Zugegeben, es ist ausgesprochen schwierig, sich eine sachlich fundierte und abgewogene Meinung zur militärischen Intervention Russlands und zur Entwicklung der Ukraine insgesamt zu bilden. Eine rationale Abwägung der Ursachen und der Umstände des schrecklichen Krieges in der Ukraine scheint nicht mehr möglich zu sein. So der Eindruck nach den Erklärungen von Scholz, Baerbock, Merz und der weitgehend mit ihnen korrespondierenden Medien. Sie verweigern die Wahrnehmung des Zusammenhangs zwischen der Entscheidung Russlands und dem Vorlauf transatlantischer und auch militärischer „Tätigkeit“ in der Ukraine; sie personalisieren (Putin) in extremer Weise und übersehen die eingetretene gefährliche Konstellation: Russland ist in die Enge getrieben. Bis hierher und nicht weiter, lautet der gezogene Schlussstrich. Wenn man diese Konstellation erkannt hat, dann muss man um der Sache und des Friedens willen vorsichtig mit dem Problem umgehen. Stattdessen wird Öl ins Feuer gegossen. Albrecht Müller.
Zur Information und zur Meinungsbildung der NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser verweise ich im Folgenden auf verschiedene wichtige Verlautbarungen – einige werden Sie schon kennen:
1. Bundeskanzler Scholz, Fernseherklärung vom 24.2.
2. Außenministerin Baerbock in: Was nun, Frau Baerbock? Darin sichtbar auch die Haltung von zwei „bedeutenden“ Journalistinnen/en
3. Oppositionsführer Friedrich Merz: “Putin fühlt sich bedroht durch die Demokratiebewegung in der Ukraine und in Belarus”, so Friedrich Merz, CDU-Parteivorsitzender, zur russischen Offensive.
4. Erklärung des russischen Präsidenten Putin vom 24.2.2022 mit seiner Begründung und Erklärung der militärischen Intervention: Ansprache des Präsidenten der Russischen Föderation am 24. Februar 2022 von Coop Anti-War Cafe Berlin
5. Eine eigene Analyse, aufgeschrieben vor zweieinhalb Jahren als Kapitel III.3. zur Manipulationsmethode „Geschichten verkürzt erzählen“ in: Albrecht Müller: Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut. – Dieses Kapitel, das Gedanken zur Erklärung des jetzigen Geschehens enthält, ist am Ende dieses Textes angefügt.
In diesem Kapitel habe ich übrigens ein Foto abgebildet, dass die ganze Misere des Umgangs des Westens mit Russland optisch zusammenfasst:
Ich zitiere die einschlägige Passage:
Es wird bei der Beurteilung der russischen Politik und insbesondere des Präsidenten Putin alles Mögliche angeführt, aber nicht die Tatsache, dass Putin im September 2001 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag, teilweise in Deutsch, weit reichende Angebote für die Zusammenarbeit gemacht hat. Das passt nicht ins Bild, deshalb wird es nicht berichtet. Genauso wenig wie die betretenen Gesichter deutscher Kabinettsmitglieder von Joschka Fischer bis Otto Schily, denen man anmerkte, dass Ihnen diese Friedensofferte nicht in den Kram passt, weil ihre amerikanischen Freunde sie auf Konfrontation eingestimmt hatten und haben.
Vermutlich ist die wichtigste Ursache des jetzigen Problems Ukraine/Russland die Abhängigkeit Europas von den USA und die direkte Einflussnahme der USA auf einzelne Staaten Europas und Europa insgesamt. Wir machen auch in diesen gravierenden Fragen keine eigene Politik. Wir folgen der Grundlinie der USA, die da nüchtern betrachtet heißt: Russland fertig machen.
