Neue Männer bräuchte das Land

Neue Männer bräuchte das Land

Neue Männer bräuchte das Land

Ein Artikel von Frank Blenz

Die kernig-trotzige Liedzeile „Neue Männer braucht das Land“ von Rocksängerin Ina Deter fällt einem beim Gedanken zur Wahl des Bundespräsidenten ein. Warum? Der alte Präsdent wird es wieder, obwohl es einen neuen, einen anderen oder eine andere Präsidentin bräuchte. Eine progressive Persönlichkeit in dem hohen Amt wäre zu wünschen, eine, die nicht wie Frank-Walter Steinmeier aus den Reihen der abgehobenen Berliner Bundespolitik stammt und folglich nicht diese Reihen in Gedanken und Zielen (und nur die) vertritt. Doch der Sieger steht schon fest, der Status Quo des immer gleichen, elite-orientierten und daraus stammenden Personals wird auf einer somit eigentlich überflüssigen Veranstaltung mit frischem Mörtel betoniert. Eine Kritik von Frank Blenz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zwar stehen vier Kandidatennamen auf dem Zettel. Allein Frank-Walter Steinmeier kann sicher sein, ausreichend viele der 1.472 Delegierten hinter sich zu vereinen, um zu siegen. Als Beobachter, als Bürger dieses Landes fragt man sich, warum dann das Ganze? Man kann sich doch den Zirkus, diese Show sparen. Es wurden keine aussichtsreichen Gegenkandidaten zu Steinmeier aufgestellt. Die hätten es spannend werden lassen können. Es wäre vielleicht zu einer zukunftsweisenden Wahl geworden, es hätte zu einem Lichtblick kommen können. Es wäre eine Wahl gewesen. Einfach mal um die Ecke denken – jemanden an diesen Posten kommen lassen, der nicht etabliert ist, der anders ist zum Beispiel. Man lässt es, etabliert ist sicher, Steinmeier ist verabredet, er gilt bei der Bevölkerung als beliebt (so wird es jedenfalls landauf, landab in vielen Publikationen erzählt). Steinmeier wird als erfahren gelobt und, und, und. So liest sich die Begeisterung bei der WAZ wie folgt:

Aus Erfahrung gut: Frank-Walter Steinmeier In einem Alter, in dem andere auf ihren Rentenbescheid warten, will es der 66-Jährige Steinmeier noch einmal wissen. Der zwölfte Bundespräsident strebt eine zweite Amtszeit an: fünf weitere Jahre. Der Jurist und frühere SPD-Politiker erfreut sich größter Beliebtheit und hat Freude am Repräsentieren. Steinmeier machte früh klar, dass er erneut antreten würde; zu einem Zeitpunkt, als eine Mehrheit für ihn ungewiss war und sich die Unionsparteien noch nicht festgelegt hatten. Er wird von CDU und CSU, aber auch von den Regierungsparteien SPD, Grünen und FDP getragen. Für sie ist Steinmeier eine sichere Bank. Ein erfahrener Mann, keine Experimente. Alles andere als eine absolute Mehrheit für Steinmeier schon im ersten Wahlgang wäre eine faustdicke Überraschung.

Eine Direktwahl durch das Volk ist nicht vorgesehen. Stattdessen gibt es am Sonntag zur Stimmabgabe ein Schaulaufen ausgewählter Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Viele fühlen sich geehrt, benannt zu werden. Künstler zum Beispiel, die mal die Luft der großen Politikbühne schnuppern dürfen. All diese Leute bilden in Summe mit den Mandatsträgern der Parteien im Bundestag die Versammlung, für uns alle. Okay. Immerhin nutzt die Partei Die Linke den großen Tag, um den Arzt Gerhard Trabert als würdigen Kandidaten zu benennen und darauf hinzuweisen, dass sozial brennende Fragen zu stellen sind, solche, die dem eloquenten Steinmeier eher nicht über die Lippen kommen. Dabei wären genau diese Wortmeldungen Tag für Tag nötig. Trabert ist ein deutlicher Gegenentwurf zu Steinmeier, dem Architekten von Hartz IV – Trabert ist Gründer und 1. Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland. Trabert hat ein paar Tage die Möglichkeit, Tacheles zu reden, bevor die Kameras und Mikrofone vor ihm ausgeschaltet sind und er sich seinen Obdachlosen, denen er seit vielen Jahren hilft, zuwenden wird. Seine Worte werden verhallen, Steinmeiers Worthülsen werden uns fünf weitere Jahre erfreuen.

Der alte (und sicher neue) Präsident kann die Koffer im Schrank lassen. So thront er mit Frau und Hofstaat ab kommenden Montag für weitere fünf ertragreiche Jahre im schönsten Haus an der Spree und erfüllt seinen Elitejob. Frank-Walter Steinmeier ist weiter das Staatsoberhaupt, es bleibt dennoch zu kritisieren, welche Arbeit er vor seiner ersten Präsidentschaft und während seiner ersten Amtszeit in Bellevue geleistet hat. Er hat mit seinem Wirken vor allem bewiesen, dass er ein beliebter Präsident des Establishments, der etablierten Medien ist.

