Wie reagieren Eliten, wenn sie feststellen, dass ihr Deutungsmonopol aufgebrochen wird? Im zweiten Teil des NachDenkSeiten-Interviews mit Ulrike Guérot spricht die Politikwissenschaftlerin darüber, was der Verlust der Deutungshoheit für jene bedeutet, die daran gewöhnt waren, zu bestimmen, welche Themen diskutiert werden und wie die Diskussionen akzentuiert sind. Guérot, die gerade ein streitbares Essay unter dem Titel „Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen“ veröffentlicht hat, betont, wie wichtig für eine Demokratie das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Standpunkte ist: „Demokratie ist öffentlicher Streit, nicht zur Schau gestellter Konsens.“ In dem Interview verrät Guérot, was „politische Mündigkeit“ für sie bedeutet, spricht über „Konformitätsdruck“ und was es mit dem „Schweigen der Funktionseliten“ auf sich hat. Von Marcus Klöckner.
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Lesen Sie auch den ersten Teil des Interviews mit Ulrike Guérot, der gestern bei uns erschienen ist.
Wir sprechen jetzt über die positive Seite des Internets. Was bedeutet sie?
Im Kern könnte es bedeuten, dass die meritokratischen Elemente unserer Demokratien in Zukunft nicht mehr so viel Macht haben. Anders formuliert: dass eingespielte Diskurskoalitionen von Funktionseliten nicht mehr so reibungslos funktionieren wie früher und mithin bestimmte Deutungshoheiten über das Zeitgeschehen nicht ohne Weiteres – bzw. ohne Widerspruch – zum allgemeinen Glaubenssatz erklären können.
Durch das Internet wurde eben das Deutungsmonopol aufgebrochen.
Ja, und das würde auch erklären, warum während Corona so viel von Verschwörungen die Rede war. Eine irritierte Diskurskoalition, die ihre Macht, eine bestimmte Deutungshoheit durchzusetzen, schwinden sieht, reagiert mit Abwehr, Stigmatisierung und Ausgrenzung, indem sie die Gegenmeinung ins Reich der Verschwörung verweist. Das Kaschieren der eigenen Machtposition (und ihres Missbrauchs) gelingt immer weniger. Deswegen finde ich das jetzt in Frankreich bei den Éditions du Seuil, einem sehr seriösen Mittelinks-Verlag, ähnlich Suhrkamp, erschienene „Manifeste Conspirationiste“ (Das Manifest der Verschwörer“) aus anonymer Feder sehr interessant. Es beginnt mit dem Satz: „Nous sommes conspirationnistes, comme tous les gens sensés désormais.“ („Wir sind die Verschwörer, wie alle vernünftigen Leute heute“). Das heißt, man schleudert den Leitmedien und der durch sie organisierten politischen Öffentlichkeit heute jenes große und vehemente „Wir glauben euch nicht“ entgegen, von dem die katalanische Philosophin Marina Garcès 2019 in ihrer kleinen Schrift „Für eine radikale Aufklärung“ schon sprach.
Würden Sie das bitte etwas näher erläutern? Was meinen Sie damit?
Ich formuliere es anders: Es würde bedeuten, dass das sogenannte „Establishment“, also die liberalen Funktionseliten, nicht mehr so viel entscheiden und auf Dauer keine Herrschaftsdiskurse mehr zementieren könnten, die alle brav und unbestritten glauben. Damit würden Erzählungen, die letztlich die Macht- oder auch Einkommensstrukturen meritokratischer Eliten kaschieren und legitimieren, nicht mehr so gut funktionieren. Wir wären dann einem politischen System der bürgerlichen Auto-Gestion oder Selbstverwaltung, von der seit Simone Weil und (auch schon vorher) viele geträumt haben, ein Stück näher gerückt.
Die Tatsache, dass während Corona – aber nicht erst da – alle Informationen oder Thesen, die in alternativen Medien kursierten, vom Establishment als „Verschwörung“ abgetan werden mussten, spräche dafür, dass ein leitmediales System und Regierende, die sich auf dieses System stützen, tatsächlich Angst haben, sie könnten ihre Diskurshoheit verlieren und mithin politische Mehrheiten nicht mehr kontrollieren.
