Wenn wir jetzt nicht sofort wichtige Daten erheben, steht der nächste Lockdown-Herbst schon vor der Tür

Wenn wir jetzt nicht sofort wichtige Daten erheben, steht der nächste Lockdown-Herbst schon vor der Tür

Wenn wir jetzt nicht sofort wichtige Daten erheben, steht der nächste Lockdown-Herbst schon vor der Tür

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Spätestens durch die „Omikron-Wand“ hat sich die Inzidenz als Indikator erledigt. Doch auch die Hospitalisierungsrate, die ja die Inzidenz als Leitindikator in der Pandemiepolitik ablösen sollte, ist für ein Virus mit derart massiver Verbreitung vollkommen ungeeignet. Wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt 10% der Menschen testpositiv sind, ist es schließlich normal, dass auch 10% der Krankenhausaufnahmen einen positiven Test aufweisen. Doch ob jemand „mit“ oder „wegen“ Corona in das Krankenhaus kommt, auf der Intensivstation liegt oder stirbt, wird derzeit nicht statistisch erhoben. So erzeugen aufgeblähte Zahlen den Eindruck einer pandemischen Lage, die so nicht vorhanden ist. Wenn man hier nicht schnellstmöglich die relevanten Daten erhebt, steuern wir im Herbst auf den nächsten Lockdown zu. Von Jens Berger

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dänemark hat Deutschland bei der Corona-Politik vieles voraus. Während in Deutschland immer noch Ideologen aus dem Zero-Covid-Lager das Beratergremium der Bundesregierung stellen und der Gesundheitsminister selbst dieser Ideologie angehört, hat sich in Dänemark die Wissenschaft durchgesetzt – und die sollte laut Definition ja rational und frei von ideologischen Scheuklappen sein. Da kann es nicht verwundern, dass der „dänische Weg“ unter Beschuss von eben jenen Ideologen ist. Die haben auch leichtes Spiel, da Omikron von vielen „Multiplikatoren“ offenbar immer noch nicht verstanden wird und zahlreiche Journalisten und Politiker nicht im Stande sind, Zahlen zu verstehen und logisch zu denken.

Wie dies konkret aussieht, zeigt ein unterkomplexer Tweet des Linken-Politikers Niema Movassat, der repräsentativ für die Denkfehler ist, die heute sehr weit verbreitet sind.

Explodiert in Dänemark tatsächlich die Zahl der Covid-19-Toten? Nur wenn man den Begriff „Covid-19-Toter“ komplett sinnfrei definiert. Dazu ein kleines Rechenbeispiel. Durch die hohen Inzidenzen gelten seit Anfang Februar durchgängig mehr als 550.000 Dänen als „aktive Covid-19-Fälle“ – das heißt, sie wurden vor weniger als 10 Tagen positiv auf das Sars-Cov2-Virus getestet. Krank sind diese Menschen nicht. Ein Großteil von ihnen ist symptomfrei. Dänemark hat 5,8 Millionen Einwohner. Das heißt, jeder zehnte Däne ist zurzeit ein „aktiver Covid-19-Fall“. Wenn er ins Krankenhaus kommt, zählt er zu den Covid-19-Hospitalisierten. Liegt er auf der Intensivstation, ist er ein Covid-19-Intensivpatient, und wenn er stirbt, ist es gar ein Covid-19-Toter. Und das sogar noch 30 Tage nach einem positiven Test. Wenn also 10% der Bevölkerung in der 10-Tage-Definition als „aktive Fälle“ gelten, müssten bei fortlaufender Inzidenz auf diesem Niveau ganze 30% in die Kategorie fallen, dass sie im Falle eines Ablebens als Covid-19-Tote zählen. Das ist fast jeder dritte Todesfall!

In Dänemark sterben übrigens im Schnitt 157 Menschen pro Tag. Gemäß unserer Rechnung müssten also durchschnittlich rund 50 Testpositive pro Tag sterben. Der aktuelle Wert liegt mit 31 „Corona-Toten“ klar darunter. Das hat wiederum vor allem etwas mit der Altersverteilung der Infektionen zu tun. Junge Menschen sind hier überproportional vertreten und die sterben natürlich auch seltener als alte Menschen.

Es hat keinen Sinn, die Zahlen der Omikron-Welle mit den Zahlen der Delta-Welle zu vergleichen. Auch damals sind natürlich viele Menschen nicht „an“, sondern „mit“ Corona verstorben. Doch aufgrund der im Vergleich zu heute geradezu lächerlichen Inzidenzen war der statistische Fehler nicht so groß. Vor einem Jahr galten nicht 550.000, sondern 5.500 Dänen als aktiv infiziert. Nicht 30%, sondern 0,3% aller Todesfälle entsprachen damals dem statistischen Erwartungswert. Dennoch zeigt die Kurve, die der Politiker Movassat auf Twitter gepostet hat, dass die Zahl der Covid-19-Toten heute auf dem Niveau von vor einem Jahr liegt. Das zeigt, wie viel gefährlicher Delta war und wie ungefährlich Omikron ist. Die Deutung, dass die Dänen nun „durch die Öffnung“ ein Problem hätten, ist absurd. Aber der Laie Movassat ist damit ja nicht alleine. Auch der Kardiologe Eric Topol, der in der Corona-Pandemie einen von „Alarmisten“ wie Karl Lauterbach gerne und häufig zitierten Twitter-Kanal betreibt, hat offenbar Schwächen beim kleinen Einmaleins und verbreitet munter Falschinformationen.