Deshalb haben die USA große Mengen an Geld – 5 Milliarden $ – in die politische Umgestaltung der Ukraine investiert. Deshalb haben sie mit anderen zusammen die Ukraine militärisch kräftig ausgestattet, übrigens auch mithilfe der Milliarden-Summen, die Deutschlands Steuerzahler in der Ukraine „investiert“ haben. Denn das ist ja wohl klar: Wer Euro oder Dollar liefert, braucht keine Waffen zu liefern. Die werden mit diesem Geld gekauft. Die ansonsten um Waffenlieferungen herum geführte Debatte ist schlicht ein Hebel dafür, die in Deutschland Regierenden zulasten der Steuerzahler gefügig zu machen.
Wichtig für die Debatte und die Bewertung der militärischen Intervention Russlands, gegen die wir mit Recht anstreiten, ist die Erkenntnis, dass die militärische Intervention schon lange vor der russischen Intervention begonnen hat. Über diese empören wir uns zu Recht. Über die militärische und politische Intervention des Westens sollten wir uns genauso empören. Aber dazu sind die transatlantischen Dumpfbacken nicht willens und zur notwendigen Erkenntnis auch nicht fähig.
Auszug aus „Glaube Wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst“:
3. Geschichten verkürzt erzählen
Mit der Methode Geschichten verkürzt zu erzählen, werden viele Menschen unentwegt in die Irre geführt. Sie bestimmt über weite Strecken die öffentliche Debatte. Auf Basis dieser Manipulationen werden reihenweise politische Fehlentscheidungen getroffen und gedeckt. Typische Beispiele sind:
Wenn hierzulande über das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland berichtet und gesprochen wird, dann wird die Tatsache, dass West und Ost 1990 gemeinsam vereinbart haben, sich nicht mehr zu bedrohen und das Verhältnis auf die Idee der Gemeinsamen Sicherheit zu gründen, häufig weggelassen. Es war vereinbart worden abzurüsten. Jetzt wird so getan, als gäbe es diese Verabredungen nicht, ja als gäbe es die gesamte Entspannungs- und Friedenspolitik nicht.
Und natürlich wird auch vom Bruch der gegenseitigen Versprechen nichts erzählt. Nichts davon, dass schon die Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze ein übler Vertrauensbruch war. Nichts davon, dass und wie der Westen in der Amtszeit des russischen Präsidenten Jelzin in die inneren Verhältnisse Russlands hinein zu regieren versucht hat. Von diesen unglaublichen Machenschaften hat Naomi Klein in ihrem Buch »Schock-Strategie« eindrucksvoll berichtet. Das Buch ist 2007 in Deutschland erschienen und wurde erstaunlich erfolgreich vergessen gemacht.
Es wird bei der Beurteilung der russischen Politik und insbesondere des Präsidenten Putin alles Mögliche angeführt, aber nicht die Tatsache, dass Putin im September 2001 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag, teilweise in Deutsch, weitreichende Angebote für die Zusammenarbeit gemacht hat. Das passt nicht ins Bild, deshalb wird es nicht berichtet. Genauso wenig wie die betretenen Gesichter deutscher Kabinettsmitglieder von Joschka Fischer bis Otto Schily, denen man anmerkte, dass ihnen diese Friedensofferte nicht in den Kram passt, weil ihre amerikanischen Freunde sie auf Konfrontation eingestimmt hatten und haben.
Zweites Beispiel: Zum Syrien-Konflikt fängt die Geschichte damit an, dass man empört erzählt, der syrische »Diktator« – wahlweise »Machthaber« – lasse Fassbomben auf syrische Kinder werfen und die Russen würden wahllos syrische Städte einschließlich der Krankenhäuser bombardieren. Die Vorgeschichte wird nicht erzählt: Nicht, dass der Westen einen Regime Change in Syrien beschlossen hatte und zu diesem Zweck mithilfe verschiedener Golfstaaten auch Islamisten und Terroristen für den Einsatz in Syrien bezahlt und bewaffnet hat. Es wird nicht berichtet, dass dieser Konflikt schon 2011 begonnen wurde und Russland erst ab September 2015 und auf Bitten des syrischen Präsidenten intervenierte. Nicht erzählt wird, dass auch Deutschland von spätestens 2015 an mit dabei war, ab 2011 hat sich Deutschland schon an Sanktionen gegen Syrien beteiligt und mitgeholfen, das syrische Volk auszuhungern.
