„Was heute fehlt, ist eine kraftvolle Friedensbewegung, die möglichst unideologisch und nicht in Grabenkämpfen verstrickt eine einfache, klare Forderung formuliert: Wir haben die Nase voll von Säbelrasseln (…).“
Das sagt die Autorin und Journalistin Gabriele Krone-Schmalz im NachDenkSeiten-Interview. Krone-Schmalz, die viele Jahre als ARD-Korrespondentin in Russland gearbeitet hat, zeigt sich „hochgradig besorgt“ über die aktuellen Entwicklungen zwischen der NATO und Russland. Im Interview erklärt Krone-Schmalz, was die Gründe dafür sind, dass es keine neue „Ostpolitik“ gibt und beleuchtet die geostrategischen Hintergründe im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt. Von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Frau Krone-Schmalz, seit Monaten geht es in den Medien verstärkt darum, ob es einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben wird. Selbst die Frage, ob daraus ein Krieg entstehen könnte, in den dann auch die NATO involviert wäre, ist auf dem Tisch. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?
Hochgradig besorgt. Ständig liest man Meldungen wie: Der amerikanische Präsident Biden warnt vor einem unmittelbar bevorstehenden russischen Einmarsch. Die baltischen Staaten bereiten sich auf einen russischen Angriff vor etc. etc. Man bekommt den Eindruck, einigen Journalisten kann es gar nicht schnell genug gehen mit dem Krieg. Am 4. Februar setzte die amerikanische Agentur Bloomberg eine Eilmeldung auf ihre Webseite: „Live: Russland marschiert in die Ukraine ein“. Diese Falschmeldung konnte man dort immerhin 30 Minuten lang lesen. Ich finde den Vorgang bezeichnend für die hysterische und sensationslüsterne Stimmung in manchen Medien. Warum befasst man sich nicht mit den Dingen, die greifbar sind, statt sich in immer wilderen Spekulationen über mögliche Entwicklungen zu verlieren? Der russische Truppenaufmarsch, die westliche Reaktion, die Forderungen Russlands in Zusammenhang mit Sicherheitsinteressen, die westliche Antwort bzw. westliche Vorschläge, die diplomatischen Aktivitäten – mit der genauen Wiedergabe und Analyse dieser Dinge sind wir gut beschäftigt.
Das Wort Krieg geht vielen Medien erstaunlich schnell von der Hand. Auch wenn die Frage vielleicht banal klingt: Was heißt „Krieg“?
Ich habe das Glück, selbst nie Krieg erlebt zu haben, im Gegensatz zu meinem Mann und meinen Eltern. Und ich habe das Glück, dass ich mit allen dreien darüber habe reden können. Krieg ist Horror und nicht nur aseptische Joystick-Aktivität in durchgestylten IT-Räumen. Aber offenbar reicht bei vielen weder die Bildung noch die Fantasie aus, um sich die Schrecken des Krieges vorzustellen. Anders kann ich mir das Verhalten nicht erklären. Willy Brandt hat einmal gesagt: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“
In den Medien gibt es kaum Zweifel daran, wer „gut“, wer „böse“ ist, also von wem die Aggression ausgeht. Was ist die Realität?
Mit der Realität ist das so eine Sache. Von Geraldine Chaplin stammt der Satz: Wahrheit ist selten so oder so, meistens ist sie so und so. Unabhängig von Lügen, die es natürlich auch gibt, haben verschiedene Narrative durchaus ihre Berechtigung. Bei der Betrachtung existenzieller Fragen empfiehlt sich immer ein Perspektivwechsel. Nur aus dem eigenen Blickwinkel betrachtet, wird es schwer, Lösungen zu finden, von denen alle Seiten profitieren. Und die simple Unterteilung in „gut“ und „böse“ habe ich in meinen Büchern immer wieder aufs Korn genommen. Denn so einfach ist es meistens nicht. Nehmen Sie nur die Berichterstattung über Minsk 2. Wer sich mit dem Abkommen nicht auskennt, muss den Eindruck bekommen, es seien vor allem Russland und die Separatisten, die blockieren. In Wahrheit setzt aber auch die Ukraine zentrale Teile des Abkommens nicht um, weil es in einem Moment der militärischen Schwäche ausgehandelt wurde und Kiew auf einen besseren Deal hofft.
