Russland, die „Stadt auf dem Berge“ und der große Wahn. Von Thomas Bargatzky
Der Autor des folgenden Textes war Professor für Ethnologe und arbeitete immer wieder auch über sicherheitspolitische Fragen. Dazu hat er 2020 ein Buch veröffentlicht: „Der große Wahn. Der neue Kalte Krieg und die Illusionen des Westens“. – Ich habe ihn gebeten, seine wichtigsten Beobachtungen für die NachDenkSeiten zusammenzufassen. Seinen Text über ideologische Hintergründe des aktuellen Konflikts – irre ideologische Hintergründe, wie ich meine – geben wir unseren Leserinnen und Lesern hiermit zur Kenntnis und zur Diskussion. Albrecht Müller.
Russland, die „Stadt auf dem Berge“ und der große Wahn.
Ratlosigkeit breitet sich aus: Wie konnte es zu der bedrohlichen Konfrontation zwischen Russland und den USA kommen, die sich im Kampf um die Ukraine manifestiert? Vor allem jene, die sich noch an die Ostpolitik der SPD und Willy Brandts erinnern und hinter ihr standen, können nur ungläubig den Kopf schütteln. Was bewegt die euro-amerikanischen politisch-medialen Eliten, sich zu solch potentiell selbstmörderischem Handeln hinreißen zu lassen?
Die Ukraine sei ein wichtiger geopolitischer Dreh- und Angelpunkt auf dem europäischen Schachbrett, schreibt Zbigniew Brzezinski in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ („The Grand Chessboard“, 1997). Ohne die Ukraine sei Russland kein eurasisches Reich mehr. Sollte Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges, Europa und Asien umspannendes Reich zu werden.
Selbstverständlich geht es im Auftreten des Westens gegenüber Russland auch um geopolitische Machtprojektion und Wirtschaftsinteressen. Der Widerstand gegen Nordstream 2 ist ein Beispiel. Deutschland soll ja nicht nur teures US-Flüssiggas kaufen, sondern zugleich auch die Rolle des Dollars als Petrodollar und weltweit dominierende Reserve- und Leitwährung stützen – die Rechnungen würden ja mit Greenbacks bezahlt. Aber die Verengung des Blicks auf wirtschaftliches und politisches Kalkül alleine würde uns ratlos zurücklassen. Um die Feindseligkeit der amerikanischen Eliten und ihrer europäischen Brüder und Schwestern im Geiste gegenüber Russland zu verstehen, müssen wir tiefer schürfen. Auch bestimmte Ideen spielen eine ausschlaggebende Rolle. Menschliches Handeln wird stets auch durch fundamentale, nichthinterfragte Ideen geleitet. Das führt oft in eine Sackgasse, aus denen wir nur schwer wieder herausfinden. In solch einer Sackgasse befindet sich der Westen heute.
Nach der von US-Präsident Richard Nixon eingeleiteten Entspannungspolitik mit China und Präsident Ronald Reagans Interessenausgleich mit der Sowjetunion in Gestalt seiner Abrüstungspolitik wird China längst wieder als Bedrohung wahrgenommen, aber vor allem Russland gilt wieder als Hauptfeind des Westens. Dabei ist die Kriegsgefahr heute größer als jemals seit dem Ende des Kalten Krieges, weil die NATO von einem reinen Verteidigungsbündnis zu einem Werkzeug der globalen amerikanischen Machtprojektion umgewandelt wurde, das sich gleichsam bis an die Türschwelle Russlands ausbreitete.