Was bedeutet diese Entwicklung im Hinblick auf das Verhalten der Funktionseliten?
Diese Bewegung werden wir beobachten müssen, denn es ist ja nicht ausgemacht, was meritokratische Eliten tun, wenn sie das Gefühl haben, sie verlieren die Kontrolle über die politischen Geschehnisse: Werden sie dem Druck der Straße nachgeben? Oder eher Gewalt anwenden, um diese zu kontrollieren?
Genau darum erleben wir ja heute eine gewisse politische Zuspitzung, die da lautet, dass liberale Eliten Gefahr laufen, tendenziell ins Autoritäre abzurutschen – zum Beispiel indem sie zentralisierte Überwachungs- und Kontrollsysteme des öffentlichen Raums mittels Impfpässen und Barcodes durchzusetzen versuchen – während andererseits das sogenannte „Volk“ auf Montagsspaziergängen auf der Straße protestiert und die Freiheit verteidigt, aber als „rechts“ gebrandmarkt wird. Eine der fatalsten Konsequenzen der Corona-Krise ist, dass die sogenannte „Rechte“ jetzt kulturelle Hegemonie über den Freiheitsbegriff hat: Wer Freiheit will, ist jetzt rechts. Die Wahl ist also zwischen autoritärer Schließung einer einst liberalen, aber inzwischen extremisierten Mitte oder freiheitlichem Populismus. Niemand kann das wollen! Der Freiheitsbegriff muss von der liberalen, bürgerlichen Mitte zurückerobert werden.
Sie beziehen sich in Ihrem Buch auf Giorgio Agamben. Wer ist das und warum sind seine Aussagen wichtig für Sie?
Nun, zum einen zeigt sich an Agamben jene Verschiebung klassisch liberaler oder sogar linker Positionen nach rechts. Agamben selbst war ja vor nicht allzu langer Zeit, zu Beginn der 2000er-Jahre, mit seinem Homo-Sacer-Projekt ein Star der Linksintellektuellen, bevor er jetzt auch als rechter Philosoph verschrien ist, weil er sich – anders als zum Beispiel Noam Chomsky oder Slavoi Zizek – nicht auf die Seite der hochgradig moralisierten Politik der unmittelbaren Lebensrettung während der Corona-Krise geschlagen hat.
Aus dem Homo-Sacer-Projekt ist für mein kleines Essay die Schnittstelle zwischen Hannah Arendt und Agamben über den Begriff der Souveränität wichtig, der ja ein politischer ist, weswegen eine Politik der verabsolutierten Lebensrettung, die „nur“ auf das sogenannte nackte, also unpolitische Leben zielt, eigentlich kein Gegenstand von Politik sein kann.
Agamben spricht von einem „geltenden, aber bedeutungslosen Recht“. Das spielt in Ihrem Essay eine Rolle. Was ist damit gemeint?
Agambens Hinweis auf das, was er das „geltende, aber bedeutungslose Recht“ nennt, ist tatsächlich zentral für mein Essay. Agamben meint damit, wenn Recht um jeden Preis eingehalten werden muss, es notwendigerweise para-totalitär wird. Hier liegt die Berührung zu Hannah Arendts „Banalität des Bösen“. Denn eine Demokratie beruht auf Normenakzeptanz, und nicht darauf, dass man irgendetwas Willkürliches oder Beliebiges (oder eben, wie Agamben sagt: Bedeutungsloses) – wie etwa Maskentragen im Freien – einfach nur macht, weil man es gesagt bekommt oder weil das jetzt einfach so ist.