Ganz selbstverständlich wird bei uns weder von den Medien noch von der Bundesregierung davon berichtet, dass Deutschland wegen der Nutzung der US-Stützpunkte in nahezu alle diese Kriege involviert ist. Und es wird auch den Nachrichten nicht nachgegangen, dass Deutschland – zusammen mit Menschen, die sich berechtigt Flüchtlinge nennen – auch Islamisten aus Syrien aufgenommen hat.
Drittes Beispiel: Der Ukraine-Konflikt. Viele Medien – und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier datieren die Ukraine-Krise auf die militärische Unterstützung Russlands für die Aufständischen in der Ost-Ukraine und auf die Annexion der Krim. Weggelassen wird quasi alles Wichtige, was davor geschah: Die erwähnte Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze, der Versuch von EU und NATO, auch die Ukraine einschließlich der Krim und damit die Militärbasis Russlands in Sewastopol in den Bereich der EU und der NATO einzubeziehen. Es wird weggelassen, was die USA an Propaganda und – wie sie es nennen – demokratischer Aufbauarbeit in der Ukraine veranstaltet haben. Sie haben nach Auskunft der zuständigen US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland 5 Milliarden Dollar – Milliarden!, nicht Millionen – in der Ukraine eingesetzt. Auch die westlichen Inszenierungen zum Maidan, die Umstände des Staatsstreichs gegen den amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch und der Einfluss rechter Gruppen in der Ukraine werden bei der Erzählung nicht aufgenommen. Es wird auch nicht darüber aufgeklärt, welche Rolle die Außenminister von Polen, Frankreich und Deutschland, namentlich Steinmeier, im Februar 2014 in Kiew gespielt haben.
Man kann alle diese Interventionen ja rechtfertigen, aber man kann sie bei der Erzählung der Geschichte nicht einfach weglassen.
Noch ein Beispiel aus einer ganz anderen Welt: Eine bemerkenswerte Verkürzung machen nahezu alle bei der Diskussion von Freihandelsabkommen (TTIP, CETA) mit. Dass die weitere Erweiterung des Welthandels sinnvoll sei, wird von vornherein als richtig unterstellt. Dabei wird unterschlagen, dass wir jetzt ja schon einen beachtlichen Grad an Welthandel haben und die viel beschworene Globalisierung bei weitem nicht so neu ist, wie behauptet wird. Außerdem wird verschwiegen, dass der nationale und internationale Verkehr immer größere Probleme bringt, dass er eine ökologische Belastung ist, dass wir der Lkw-Flotten schon gar nicht mehr Herr werden und dass der Verkehr darüber hinaus oft subventioniert ist, jedenfalls nicht die vollen Kosten trägt, also nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch fragwürdig ist. Wo ist die Diskussion um Verkehrsvermeidung geblieben? Und wo die Diskussion um die Dezentralisierung der Wirtschaftsräume? Sind das alles irrelevante Gedanken gewesen?
Wenn Sie die Geschehnisse, Argumentationen und Interpretationen durchschauen wollen, dann müssen Sie diese Methoden, im konkreten Fall die Methode einer verkürzten Erzählung einer Geschichte beherzigen. Prüfen Sie immer wieder, welche Tatsachen präsentiert werden und welche Veröffentlichungen miteinander in Konflikt geraten. Lassen Sie sich nicht von anderen missbrauchen. Fragen Sie selbst nach der ganzen Geschichte. Auch hier hilft und animiert Naomi Kleins Buch auf vorbildliche Weise, die ganze Geschichte eines Vorgangs zu durchschauen.