Normalerweise werden Personen, die milliardenschwere selbsternannte Philanthropen jüdischen Glaubens als Hintermänner der Weltpolitik bezeichnen, als Verschwörungstheoretiker bezeichnet. Doch aufgepasst! Hier gilt es zu differenzieren! Während es böse und falsch ist, westliche Milliardäre auf diese Art und Weise zu diffamieren, gilt für russische Milliardäre das genaue Gegenteil. Die tauchen auch nicht als vermeintliche Strippenzieher westlicher Angriffskriege in Telegram-Chats auf, sondern finden sich als vermeintliche Strippenzieher des russischen Angriffskriegs in der Ukraine auf den Sanktionslisten der EU wieder. Ist Ursula von der Leyen womöglich eine Schwurblerin, die an antisemitische Verschwörungstheorien glaubt? Das wäre doch mal ein Thema für taz und Tagesspiegel. Ein Glosse von Jens Berger
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Wäre Michail Fridman ein US-Amerikaner, würde man ihn wohl ehrenvoll als Philanthropen bezeichnen. Der aus einer jüdischen Familie im ukrainischen Lemberg stammende Fridman zählt mit seinem Mischkonzern Alfa Group zu den reichsten Russen. Seine Geschäfte sind in der Holding LetterOne gebündelt, einem in Luxemburg ansässigen Unternehmen, für das Fridman ganz sicher brav seine Steuern in der EU bezahlt. Fridman ist zudem Gründer und bis heute Vizevorsitzender des Russischen Jüdischen Kongresses und einer der größten Finanziers des European Jewish Fund, der sich europaweit in Projekten für eine Stärkung der jüdischen Identität einsetzt. Neben der russischen verfügt Fridman auch über die israelische Staatsbürgerschaft. Ja, wäre Fridman ein US-Amerikaner – er könnte sich als „Philanthrop“ vor Ehrungen, Auszeichnungen und Orden sicher kaum retten.
Doch Michail Fridman ist Russe. Und russische Milliardäre sind in der offiziellen westlichen Sprachregelung natürlich keine guten Philanthropen, sondern böse Oligarchen. Und wer Oligarch ist, muss auch ein Freund Putins sein und ist ohne Wenn und Aber für den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mitverantwortlich. Schließlich sei er ein „führender russischer Finanzier und Förderer von Putins innerem Kreis“. So, so. Wie kommt die EU eigentlich darauf? Hat sie sich etwa auf die „Recherchen“ des ehemaligen britischen Geheimdienstmitarbeiters Christopher Steele verlassen? Der hatte nämlich 2017 im Auftrag der Clinton-Kampagne ein höchst dubioses Dossier erstellt, mit dem belegt werden sollte, dass die Trump-Kampagne maßgeblich von der russischen Regierung bezahlt und gesteuert wird.
Kleiner Sidefact: Die Clinton-Kampagne wurde in der Tat maßgeblich von Milliardären wie George Soros finanziert – aber das sind ja die guten Milliardäre und Philanthropen. Hier geht es um böse Milliardäre, also russische Oligarchen.
Das „Steele-Dossier“ ist mittlerweile in so ziemlich allen Punkten als fabrizierte Verschwörungstheorie eingestuft. Michail Fridman gelang es sogar vor einem britischen Gericht, Christopher Steele erfolgreich auf Schadensersatz zu verklagen, wobei der Richter ausdrücklich die Behauptungen zu Fridmans engen Verbindungen zu Putin als „Lüge“ bezeichnete. Aber man kennt ja die innere Logik von Verschwörungstheorien. Vielleicht glaubt Ursula von der Leyen ja, dass der böse Oligarch oder gar Putin den Richter gekauft hätte? Wer weiß das schon?
Nun steht Michail Fridman also zusammen mit weiteren „Oligarchen“ auf der Sanktionsliste der EU und versteht die Welt nicht mehr. In einem Statement erklärte er: „Dies sind böswillige und vorsätzliche Unwahrheiten – schlicht und einfach das Produkt historischer Fantasien und Verschwörungstheorien, die von Privatpersonen mit ihren eigenen Absichten erdacht wurden.“ Nun will er die EU verklagen und man darf wirklich gespannt sein, ob die europäischen Gerichte den Verschwörungstheorien der EU-Kommission mehr Glauben schenken als ihre britischen Kollegen.
Aber wo wir schon mal bei Milliardären, Oligarchen und Philanthropen sind. Wie sieht es eigentlich auf der anderen Seite des Atlantiks aus? Kam die EU auf die Idee, beispielsweise George Soros zu sanktionieren, weil er als Oligarch mit Nähe zum Obama-System mitverantwortlich für die völkerrechtswidrigen Angriffskriege des US-Imperiums sei? Nein? Stand irgendein amerikanischer Milliardär jemals wegen der Verbrechen der US-Regierung auf so einer Liste? Nein? Warum nicht? Ach ja, US-Milliardäre sind ja ein Philanthropen und keine Oligarchen. Da kann man ja auch schnell mal durcheinanderkommen. Für Außenstehende ist es nun einmal nicht immer leicht, die innere „Logik“ von Verschwörungstheorien nachzuvollziehen. Vielleicht erklärt mir Ursula von der Leyen das ja mal, bei einem vertraulichen Geschwurbel unter dem Aluhut.
Erstaunlich ist jedoch, dass unsere sonst so alerten Wächter von Anstand und Moral zu diesem Thema schweigen. Ein jüdischer Philanthrop wird aufgrund von Verschwörungstheorien als maßgeblicher Hintermann einer Großmacht gesehen? Wie können taz, Tagesspiegel und Co. da nachts überhaupt noch ruhig schlafen? Auf geht´s, liebe Kolleg*innen. Ich gebe die Oberschwurblerin Ursula von der Leyen hiermit zum Abschuss frei und freue mich schon auf Eure Leitartikel.
Titelbild: Oleg Golovnev/shutterstock.com