Der Begriff „geostrategische Interessen“ wird in deutschen Medien oft nur im Zusammenhang mit dem Handeln der russischen Regierung betrachtet. Aber viele Länder haben geostrategische Interessen. Und ein Bündnis wie die NATO ist auch nicht befreit davon. Was sind die geostrategischen Interessen der USA, der NATO in diesem Konflikt mit Russland?
In der Tat kann man bei manchen Äußerungen den Eindruck gewinnen, als denke man nur noch in Moskau in geopolitischen Einflusszonen. Doch wie glaubwürdig ist das? Etwa, wenn man sich die amerikanische Politik im Nahen Osten anschaut. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung von Warschauer Pakt und Sowjetunion waren die USA die alleinige Supermacht, und eine Zeitlang sah es so aus, als könnten sie ihre Ordnung weltweit durchsetzen. Das geopolitische Interesse der USA war es seitdem, dafür zu sorgen, dass kein Rivale auf der Weltbühne auftaucht, der sie in derselben Weise herausfordern könnte, wie die Sowjetunion es getan hatte. Eine solche kritische Masse könnte erreicht sein, wenn es Russland gelänge, Weißrussland und die Ukraine zu schlucken, so stand es 1992 in Papieren des Pentagon, die maßgeblich Paul Wolfowitz entworfen hatte, später stellvertretender Verteidigungsminister unter George W. Bush. Der heutige Konflikt ist sicher vielschichtig. Aber ich wäre sehr überrascht, wenn diese Hintergründe nicht auch eine Rolle spielen würden.
Und welche geostrategischen Interessen sind auf russischer Seite auszumachen?
Russland hat den Anspruch, ein eigenständiger Pol der Weltpolitik zu sein und zu bleiben. Dafür ist zum Beispiel die Möglichkeit, eine Blockade des Schwarzen Meeres durch die NATO verhindern zu können, von elementarer Bedeutung. Nur wer sich diesen geostrategischen Zusammenhang vergegenwärtigt, versteht die Bedeutung der Krim sowie die von Abchasien in Georgien. Wenn die NATO unmittelbar an russische Grenzen heranrückt, dann schränkt das den geopolitischen Spielraum Russlands ein, genau wie es Washington vermutlich auch beabsichtigt. Aber es geht auch generell darum, auf internationalem Parkett als ein solcher unabhängiger Pol wahrgenommen und respektiert zu werden. Dass Russland dafür auf militärische Drohungen zurückgreifen muss, ist eher ein Zeichen von Schwäche als von Stärke – und auch bezeichnend dafür, wie der Westen viele Jahre mit Russland umgegangen ist.
All das, was Sie ausführen, ist im Grunde genommen ja nicht neu. Wohl die meisten Beobachter, die auf den Ukraine-Konflikt blicken, wissen, dass es im Kern um massive geostrategische Interessen auf beiden Seiten geht. Und trotzdem hält sich das Bild in den Medien von Russland, das angeblich als Aggressor handelt und „der Westen“ das Unschuldslamm ist. Wenn westliche Staaten der Ukraine „beistehen“, dann nur aus den edelsten Motiven.
Sind wir damit dann inmitten der Propaganda oder gar einer kriegsvorbereitenden Propaganda?
Ich finde es in der Tat problematisch, wenn sich Länder so bedingungslos auf eine Seite stellen, statt die Chance zu ergreifen, bei einem Konflikt zu vermitteln. Man kann Vieles kritisieren mit Blick auf russische Politik, aber das wird nicht glaubwürdiger dadurch, dass man beide Augen zudrückt, sobald es sich um die Ukraine handelt. Die Art, wie zurzeit der ukrainische Botschafter in Deutschland sowohl von der Politik als auch von den Medien hofiert wird, finde ich mehr als befremdlich, und sein Auftreten – bei allem Respekt – unverschämt. Man stelle sich vor, der deutsche Botschafter in Kiew ruft die ukrainische Bevölkerung auf, endlich ihrer Regierung nachdrücklich deutlich zu machen, was sie zu tun hat, um sich nicht dem Vorwurf unterlassener Hilfeleistung auszusetzen.