Steinmeier gefällt seinen Kreisen, den Medien, den oberflächlichen Betrachtern mit der Vollendung seiner Auftritte, edel formulierend, um den heißen Brei redend. Er gefällt gut inszeniert und gut besprochen auch nicht wenigen Menschen aus dem Volk. Aus Erfahrung gut? Keine Experimente? Sichere Bank? Schöner Schein, Glück allein? Egal. Deswegen bleibt er. Am Sonntag wird in schöner Bundestagsumgebung wieder mal eine Möglichkeit ausgelassen, neue Wege zu beschreiten, etwa mit der Ernennung eines anderen Staatsoberhauptes, das konsequent Inhalte für das Volk anspricht, es echt vertritt, das die Parteien, Instanzen, die Medien und so weiter als neutrales Oberhaupt anregt, ermahnt, fordert, eint. So ein Oberhaupt wäre eine wahrlich wichtige Instanz für uns alle, es legte keinen leeren Formalismus an den Tag. Wohl wahr, dass das Amt des Bundespräsidenten, dessen Aufgaben, dessen Macht eher repräsentiv definiert sind und oft gar als machtlos beschrieben werden und es Dank solcher Zahnlosigkeit wie die eines Steinmeier auch ist; würde das Staatsoberhaupt aber wirklich stets hörbar deutlich sein statt schön ungefährlich, würde es wichtiger, gefährlicher werden. Im Land und außerhalb. Doch so? Steinmeier bleibt bei schönen Worten, ohne Änderungswillen. Das ist so gewollt, scheint es.

Ein Präsidentenauftritt von vielen in den vergangenen Jahren kommt mir ins Gedächtnis, welches offenbart, wie Steinmeier unbequeme Inhalte umschifft und in Worthülsen redet. Das TV-Interview war für die Katz’, der Berliner hätte zu Hause bleiben können, lautete mein Fazit. Der Auftritt im Juni 2019 fand statt bei einem TV-Termin für das ZDF-Berlin-direkt-Sommerinterview mit Theo Koll in Plauen, die Stadt des Beginns der Friedlichen Revolution 1989 in der damaligen DDR. Auf dem Turm des Bärensteins, einer modernen Ausblicksplattform über der Stadt, trifft Theo Koll auf den Bundespräsidenten. Würdevoll, gut eingeleuchtet – das Haar sitzt trotz Sturms auf dem Turm bei beiden – die Form also ist chic. Und der Inhalt? Das Staatsoberhaupt antwortet staatstragend, langweilig, ausweichend. Ich weiß noch, dass ich sauer über die Eierei Steinmeiers war. Ich hatte auf etwas Sinnstiftendes von Steinmeier gehofft, als Koll ihn auf den Rückgang der Begeisterung und „Strahlkraft“ der Volksparteien, auf seine Rolle zum Thema Agenda 2010 sowie auf die Agenda selbst ansprach. Steinmeier fabulierte stattdessen über den Zerfall der Volksparteien, als wäre dieser eine Art Naturereignis, auf dass sich politische Landschaften einfach so verschieben würden. Kein Wort kam von Steinmeier zu Ursachen, zu Beteiligungen dieser Parteien, zu deren Handeln, zu Entscheidungen von ihm und den wichtigsten Politikern der führenden Parteien über die Lippen. All das hatte für viele Menschen Folgen, auf dass sich das Volk von den so genannten Volksparteien abwendet(e). Gut, der smarte Koll ließ nicht locker, fragte, allein ohne Biss, aber immerhin nach, diesen Steinmeier, Architekt der Agenda 2010, warum der mit seiner Partei nicht die Lage genutzt habe, nachdem so „Gutes“ (so Koll) mit der Agenda bewegt worden sei. Der Präsident redete weiter, er redete um den heißen Brei herum. Zu Steinmeiers Entschuldigung sei gesagt, dass Koll ein sanfter Interviewer war, einer, der in keiner Bundespressekonferenz durch unbequeme Nachfragen auffiele.

Auszug:

Koll: „Aber also keine Sonderschuld … in Anführungsstrichen?“

Steinmeier: „… und einen Bogen zu spannen. In dem Maße, in dem die Parteien mehr in die Mitte gedrängt sind, sind die Konflikte in der Mitte größer geworden, und der Bogen, den die Volksparteien gespannt haben, reicht offenbar im Augenblick nicht so ganz aus. Und deshalb suchen sich die Wähler neue Bewegungen und neue Parteien, auch neben den Volksparteien“

Koll: „Dennoch noch mal ganz kurz zur SPD und der Agenda 2010. Hat das eine Rolle gespielt?“