Das zweite wichtige Buch von Agamben, erst kürzlich erschienen, ist „Die Politik der Körper“, worauf ich in Teil III des Essays eingehe. Da geht es um das, was ich die kapitalistische Landnahme der Körper nenne, also die Einbeziehung des Körpers in das politische Geschehen – die Impfpflicht, also die „Hergabe“ des eigenen Körpers für die Gemeinschaft, ist ein gutes Beispiel dafür. Das ist natürlich mit Kernbegriffen der politischen Theorie wie etwa Individuum, Autonomie, Souveränität, Identität, Mündigkeit oder Freiheit nicht vereinbar. Insofern versuche ich in Teil III die Skizze einer politischen Theorie in Zeiten einer biopolitisch-digitalen Wende der Politik.
In Ihrem Buch geht es auch um „Schweigen“ und in der Konsequenz auch um Widerstand. Sagen Sie uns bitte: Was meinen Sie mit „Schweigen“?
Nun, Schweigen heißt, etwas, das passiert, nicht gut zu finden, aber öffentlich, also nach außen – etwa im Bekannten- und Familienkreis oder unter Kollegen – nichts zu sagen. Kurz: zu privatisieren, die Gardine zuzumachen und der Wut oder Ablehnung nur am heimischen Tisch Raum zu geben. Das habe ich in Zeiten von Corona oft erlebt, übrigens am meisten in eher hochbürgerlichen Häusern von Funktionseliten in München, Frankfurt oder Hamburg. Da hat man in geschlossener Runde auf das Heftigste den Kopf geschüttelt, aber bei allen Maßnahmen mitgemacht und nichts gesagt, also geschwiegen.
Es gab auch einen ziemlichen Konformitätsdruck.
Ja, der war außerordentlich groß, die meisten hatten Angst, sie könnten, würden sie ihre Meinung offen sagen, gesellschaftlich anecken und stigmatisiert werden. Dabei hätten die Corona-Maßnahmen in dieser drastischen Form gar nicht durchgesetzt, geschweige denn durchgehalten werden können, wenn sich die bürgerlichen Funktionseliten ihnen widersetzt hätten. So aber hat man das „Laut-Werden“ – also das Nicht-Schweigen – der Straße überlassen, dem sogenannten „Volk“, dass dann für seinen Protest, zum Beispiel bei Demonstrationen oder später bei den Montagsspaziergängen, als „rechts“ diskreditiert wurde. Der Schweigespirale bei Corona entspricht also auch eine soziale Spaltung durch die Maßnahmen und das benenne ich in meinem Essay: Geschwiegen haben die, die von den Maßnahmen letztlich weder finanziell noch existenziell betroffen waren, sondern sich während des Lockdowns mit einem MacBook in irgendein Ferienhaus flüchten konnten. Den – diskreditierten bzw. diffamierten – Widerstand haben diejenigen geleistet, die entweder kleine Wohnungen, Existenzängste oder einen finanziellen Schaden durch die Maßnahmen hatten.
Was bedeutet für Sie politische Mündigkeit? Wie sollte ein Staatsbürger handeln, der „politisch mündig“ ist?
Mündigkeit ist zunächst ein inneres und äußeres Vermögen der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, zum Beispiel auch die Tatsache, selbst auf mich aufpassen und eine adäquate Risikoabschätzung machen zu können. Es heißt, für sich selbst sprechen und sorgen zu können. Älteren Leuten beispielsweise zu verbieten, ihre Enkel zu sehen, war darum tendenziell entmündigend. Es heißt zum Beispiel auch zu wissen, wie viel anderthalb Meter sind, ohne dafür an jedem öffentlichen Ort Klebestreifen auf dem Boden zu brauchen. In meinem Essay nenne ich das eine Politik der bürgerlichen Verdummung.
Ein mündiger Bürger im Kant’schen Sinne ist aber auch einer, der immer das öffentliche Ganze, also das Gemeinwohl, im Blick hat und der nicht irgendeinem Egoismus frönt. Hier sind während der Corona-Krise indes die meisten begrifflichen Umdeutungen passiert. Freiheit – nämlich sich eigenverantwortlich zu bewegen und dabei die Risiken zu schultern – war auf einmal Egoismus, während es „Freiheit“ war, von anderen Solidarität einzufordern (z.B. eine Impfung). Eine Demokratie ist aber keine Vollkasko-Versicherung, jeder trägt sein Lebensrisiko. Nur so kann eine Demokratie unter mündigen Bürgern funktionieren.