Im politischen Handeln des Westens in der gegenwärtigen Weltlage kommen zwei fundamentale Leitideen zum Ausdruck, die den Ballast klischeeverhafteter Vorstellungen mit sich tragen. Die erste Leitidee ist „Asiens Drang nach Westen“. Die zweite Leitidee, Amerika als „Stadt auf dem Berge“ (Matthäus 5,14) und leuchtendes Vorbild für alle Völker der Erde, ist tief im Denken der Amerikaner angelsächsischer Herkunft verwurzelt und bestimmt bis in die Gegenwart die politische Rhetorik und das Handeln der US-amerikanischen Eliten. Amerika als „auserwählte Nation“ sei aufgrund ihrer „offenkundigen Bestimmung“ (manifest destiny) dazu ausersehen, der Welt das Heil zu bringen, und zwar in Form der Demokratie nach amerikanischem Muster in jedem Land der Welt. Diese Leitidee ist die spezifisch amerikanische Ausprägung allgemein-angelsächsischer Überlegenheitsphantasien, die in rassistischer Färbung das Denken im 19. Jahrhundert prägten und gegenüber China und Russland auch noch heute prägen.
Die zweite Leitidee ist zwar die jüngere, aber seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang der Sowjetunion entfaltet sie eine auf globale Veränderung gerichtete Triebkraft, die droht, die Welt in den Abgrund zu stürzen.
„Asiens Drang nach Westen“
Das Verhältnis der Europäer zum Osten war seit jeher durch Zwiespältigkeit geprägt. Einerseits heißt es: „ex oriente lux“ – aus dem Osten kommt das Licht höherer Kultur und tieferen Wissens, andererseits weckte der Osten Urängste vor dem innerasiatischen Raum, aus dem immer wieder Völker nach Westen drängten und Europa bedrohten, wie es der Althistoriker Franz Altheim in seinem Buch „Reich gegen Mitternacht“ darstellt. Der moderne Widerhall dieser Ideen findet sich in Brzezinskis oben erwähnter geostrategischer Programmfibel für die USA als „einziger Weltmacht“ nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Eine geostrategische Sicht auf Eurasien beherrschte auch das Denken des englischen Geographen Halford Mackinder. Russland tritt an die Stelle des Mongolenreichs, schrieb er 1904 in dem Artikel „The Geographical Pivot of History“, der die Ängste der anglophonen Welt vor einem Zusammenschluss der beiden Kontinentalmächte Deutschland und Russland auf den Punkt bringt – eine Angst, die ja heute noch besteht. Auf der Bühne der Weltpolitik, so Mackinder, habe Russland die zentrale strategische Position inne, die Deutschland in Europa besitzt. Wer aber das „eurasische Kernland“ beherrscht, der beherrsche die Welt.
Die „maritime Ergänzung“ zu Mackinders Kernland-Theorie stammt von Nicholas Spykman. Sie betont die Bedeutung der „Randländer“ Eurasiens (Rimland) für die geopolitisch basierte Machtprojektion der USA. Wer die für den Welthandel vitalen maritimen Handelsrouten längs der Randländer kontrolliert, kann Bestrebungen der politisch-wirtschaftlichen Einigung Eurasiens konterkarieren.
Die Auseinandersetzung mit dem Werk Mackinders und Spykmans, das seine Fortsetzung in Zbigniew Brzezinskis geopolitischen Entwürfen findet, lohnt sich auch heute noch, da ihre Ideen musterbeispielhaft die westlichen Einstellungen langer Dauer bezüglich Russlands und Chinas zum Ausdruck bringen. Von ihnen führt ein direkter Weg zu den geostrategischen Leitideen, die das politische Handeln des Westens auch noch heute bestimmen, nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Der Wiederaufstieg Russlands und Chinas Projekt einer Eurasien umfassenden Infrastruktur – Stichwort: „Neue Seidenstraße“ – sind für die herrschenden Kreise im Westen Grund genug, sich von solchen Ideen inspirieren zu lassen.
Die „Stadt auf dem Berge“ als „gutmütiger Hegemon“
Der bald nach Präsident Reagans Amtszeit erfolgte Zusammenbruch der Sowjetunion, der schnelle Sieg im Ersten Irak-Krieg 1991 und die Auflösung des Warschauer Paktes im selben Jahr lösten Triumphgefühle sondergleichen im Westen aus. Freie Marktwirtschaft, Demokratie und der „American way of life“ hätten gleichsam das „Ende der Geschichte“ herbeigeführt, wie Francis Fukuyama verkündete, einer der akademischen Hofsänger, die sich in den „Denkfabriken“ im Machtzentrum der „einzigen Supermacht“ USA tummeln. Reagans Nachfolger im Präsidentenamt, George H.W. Bush, gab schon seit 1990 in mehreren Reden vor dem Kongress die Parole von der „new world order“ aus, der „neuen Weltordnung der Freiheit und Menschenrechte in jedem Land der Erde“.