Während die obersten Gesundheitsbehörden in anderen Ländern vor allem gegen Falschinformationen aus den Reihen der Impfskeptiker vorgehen müssen, hat das dänische Statens Serum Institut nun extra eine „Faktenchecker-Seite“ ins Netz gestellt, in der man gründlich mit den Falschinformationen der Alarmisten aufräumt.

Das Problem bleibt jedoch bestehen. Gaben die klinischen Statistiken in Delta-Zeiten noch ein wenn auch grobes, aber dennoch brauchbares Bild vom Einfluss der Pandemie auf die Auslastung der Krankenhäuser – die in Deutschland übrigens nie ein Problem war – so sind diese Daten heute in der Omikron-Zeit vollkommen wertlos und bilden mehr die Verbreitung des Virus als dessen Einfluss auf die Volksgesundheit ab. Sinn und Zweck der „nicht-medikamentösen Maßnahmen“ sollte jedoch nicht die Eindämmung des Virus als Selbstzweck sein. Doch wie will man die medizinischen und epidemiologischen Vor- und Nachteile von Maßnahmen bewerten, wenn man gar keine statistischen Daten über die gesundheitlichen Auswirkungen der Infektionen hat?

Wie viele aktiv infizierte Menschen, die derzeit in den deutschen Krankenhäusern aufgenommen werden, wurden ursächlich wegen einer Covid-19-Infektion aufgenommen? Sind es 10%, 30%, 50%? Wir wissen es nicht. Ralf Wurzbacher hat letzte Woche anhand der Krankenhausabrechnungsdaten erklärt, dass Covid-19 im deutschen Melde- und Abrechnungssystem nur als Nebendiagnose auftaucht. Und hier rutscht automatisch jeder Testpositive in diese Kategorie. Ob es derzeit überhaupt ein nennenswertes klinisches Problem mit Omikron gibt, das über die typischen saisonalen Erkältungskrankheiten hinausgeht, kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Anekdotische Berichte von Verwandten, Freunden und Bekannten, die im Krankenhaus tätig sind, weisen eher darauf hin, dass es derzeit – anders als bei Delta – kein derartiges Problem gäbe. Aber auch anekdotische Berichte können natürlich keine Grundlage für eine seriöse Bewertung sein.

Dabei wäre es doch ein Leichtes, diese Daten zu erlangen. Eine simple Zusatzabfrage, ob ein Patient ursächlich wegen einer Covid-19-Erkrankung behandelt wird oder ob der positive Test vielmehr ein „Beifang“ ist, würde bereits ausreichen. Dann wüsste man auch, ob Kinder überhaupt wegen einer Omikron-Infektion im Krankenhaus behandelt werden müssen und ob es nennenswerte schwere Verläufe gibt. Die Deutschen sagen ja, die Dänen und die Briten nein. Wer hat recht? Ohne verlässliche Daten wird man das schwerlich beantworten können. Und hier geht es ja nicht um eine Erhebung von Daten zu rein statistischen Zwecken. Wenn sich beispielsweise bestätigt, dass Omikron für Kinder und Jugendliche keine nennenswerte Gefahr darstellt, die über typische saisonale Erkältungen hinausgeht, müsste man zwingend auch die Maßnahmen in Kitas und Schulen sofort einstellen. Dazu hatte der Kollege Tobias Riegel schon ausführlich geschrieben.

Der Herbst kommt und wenn kein Wunder geschieht, wird mit dem Herbst auch das Sars-Cov2-Virus zurückkommen. Welche Mutante dies sein wird, weiß man heute nicht. Dass sie sehr eng mit Omikron verwandt ist, ist jedoch hoch wahrscheinlich, da Omikron sich bereits sehr gut an das Wirtstier Mensch angepasst hat und es nicht ersichtlich ist, warum die Evolution hier zwei Schritte zurück machen sollte. Und im Herbst werden wir wieder die immer gleichen Debatten führen. Wenn die Inzidenzen steigen, wird naturgemäß auch die Zahl der positiv getesteten Hospitalisierungen und Toten steigen. Das allein sagt aber überhaupt nichts über die Gefahr durch das Virus aus.

Daher haben wir die Wahl: Entweder wir beginnen jetzt sofort, wo es noch zahlreiche Fälle gibt, die statistisch ausgewertet werden können, mit einer gründlichen Datenerhebung und entscheiden im Herbst auf wissenschaftlicher Basis. Oder wir lassen es mit der Wissenschaft und entscheiden auf ideologischer Ebene. Wenn man sich anschaut, wer in diesem Lande die Pandemiepolitik macht, muss man leider von Letzterem ausgehen. Oh, wie gut haben es da doch die Dänen.

Titelbild: Sergey Nivens/shutterstock.com