Sie haben nicht geschwiegen. Sie haben sich eingemischt, ihren Mund aufgemacht, auf Twitter, in Medien. Was ist dann passiert?
Zum einen ist es emotional anstrengend gewesen, denn es gab wirklich eiskalten Gegenwind, wenn man sich öffentlich maßnahmenkritisch geäußert hat. Zum anderen wurde man – teilweise geniert – darauf angesprochen, warum man sich denn bei Corona so äußern würde; oder gefragt, wann man denn wieder aus dem „Kaninchenbau“ herauskäme. Es gab auch radikalere Reaktionen, zum Beispiel die Nicht-Bewilligung von Projektanträgen wegen der „Meinung“ zu Corona oder Cancel Culture, also die Ausladung von Veranstaltungen. Es gab aber auch – und das war eigentlich das Neue und viel Wichtigere – von ganz vielen Personen, die man gar nicht kannte, einen unglaublichen Zuspruch via E-Mails oder Postings auf sozialen Medien. Sprich: Auch hier gab es – wie oben schon beschrieben – Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit. Das beschreiben ja alle, die sich öffentlich kritisch geäußert haben, ich bin da ja wahrlich nicht die Einzige, es gibt viel bedeutendere Personen. Für das gleiche (positive) Interview zum Beispiel über die Aktion #Allesdichtmachen im April 2021 hat man auf Twitter einen Shitstorm bekommen, aber zugleich unzählige begeisterte E-Mails. Publikum wie Öffentlichkeit waren also (oder sind es noch?) zutiefst polarisiert.
Sicher aber wollen Sie mit Ihrer Frage auf diese Rufmordkampagne hinaus, die mir Ende Juli 2021 angekündigt wurde und die dann tatsächlich mit anonymisierten IP-Adressen ab August 2021 meine ganzen Social Media Accounts in den rechten Schmutz, die Verschwörer-Ecke oder die sogenannte „Schwurbelei“ gezogen hat. Darum habe ich zum 1. September 2021 alle Accounts für sechs Monate deaktiviert und bin erst jetzt wieder zurückgekehrt. Das war eine sehr merkwürdige – um nicht zu sagen: unterirdische! – Erfahrung, zumal die ganzen Angriffe oder Anwürfe immer persönlich und nie mit Blick auf Argumente erfolgten, die man postete.
Der Spiegel hatte über Sie und Ihre Positionierung zum Thema Corona ein mehrseitiges Porträt verfasst. Das macht der Spiegel in der Regel nur bei Leuten, die eine ziemliche „Flughöhe“ erreicht haben. Was waren Ihre Gedanken, als Sie den Beitrag gelesen haben?
Naja, am Ende war das wohl ein ziemlich fairer Beitrag und in der Tat haben die meisten Leute mir gesagt: Drei Seiten im SPIEGEL, was willst du mehr? Obgleich ich das wiederum fast lakonisch fand, denn es geht ja nicht um das Porträt an sich, sondern um den Inhalt, mit dem ich eine Debatte auslösen wollte. Natürlich ist man als „Porträtierte“ immer überrascht davon, was dann genau in so einem Artikel steht, wenn man mehrmals mehrere Stunden mit einem Journalisten gesprochen hat. Man kennt ja nur selbst die Differenz zwischen dem Erzählten und dem Geschriebenen. Immerhin war es der Versuch des SPIEGELS, die problematische Diskussionskultur zu Zeiten von Corona zu thematisieren. Nur: Dafür, dass der SPIEGEL eigentlich ja so viel Geld haben soll, habe ich mich geärgert, dass er Jahre alte Fotos genommen hat ;-)
Haben Sie damit gerechnet, dass Sie so in die Kritik geraten würden?