Der den US-Demokraten nahestehende Journalist Thomas L. Friedman feiert die USA in dem langen Essay „A Manifesto for the Fast World“ (New York Times, 1999) als „gutmütigen Hegemon“, der für die Sicherung der Globalisierung unverzichtbar ist: „Die unsichtbare Hand des Marktes“ könne niemals ohne die „unsichtbare Faust“ wirksam sein – McDonald kann nicht ohne McDonnell Douglas florieren, den Hersteller des Mehrzweckkampfflugzeugs F-15. All der Reichtum, der mit Hilfe der Unternehmen im Silicon Valley erzeugt wird, brauche eine Welt, die durch eine „gutmütige Supermacht“ stabilisiert wird und deren Hauptstadt sei Washington, D.C.
Denkfabrik-Ideologen aus dem Umfeld der Republikaner wie Robert Kagan nahmen die Parolen von der „neuen Weltordnung“ auf und verbanden sie mit der Leitidee von Amerika als der „unverzichtbaren Nation“ (indispensable nation). Eine „neue Weltordnung“ der allgemeinen Demokratisierung und des Wohlstands müsse unter „American leadership“ aufgerichtet werden. Asiens Drang nach Westen, getragen von China und Russland, müsse gleichsam jetzt und für alle Zeit von der außerordentlichen, unverzichtbaren „Stadt auf dem Berge“ abgewehrt werden. Dieses Gedankengut konnte sich während der Präsidentschaft von George W. Bush von den Republikanern und Barack Obama von den Demokraten voll entfalten.
Eine kurze Geschichte der Idee der „offenkundigen Bestimmung“
General Mahmoud Ahmed, der Leiter des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI (Inter Services Intelligence), hielt sich im September 2001 zu einem der regelmäßigen Konsultationsbesuche in den Vereinigten Staaten auf und traf sich am frühen Morgen des 11. Septembers mit den Vorsitzenden der Geheimdienstausschüsse des Repräsentantenhauses und des Senats. Um die Mittagszeit des folgenden Tages bestellte der amerikanische Vizeaußenminister Richard Armitage den pakistanischen General zu einem Gespräch ein. General Ahmed wollte mit dem amerikanischen Politiker über die Geschichte der Beziehungen zwischen den USA und Pakistan sprechen, aber Armitage schnitt ihm das Wort ab: „Ich kenne die Geschichte Pakistans sehr gut, General, aber wir sprechen über die Zukunft, und für Sie und uns beginnt die Geschichte jetzt“. In seinen Memoiren empört sich Pakistans Präsident Pervez Musharraf über Armitage, der Pakistan vor die Wahl stellte, sich entweder für Amerika zu entscheiden oder von den USA in die Steinzeit zurückgebombt zu werden.
Armitages Sorgen wegen der Beziehungen zwischen dem Verbündeten Pakistan und den Taliban waren nicht unbegründet. Was seine Auslassungen in dem hier zur Debatte stehenden Zusammenhang so bemerkenswert macht sind jedoch die brüsken Worte: „Die Geschichte beginnt jetzt“ („history starts now“). Die Geschichte beginnt jetzt: Das heißt, wir haben eine Mission, und die werden wir erfüllen, ganz gleich, welche historisch begründbaren Ansprüche ihr ins Feld führt, und wenn dafür Krieg geführt werden muss, dann werden wir ihn gewinnen.
Amerika als die außerordentliche Nation, die beauftragt ist, eine neue Weltordnung herbeizuführen, mit der die Geschichte von Neuem beginnt und für die die Vergangenheit keine Rolle spielt: Armitage beschwor hier Denkfiguren, die in das angelsächsische amerikanische Bewusstsein von Anbeginn an gleichsam eingebrannt sind. Bereits zur Zeit der Gründung der Neuengland-Kolonien gewann die Vorstellung vom eigenen Auserwähltsein den für die späteren USA typischen weltrevolutionär-radikalen und missionarisch aufgeladenen Schwung.