Steinmeier: „Das kann ich ehrlicherweise nicht beurteilen. Wie Sie sagen, wer Politik macht, verursacht Positives, und die positiven Entscheidungen, die man fällt, können auch in anderen Teilen der Gesellschaft negative Auswirkungen haben. Das kann man gar nicht verhindern. Aber ich würde es nicht so auf eine Gesetzgebungsmaßnahme oder ein Gesetzgebungspaket beschränkt gewesen sehen, was sich dort verändert. Ich glaube, die Veränderungen, die Ursachen für die Veränderungen in den Parteiensystemen der westlichen liberalen Demokratien sind größer.“

Quelle: bundespraesident.de

Steinmeier meinte im Interview, er sprach selbstbewusst für sich, dass, wer Politik macht, Positives verursache. Zu seiner Rolle bei der Gestaltung der Hartz-Gesetze schwieg er. Warum wohl? Er brillierte als Drahtzieher der „Reformen“, die diese Bezeichnung nicht verdienten, denn Reformen sollten verbessern, oder? Steinmeier und seine Kollegen schliffen den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem. Der Sozialstaat ist bis heute geschwächt. Die Menschen würden gefördert, log Steinmeier und meinte, ohne es zu sagen, dass sie vor allem gefordert und drangsaliert wurden und werden. Dieses Hartz IV ist als Programm der Gängelung von arbeitslosen Menschen zementiert worden. Nun ebnet sich zaghaft und irgendwie verdächtig langatmig und unfreiwillig ein Wandel, Hartz IV namentlich zu ändern und inhaltlich weicher zu gestalten. Die Mindestregelsätze stagnieren weiter wie Blei. Ich kann mich nicht erinnern, dass Steinmeier Änderungen explizit von der Politik gefordert hätte.

Nun wütet eine Pandemie, und das Versagen der Entscheider dagegen und die gesellschaftliche Krise nimmt mehr und mehr Fahrt auf. Die Menschen dürsten nach Hoffnung, nach empathischen Worten mit Inhalt, nach Entscheidungskonzepten. Es passiert wenig. Es brennt überall. In den letzten Monaten hat Steinmeier dagegen einen Zusammenhalt der Gesellschaft gesehen. Eine Spaltung sah er nicht. Und wenn gespaltet würde, dann von anderen, so das Staatsoberhaupt. Die Steinmeierische Beschreibung und Bewertung der „Spalter“ sorgt als weiteres Mosaiksteinchen Berliner Politik dafür, dass die Gesellschaft tatsächlich mehr und mehr Risse bekommt. Der weise Präsident mit den weißen Haaren gesteht das nicht ein, ebenso nicht, dass die Spaltung schon unter seiner Regie in Teamarbeit mit Schröder und Co. sowie den Koalitionspartnern seinen Lauf nahm. Wer also ist ein Spalter? Oder besser, wer hat ein Interesse an dem verfestigten Oben und Unten im Land, an den bestehenden Verhältnissen, der Machtverteilung usw.? Steinmeier schweigt dazu, macht damit seinen Job sehr gut, er dient, allein nicht dem Volk.

Es folgt? Das Volk wendet sich ab, von den führenden Politikern, von ihren Entscheidungen, vom ausführenden Apparat, dem Steinmeier als stabile Größe ganz ohne Experiment angehört. Warum? Es hat nichts mit der von Steinmeier fabulierten Ohnmacht zu tun, dass „…die positiven Entscheidungen, die man fällt, auch in anderen Teilen der Gesellschaft negative Auswirkungen haben. Das kann man gar nicht verhindern…“ (aus dem ZDF-Interview 2019). Es hat damit zu tun, dass Vertrauen in den Staat, in seine Vertreter, in die großen Medien und in die Wirtschaft nicht mehr entsteht und auch nicht gerechtfertigt ist, weil deren Akteure allein ihre Interessen und nicht die der vielen Menschen, auch Volk genannt, durchdrücken, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Steinmeier weiß es, er gibt das nicht zu, fordert stattdessen Gehorsam und Respekt. Und ist selbst respektlos wie die Eliten. Die Würde des Menschen ist unantastbar, dem Frank-Walter war das die vergangenen zwei Jahre Pandemie als Repräsentant aller Deutschen eher egal. Keine seiner Reden war legendär. Langweilig, abgehoben, steif und clever zugleich thront er also mit Frau im schönsten Haus an der Spree und macht seinen Elitejob für die Eliten weiterhin gut. Für das Volk eher nicht. Das wählt(e) ihn ja auch nicht. So klingt das trotzig freche Lied von Ina Deter in den Ohren wie ein Wunsch, der ein Wunsch bleibt: „Neue Männer braucht das Land.“ Doch nur mal angenommen, man wählte den Arzt Gerhard Trabert. Dieser Präsident kommt von der Basis, er kennt die Sorgen und Nöte, die Probleme, die Wünsche der Menschen „da draußen“. Und er hätte Ideen, weiß Ansätze der Verbesserung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Er wäre ein würdiger Vertreter.

Titelbild: Gints Ivuskans/shutterstock.com