Nein, wirklich nicht. Ich bin ja auch erst im Winter 2020/2021 so richtig in die öffentliche Diskussion zu Corona eingestiegen. Vorher habe ich noch im September 2020 ein kleines Buch über Europa nach der Corona-Krise verfasst und war dann sehr mit meiner Bewerbung bzw. Berufung an die Universität Bonn beschäftigt. Als dann im Herbst/Winter 2020 die Corona-Diskussion bzw. die Maßnahmen mit dem zweiten Lockdown einfach weitergingen – obgleich schon zum Sommer 2020 eigentlich klar war, dass viele der Maßnahmen überzogen waren – habe ich mich mit großer Naivität öffentlich geäußert, in der Annahme, ich würde eigentlich Banalitäten sagen: Zum Beispiel, dass das Ziel aller Maßnahmen die Beendigung aller Maßnahmen sein müsse. Oder dass Grundrechte unteilbar und unveräußerlich sind, und nicht zurückgegeben werden, wie es hieß. Einfache, selbstverständliche Dinge eigentlich. Da hatte ich aber unterschätzt, wie sehr sich die Dinge bereits verfestigt hatten, wie sehr die öffentliche Diskussion schon buchstäblich verbogen war und wie feindselig reagiert wurde, wenn man aus den eng gesetzten Leitplanken der Diskussion ausscheren wollte. Dass so scharf zurückgeschossen wurde – um es einmal so zu formulieren – das habe ich mir im Leben nicht vorstellen können. Es war wirklich sehr auffällig, zumal ich ja weder Amt noch Mandat habe, also eigentlich nicht wichtig oder einflussreich bin.
Was bedeutet es für das politische Klima und für die Meinungsfreiheit in einem Land, wenn Menschen wie Sie, wenn Bürger sich inhaltlich anders positionieren als der „Mainstream“ und dann so angegangen werden?
Die freie Meinungsäußerung ist die Grundlage jeder Demokratie. Wenn sie nicht mehr gewährt ist, ist die Demokratie eben in problematischem Fahrwasser. Deswegen ist es so wichtig und richtig, die Verformung unserer Diskussionskultur jetzt im Nachgang der Corona-Krise zu thematisieren, um daraus hoffentlich Lehren für die Zukunft zu ziehen. Der Meinungspluralismus muss unbedingt erhalten bleiben, er ist die Lebensader, ja, er ist die Demokratie. Demokratie ist Streit, nicht Einigkeit, das scheinen wir vergessen zu haben.
Ich beobachte immer wieder einen moralischen Rigorismus, der seinesgleichen sucht. Wenn sich jemand zu weit bei einem wichtigen politischen oder gesellschaftlichen Thema von „der“ Wahrheit des Mainstreams entfernt, ja, auch wenn Akteure sich zu sehr gegen die Machtpole in Opposition bringen, ist der Shitstorm nicht weit. Dann geht es nicht mehr um die Kraft der Argumente, um Rationalität, um Respekt und eine gepflegte Diskussion im Sinne des demokratischen Gedankens, dann geht es um Ausschluss aus der Gemeinschaft, es geht um Ächtung, es geht um die Vernichtung der beruflichen Existenz. Wie sehen Sie das?
Ich würde die Beobachtung eines zunehmend geschlossenen, moralischen Imperativs teilen und finde das auch bedenklich. Sahra Wagenknecht spricht in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ von einer liberalen Mitte, die zunehmend versucht, ihre eigenen normativen Setzungen, egal in welchem Bereich oder Diskurs, zu verabsolutieren. Daraus wird de facto schon eine Art „Bekenntniskultur“, die zunehmend mit Symbolen unterlegt werden muss. Diese normative Schließung um das eine moralisch Gute herum ist hochgradig problematisch, denn sie verweist auf eine Unterteilung in Gut & Böse und wer dabei nicht mitmacht, ist draußen, also gesellschaftlich bzw. politisch ausgegrenzt. Ausschluss oder Ächtung – ich nenne es in meinem Essay die „Politik der Verbannung“ – sind tatsächlich neue Features, die sich in unsere Gesellschaften hineingeschlichen haben, und die – schlimmer noch! – von Mehrheiten gutgeheißen, also als moralisch richtig empfunden werden.