Amerikas „Mission“, die Welt als auserwähltes Volk zu erneuern, hatte schon der puritanische Laienprediger, Anwalt und Politiker John Winthrop in seiner Predigt „A Model of Christian Charity“ verkündigt. „Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein“. Mit diesen Worten aus der Bergpredigt (Matthäus 5,14) wandte er sich 1630 an die Siedler der Massachusetts Bay. Sie sollten eine „Stadt auf dem Berge“ in der Nachfolge Jesu Christi errichten, der ganzen Welt als Zeichen und zum Vorbild. Winthrop stiftete damit gleichsam das inoffizielle Motto der späteren USA, denn das Selbstbewusstsein des amerikanischen Volkes, das sich aus der Gewissheit speist, zum Träger einer besonderen menschheitsbeglückenden „offenkundigen Bestimmung“ (manifest destiny) berufen zu sein, findet in der Metapher der „Stadt auf dem Berge“ den passenden Ausdruck.
Thomas Paine, der Propagandist der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, knüpft in seinem Traktat „Common Sense“ (1776) an den Gehalt der Metapher der Stadt auf dem Berge an und verschärft sie zugleich. Die Gründung der USA entspricht bei Paine der Neuerschaffung der Welt nach der Sintflut: „Wir sind dazu aufgerufen, und die Gelegenheit ist nun vorhanden, die edelste und makelloseste Verfassung auf dem Antlitz der Erde zu schaffen. Es steht in unserer Macht, die Welt neu zu beginnen. Seit den Tagen Noahs gab es keine Lage mehr, die der heutigen gleicht. Die Geburt einer neuen Welt steht bevor“.
Die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika entspricht also der Neuerschaffung der Welt nach der Sintflut. Durch sie wird ein neues Kapitel im Buche des Bundes zwischen Gott und der Menschheit aufgeschlagen. Die Vereinigten Staaten werden durch diese Worte in eine Heilsgeschichte eingerückt, in der die Vergangenheit bedeutungslos ist. Was zählt schon die Geschichte, wenn die Zukunft der eigentlichen, wahren neuen Welt vor uns liegt? Die Bürger der Vereinigten Staaten sind dazu auserwählt, sie in der „Stadt auf dem Berge“ dem Rest der Menschheit vorzuleben und die Welt schließlich in diesem Sinne umzuerziehen und umzugestalten.
Die Überzeugung von der amerikanischen Auserwähltheit und der zivilisatorischen Mission der Vereinigten Staaten fand im 19. Jahrhundert in der griffigen Formel „manifest destiny“ (offenkundige Bestimmung) ihren bündigen Ausdruck. Als ihr Urheber gilt der Journalist John O’Sullivan. Im Jahre 1839 veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „The Great Nation of Futurity“. Mit eindringlichen Worten beschwört er darin die Bestimmung der USA als Land der Zukunft. Die Geschichte anderer Länder sei ohne Bedeutung für die neue amerikanische Nation, denn sie biete dem amerikanischen Volk nichts außer abschreckenden Beispielen.
Von O’Sullivans „manifest destiny“ führt ein direkter Weg zu einer weiteren Leitidee des amerikanischen Selbstbewusstseins: der sogenannten „Frontier-These“. Der Historiker Frederick Jackson Turner veröffentlichte 1893 seine Schrift „The Frontier in American History“ über die Bedeutung der Grenze in der amerikanischen Geschichte. Darin verkündete er seiner Leserschaft, dass die egalitäre, demokratische, freiheitliche Gesinnung der Amerikaner, ihre Neuerungsbereitschaft und der aggressive Zug ihres Nationalcharakters auf ihrer dem Fortschritt verpflichteten Mission beruhe, die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation immer weiter nach Westen voranzutreiben.
