststellung, die Stabilität der Region habe oberste Priorität. Zwischen den Zeilen hofft der Westen also, dass der Spuk auf Ägyptens Straßen möglichst rasch und unblutig sein Ende findet und das Militär weiterhin die Zügel fest in der Hand hält – anders ist nach westlicher Lesart die Stabilität der Region nämlich nicht zu garantieren. Demokratie und Menschenrechte, die eigentlich eine conditio sine qua non sein sollten, verkommen dabei zur Verhandlungsmasse.
Um diese Farce nicht allzu offensichtlich erscheinen zu lassen, erinnern Politik und Medien implizit immer wieder an die mangelnde Demokratiefähigkeit der arabischen Welt. Sollte es dort wirklich freie Wahlen geben, würde die Region islamistische Fundamentalisten, wie die ägyptische Muslim-Brüderschaft, wählen, so das publizierte Menetekel. Die relative Bedeutung dieser islamistischen Gruppierung ist dabei natürlich eine direkte Folge der vom Westen tolerierten Unterdrückung jeglicher Opposition. Die Muslim-Brüderschaft hat zumindest einen relevanten Organisationsgrad, während sämtliche zivilgesellschaftlichen Kräfte seit Jahrzehnten im Keim erstickt wurden. Mit Duldung des Westens konnten die Islamisten die virtuelle Oppositionsführerschaft übernehmen. Bis heute wird in den westlichen Medien die Machtfrage in der arabischen Welt meist so dargestellt, dass die einzig mögliche Alternative zu den kleptokratischen Diktaturen radikalislamistische Theokratien seien. “Alternativlos” ist jedoch zu Recht das Unwort des Jahres und auch die Machtfrage in den arabischen Ländern ist keinesfalls alternativlos. Sogar die Muslim-Brüderschaft ist – Experten zufolge – eine heterogene Bewegung, die in großen Teilen nicht radikal-islamistisch, sondern eher sozialkonservativ ist. Doch bei den momentanen Demonstrationen spielt die Muslim-Brüderschaft noch nicht einmal eine signifikante Rolle. Sie musste vielmehr wie der Hund zum Jagen getragen werden und schließt sich seit dem Wochenende halbherzig den Demonstrationen an.
Nicht die bärtigen Islamisten, sondern junge, gebildete Menschen, die in jedem Hochglanzprospekt der Goethe-Institute als Musterexemplare aufgeführt werden könnten, haben die Zündschnur angesteckt, die nun zu einem Flächenbrand des zivilgesellschaftlichen, friedlichen Widerstandes führte. Die Unruhen – aus denen Revolutionen wurden – hatten nie etwas mit Religion zu tun. Nicht etwa die Scharia, sondern ein Mindestmaß an Fairness, sozioökonomischer Beteiligung und Chancengerechtigkeit stehen auf dem Forderungskatalog der Demonstranten ganz oben. Dies sind die Werte, die in Sonntagsreden auch von unserer Politik gerne für Staaten und Regionen gefordert werden, deren Regierungen nicht pro-westlich sind. Jede westliche Regierung, die ihre Werte noch nicht auf dem Scheiterhaufen der Beliebigkeit geopfert hat, müsste nun hinter den zivilgesellschaftlichen Kräften stehen und sie nach besten Möglichkeiten unterstützen. Demokratie fällt nicht vom Himmel, sie muss erkämpft werden – genau dieser Kampf findet momentan in den Straßen Kairos statt und der Westen fabuliert gleichzeitig über die Wahrung der Stabilität. Das ist ein Schlag ins Gesicht der eigenen Werte.