Eine Demokratie aber ist eine offene Gesellschaft, und keine geschlossene Gemeinschaft um eine bestimmte Moral herum – zumal um eine, die man nicht kritisieren oder hinterfragen darf. Wir haben die moralische Überhöhung und den konsekutiven Ausschluss gruppenspezifischer Personen während Corona mit Blick auf die Nicht-Geimpften erlebt, die auf perfide Art und Weise von der Gesellschaft ausgegrenzt und entrechtet wurden. Wir erleben wegen des Konfliktes in der Ukraine derzeit mit Blick auf Russen und Russinnen eine moralisch überhöhte und inakzeptable gruppenspezifische Ausgrenzung (bis hin zu der Tatsache, dass zum Beispiel Ärzte sich weigern, Russen zu behandeln!) und verteilen gleichzeitig Solidaritäts-Sticker mit den ukrainischen Landesfarben, obgleich es eigentlich zum Wertekanon Europas auch zu Kriegszeiten gehört, zwischen Staatschefs und ihren Strategien oder Aggressionen und der Bevölkerung eines Landes zu unterscheiden. Putin steht nicht für die Russen! Das alles sind meines Erachtens Verformungen unserer gesellschaftlichen bzw. demokratischen Grundfesten, ja, es ist eigentlich eine Abwendung von aufklärerischen Prinzipien – Freiheit, Gleichheit, Würde, Rechte – die ich für höchst bedenklich halte. Moral, Ordnung, Nationalismus oder Pflicht sind Begriffe oder Kategorien, die man eher nicht mit Demokratien assoziiert.
Politische Entscheidungen bauen auch mehr und mehr auf das vorgeblich „Moralische“.
Ich beobachte, wie in jüngerer Zeit unter eindeutigem moralischen Imperativ und dem Zugzwang einer immanenten Krise oder Bedrohung sofort und alternativlos gehandelt werden musste, wobei in atemberaubendem Tempo Dinge politisch entschieden wurden, von denen immer gesagt wurde, sie würden nie gehen. Wegen des „Krieges gegen ein Virus“ wurden über zwei Jahre Grundfesten von Demokratie, Freiheit und Gerichtsbarkeit abgeräumt und 1,8 Milliarden der EZB fielen für Europa einfach vom Himmel. Wegen des Krieges in der Ukraine gibt es jetzt im Handumdrehen ein Sondervermögen für die Bundeswehr, beendet die Bundesrepublik ihre Tradition der Zurückhaltung in militärischen Konflikten und bricht ihr Gelöbnis, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern – und zwar ausgerechnet durch eine Regierung von SPD und Grünen.
Außer unserer Moral scheint es keinen Curser mehr für unser Handeln zu geben. Alle einstigen roten Linien sind abgeräumt und Krieg ist jetzt gleichsam die ultimative Rechtfertigung für fast alles. Ich glaube nicht, dass das gut ist. Ich glaube im Gegenteil, dass das hochgradig gefährlich ist, denn eigentlich sind wir schon längt in einem politischen Zustand und dazu in einem psychologischen Mindset, so dass jetzt quasi alles politisch möglich erscheint.
Wie kann es sein, dass es mittlerweile kaum noch möglich ist, zwei Personen, die eine fundamental andere Auffassung haben, öffentlich diskutieren zu lassen?