Die Leitidee des „manifest destiny“ nahm unter den Präsidenten Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson die machtpolitisch wirksame Form an, die sie noch heute besitzt. Territoriale Expansion war zu ihrer Zeit nicht mehr das Ziel der US-Politik, sondern politische Dominanz und das Recht auf Intervention in anderen Staaten der amerikanischen Hemisphäre. Theodore Roosevelts Jahresbotschaft an den Kongress vom 6. Dezember 1904 hüllt den Dominanzanspruch der USA bezüglich der westlichen Hemisphäre in die gleiche Rhetorik eines selbstverständlichen Eintretens für die grundlegenden Gesetze der zivilisierten Gesellschaft („primary laws of civilized society“), mit der heutige amerikanische Politiker und Denkfabrik-Intellektuelle den weltweiten Dominanzanspruch der Vereinigten Staaten hinsichtlich der Durchsetzung von Demokratie, guter Regierungsführung und Menschenrechten rechtfertigen.
Diesem Anspruch sollte schon bei Roosevelt auch durch militärische Intervention Geltung verschafft werden. Er nahm für die USA das Recht in Anspruch, als „internationale Polizeitruppe“ aufzutreten, um ihre Interessen in der westlichen Hemisphäre zu schützen. Durch den sogenannten „Roosevelt-Zusatz“ stellte der Präsident die Monroe-Doktrin von 1823 gleichsam auf den Kopf: Die Monroe-Doktrin verkündet die Nichteinmischung der USA in die europäischen Angelegenheiten und verlangt im Gegenzug keine Einmischung der Europäer in der westlichen Hemisphäre.
In seiner Rede vor dem Kongress am 2. April 1917 ging Präsident Woodrow Wilson noch ein Stück weiter. Er bat den Kongress um die Zustimmung zur Kriegserklärung gegen das Deutsche Reich und sprach dabei die programmatischen Worte „The world must be made safe for democracy“, die Welt müsse zu einem sicheren Ort für die Demokratie gemacht werden. Den USA falle in diesem weltweiten Kampf die Aufgabe des „Streiters für die Rechte der Menschheit“ zu. In seiner Jahresbotschaft an den Kongress vom 7. Dezember 1920 stimmte er geradezu eine Eloge auf die Demokratie an, die bei ihm zu einem „Glauben“ mutiert, der „Reinheit“ und „Spiritualität“ besitzt. Die „offenkundige Bestimmung“ der USA sei es, diesen Geist der Demokratie zu erhalten und zu verbreiten.
Der Präsident als Missionar und Laienprediger: Wilson, meint der Sicherheitsexperte Chalmers Johnson („The Sorrows of Empire“ 2004), schuf die idealistische Grundlage für den amerikanischen Imperialismus, der in unseren Tagen die Form einer „Mission der Demokratisierung“ der Welt angenommen hat. Mehr als irgendein anderer formulierte er die ideologische Begründung einer interventionistischen Außenpolitik, die sich in das Gewand humanitärer und demokratischer Rhetorik hüllt.
Im Geiste Wilsons rief Henry R. Luce, der einflussreiche amerikanische Verleger und u.a. Gründer der Zeitschriften „Time“ und „Life“, im Jahre 1941 das „amerikanische Jahrhundert“ aus. Den Vereinigten Staaten, als dem „Guten Samariter der ganzen Welt“, falle die Aufgabe zu, alle Hungernden und Verzweifelten der Welt zu nähren und aufzurichten. Dies könne aber nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn Amerika im gleichen Zuge seinen Idealen weltweit Geltung verschafft: Freiheitsliebe, Chancengleichheit, Selbstvertrauen, Gerechtigkeit, Wahrheitsliebe, freie Marktwirtschaft, Fortschritt. Nur in solch einer nach amerikanischem Vorbild geformten Welt, meint Luce, können auch die Vereinigten Staaten auf Dauer bestehen. „Regelbasierte Weltordnung“ lautet die heute jenseits des Atlantiks ausgegebene Parole. Der Historiker und Oberst a.D. der US-Armee, Andrew Bacevich, hat sie in seinem Buch mit dem doppeldeutigen Titel „Washington Rules“ genau beschrieben: Washington herrscht – nach Washingtons Regeln.