Ja, das ist wirklich ein großes Problem, das ich selbst schmerzhaft erlebt habe und zutiefst bedauere, denn ich wiederhole: Demokratie ist öffentlicher Streit, nicht zur Schau gestellter Konsens. Vor allem habe ich während der Corona-Krise bedauert, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten nicht mehr öffentlich mit Argumenten ausgefochten haben, sondern nur noch mit personalisierten Angriffen über soziale Medien. Eben weil die Diskussion so extrem polarisiert war – bzw. einige Argumente oder Fragen ja gar nicht zugelassen waren – so dass beide Seiten nicht mehr miteinander reden wollten, da von vorneherein klar war, dass man sich nicht von der anderen Seite überzeugen lassen würde. Das aber ist die Grundlage jeder Hermeneutik, nämlich davon auszugehen, dass der andere grundsätzlich recht haben könnte. Dies war umso trauriger, als dass ich viele meiner Kritiker oder „Gegner“ in dieser Diskussion persönlich kenne, zum Teil sogar sehr gut.
Wenn ich jetzt Namen nenne und damit ein Gebot der Anonymisierung durchbreche, dann, weil ich mir erhoffe, dass wir diese argumentative Auseinandersetzung jetzt in Zeiten des diskursiven Tauwetters in Sachen Corona nachholen und uns im besten Fall darüber versöhnen können. Vielleicht gibt es ja eine Stiftung oder Akademie, die als „Conveyer“ so eine Diskussion ausrichten würde? Zum Beispiel Armin Nassehi und ich haben uns mehrfach auf Twitter mächtig „bekriegt“, oder auch Patrick Bahners oder Robert Misik aus Österreich. Da wir uns alle duzen und die Handynummern voneinander haben, war das umso merkwürdiger, denn eigentlich hätte man doch zum Handy greifen und fragen sollen oder müssen, sag mal, was ist denn los? Warum können wir auf einmal nicht mehr miteinander reden, uns gegenseitig ernst nehmen oder respektieren? Nur mit Aleida Assmann konnte ich einen solchen Streit über Corona beilegen bzw. ihn von unseren anderen akademischen Diskussionen über Nation und Europa trennen und dafür möchte ich ausdrücklich danken, denn so sollte es sein.
Sie haben sich in den vergangenen Monaten etwas zurückgezogen, Sie haben Ihren Twitter-Kanal geschlossen und das Buch verfasst. Nun melden Sie sich mit der Veröffentlichung dieses Buches zurück – auch auf Twitter. Haben Sie eine Art Botschaft nach dem Rückzug?
Mit einem Buch hat man immer ein Interesse, nämlich dass es sich gut verkauft. Vor allem aber, dass die Gedanken oder Anregungen möglichst aufgegriffen und breit diskutiert werden. Ich habe das Essay ja geschrieben, weil ich finde, dass wir als Gesellschaft oder in Europa über sehr, sehr vieles nachzudenken und zu diskutieren haben, nämlich genau darüber: Wie wollen wir leben? So, wie die letzten zwei Jahre, wollen ja hoffentlich die Wenigsten leben… Und angesichts der kriegerischen Auseinandersetzung in der Ukraine ist es meines Erachtens dringender denn je, jetzt wirklich einmal ernsthaft – aber ernsthaft (!) – über eine konsequente politische Einigung und strategische Emanzipation des europäischen Kontinentes nachzudenken, und wie diese aussehen könnte. Das ist ja mein Leib-und-Magen-Thema: die Idee einer Europäischen Republik…
Insofern sollten wir eine gemeinsame Rückschau machen und die gemeinsame Zukunft, die wir wollen, ausdiskutieren, damit hier nicht viele das Gefühl haben, im Zuge des Imperativs einer Krise von als alternativlos vorgestellten Transformationsprozessen, die aber vor zwei Jahren keiner bestellt oder auch nur diskutiert hat – z.B. einer Impfpflicht oder eines digitalen Impfpasses – politisch überrollt zu werden, ohne dass wir unsere Zustimmung zu diesen Transformationsprozessen gegeben haben. Das ist das Diskussionsangebot meines Essays. Und um das breit zu bewerben, habe ich mich wieder in die sozialen Medien begeben. Wobei ich schon nach wenigen Tagen gemerkt habe: Twitter kann man leider echt vergessen…..
Lesetipp: Ulrike Guérot. “Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen“, Westend, 7. März 2022, 144 S., 16 Euro.