Der Aufstieg der Neokonservativen
Ideologische und wirtschaftliche Faktoren haben sich speziell in den USA zu einem geostrategischen Faktorenbündel verknotet, das kaum noch entwirrbar zu sein scheint. Sie kommt in einer neuen Sicht auf die Menschenrechte zum Ausdruck, einer Sicht, deren Anerkennung der nichtwestlichen Majorität der Weltbevölkerung als verbindlich, weil angeblich universell gültig, zugemutet wird.
Die Prinzipien der staatlichen Souveränität und der souveränen Gleichheit aller Staaten, bis zum Ende des Kalten Krieges Leitideen der Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen, werden durch die Neokonservativen systematisch delegitimiert. Die Souveränität der Staaten sei überholt. Die Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte sei die neue zukunftsorientierte Mission der Staaten des westlichen Lagers, die sich das Recht herausnehmen, per Selbstermächtigung zum Schutz dieser Rechte auch militärische „humanitäre Interventionen“ in anderen Staaten durchzuführen. Dies ist nichts anderes als die Wiederkehr des überwunden geglaubten „Rechtes des Stärkeren“ in den zwischenstaatlichen Beziehungen.
Aus diesem Geist heraus bescherten Präsident George W. Bush und die ihn stützenden Kreise der Welt das Desaster des zweiten Irakkrieges: Die gesamte islamisch geprägte Region von Marokko bis Pakistan (Greater Middle East) sollte nach amerikanischen Vorstellungen von Freiheit und Demokratie umgeformt werden. Der von der Tyrannei befreite und demokratisierte Irak sollte dabei nur der erste Dominostein sein, der gemäß der „demokratischen Domino-Theorie“ gleichsam alle anderen islamischen Länder nach sich in die Freiheit zieht. Der Umbau des Irak sollte nur der erste Schritt auf dem langen Wege des Umbaus der gesamten Region sein.
Mit der rhetorischen Entwertung des Staates geht eine Entpolitisierung des Begriffs der Menschenrechte einher, die ursprünglich, mit dem Aufkommen der Idee der Volkssouveränität zur Zeit der Aufklärung und Säkularisierung, die Rechte des Bürgers, des citoyens, auf politische Betätigung gegenüber der von ihm eingesetzten Obrigkeit schützen sollten. Im Gleichschritt wird parallel zu dieser Delegitimierung des Staates und der staatlichen Souveränität sowie, ganz allgemein, des Kollektivs, der Begriff des Bürgers entpolitisiert und individualisiert. Der Bürger ist nicht mehr Bürger eines Staates, sondern „Bürger der Menschheit“, er ist „global citizen“.
Da Kollektive sich aufgrund ihrer je eigenen geschichtlichen Erfahrungen definieren, unterscheiden sie sich auch bezüglich der Art und Weise, in der das Verhältnis zwischen Einzelnem und Kollektiv verstanden wird. Ein einziges Modell – das westliche, individualistische, der Gegenwart – kann nicht für alle verbindlich sein. Genau von dieser Überzeugung wird jedoch in der Gegenwart das Handeln der westlichen Eliten unter Federführung der USA geleitet. Parallel zur Entpolitisierung des Begriffs der Menschenrechte verzeichnen wir dort seit der Regierungszeit des Präsidenten George H.W. Bush (1989-1993) den Aufstieg bestimmter Kreise, die die Dominanz der USA als „einziger Weltmacht“ für die Aufrichtung einer „neuen Weltordnung“ der amerikanischen Hegemonie ausnutzen. Es handelt sich dabei um die sogenannten „Neokonservativen“, die „Neocons“.
Mit großer Energie und Entschlossenheit stießen die Neocons in das machtpolitische Vakuum nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor und besetzten auch den intellektuellen Deutungsraum, der nach der Auflösung der kommunistischen Ideologie anscheinend keine Alternativen zu ihrer universalistischen Lehre von der einen, globalisierten und auf Amerika ausgerichteten neuen Weltordnung mehr enthält. Die militante Frontstellung der Neokonservativen gegen Mächte wie China und Russland und ihre Neigung, für die Lösung außenpolitischer Probleme alleine auf das Militär zu setzen, haben diesen Kreisen den Ruf eingetragen, eine War Party zu sein, in der sich Republikaner und Demokraten trotz ihrer ansonsten durchaus weiterbestehenden innenpolitischen Differenzen zu einer politischen Einheitspartei zusammenfinden.
Die aus Europa mit den angelsächsischen Siedlern ins Land gekommene Leitidee von „Asiens Drang nach Westen“ und die nach dem Ende des Kalten Krieges zum weltumspannenden Kampfauftrag mutierte Idee der „Stadt auf dem Berge“ verbinden sich in der Weltanschauung der Neokonservativen zu einer explosiven Mischung, in der Amerikas globale Machtprojektion als gleichsam göttlicher Auftrag erscheint, eine „neue Weltordnung“ herbeizuführen. Dazu braucht es aber wiederum ein starkes Militär. Eine Grand Strategy sei nötig, heißt es, eine „Große Strategie“, um China und Russland in die Schranken zu weisen, ja zu unterwerfen, damit diese neue Ordnung aufgerichtet werden kann. Die „Grand Strategy“ erweist sich heute mehr und mehr als „Großer Wahn“, der droht, die Welt in den Untergang eines Atomkriegs zu führen. Ein Zündeln im Nahen Osten oder in der Ukraine kann jederzeit den Weltbrand auslösen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Untergang des Warschauer Paktes gab es keinen rational nachvollziehbaren Grund für den Westen, in den Denkmustern des Kalten Krieges zu verharren und im Osten weiterhin den Feind zu suchen, dem man entgegentreten muss. Dies alles wird nur dann verständlich, wenn wir uns vor Augen halten, dass wir es hier auch mit dem Einfluss von Ideen der langen Dauer zu tun haben, die nicht nur im angelsächsischen Denken tief verwurzelt sind. Diese Ideen bündeln sich in der Überzeugung der letztendlichen moralischen und intellektuellen Vorrangstellung des Westens. Dass immer weniger Menschen in Russland und China bereit sind, sich dieser Vorstellung unterzuordnen, empfinden die westlichen Eliten als unverzeihbare, tödliche Kränkung.
Welche Chance hat Europa, sich dieser Spirale des Wahnsinns zu entziehen, in der die Neocon-geführte Welt einem Abgrund entgegentaumelt? Die pessimistische Antwort lautet: Die Chancen stehen schlecht. Mit den Neokonservativen wird es keinen Frieden geben, aber nur Amerika selber kann den Kraftakt vollbringen, sich des Einflusses ihrer Ideen zu entziehen. Die europäischen politisch-medialen und akademischen Eliten haben sich andererseits zu sehr mit dem Denken, den Zielen und den Attitüden der Neocon-gesteuerten USA identifiziert, um aus eigener Kraft einen Befreiungsschlag führen zu können.
CV Thomas Bargatzky
Thomas Bargatzky (geb. 1946 in Brannenburg am Inn) studierte Ethnologie, Altamerikanistik und Soziologie in München und Hamburg. 1990 Berufung zum Professor für Ethnologie an der Universität Bayreuth. Er war Gastprofessor an der Universität Wien, Foreign Visitor am East-West Center in Honolulu, Hawaii, und Visiting Scholar an der Indiana University in Bloomington, Indiana, USA. Seit Oktober 2011 ist er im Ruhestand. Er führte ethnologische Feldforschungen in Samoa (Polynesien) und ethnologisch-historische Forschungen im nordamerikanischen Südwesten durch. Neben seinen ethnologischen Forschungsschwerpunkten arbeitet er auch über sicherheitspolitische Themen und hat dazu zahlreiche Artikel verfasst. Seine letzte Buchpublikation ist: Der große Wahn. Der neue Kalte Krieg und die Illusionen des Westens, Baden-Baden, 2020.