Noch mal: Im Grunde genommen ist der Konflikt zwischen der Ukraine, Russland und der NATO nicht so schwer zu durchschauen. Man muss sich nur vorstellen, was wäre, wenn Russland versuchen würde, beispielsweise Mexiko immer näher – auch militärisch – an sich zu binden.
Und dennoch zeichnen Medien ein sehr einseitiges Bild dieses Konfliktes. Ist das Vorsatz?
Ich glaube, mit eindimensionalen Erklärungen kommt man nicht weit. Es hat ja Gründe, warum diese Mechanismen und das Entstehen von Freund-Feind-Bildern immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sind.
Einseitige Bilder werden dadurch begünstigt, dass komplizierte Zusammenhänge in kurzer Zeit einfach und verständlich erklärt werden müssen. Das Bewusstsein, auf der guten Seite zu stehen, verbunden mit missionarischem Eifer, spielt sicher auch eine Rolle. Und schließlich darf man die Techniken von Staaten und Thinktanks nicht unterschätzen, die Deutungshoheit über die Bewertung politischer Entwicklungen zu erlangen. Das funktioniert überall. Deshalb ist es so wichtig, in der Journalistenausbildung nicht nur Handwerk zu vermitteln, sondern auch die Fähigkeit, gegen alle Widerstände Verantwortung zu übernehmen und sich den Blick durch nichts und niemanden verengen zu lassen.
Medien haben sich die Tage darüber echauffiert, dass Deutschland „nur“ 5000 Helme an die Ukraine liefern werde. In der „liberalen Zeit“ fragt ein Kolumnist allen Ernstes: „Was ist los mit Deutschland?“
Lächerlich ist nicht die Lieferung der 5.000 Helme, wie überall genüsslich zitiert und berichtet wird. Lächerlich ist der Vorgang. Nach meinem Kenntnisstand hat die Ukraine ganz allgemein nach Helmen und Schutzwesten gefragt für all die Zivilisten, die jetzt den Krieg proben. Und zwar ohne eine konkrete Zahl zu nennen. In Deutschland konnte man offenbar auf Anhieb 5.000 Helme entbehren und hat sie sofort auf die Reise geschickt. Erst dann tauchte die Zahl von 100.000 Helmen auf, um die die Ukraine gebeten habe. Dagegen wirken die 5.000 Helme natürlich etwas albern. Der ukrainische Botschafter, der am 6. Februar in der Talkshow von Anne Will saß, ist der Frage nach der Chronologie der Geschichte ausgewichen und leider nicht gedrängt worden zu antworten. – Der „Schenkelklopfer“ wird uns also wohl erhalten bleiben.
Kann es sein, dass manche Journalisten in Deutschland schlicht im Geschichtsunterricht nicht anwesend waren? Wie kann man als Journalist alleine schon aufgrund der historischen Hintergründe allen Ernstes wollen, dass sich Deutschland an einer Aufrüstung eines Landes gegen Russland beteiligt?
Manche stellen sich ja auf den Standpunkt, die Ukraine habe es im Zweiten Weltkrieg mindestens so hart getroffen wie Russland – ähnlich wie Weißrussland, denn beide Länder muss man ja erstmal durchqueren, bevor man in Russland ankommt – und leiten daraus ganz im Gegenteil die Verpflichtung Deutschlands ab, der Ukraine jetzt zu Hilfe zu kommen. Damit werden die verschiedenen Opfergruppen gegeneinander ausgespielt. Ich kann dem nicht folgen. Es ist und bleibt eine Tatsache, dass es Frieden in Europa nur mit Russland geben kann und nicht ohne, schon gar nicht gegen. Es sollte also auch im Interesse der Ukraine liegen, auf jeden Fall einen Krieg zu vermeiden, und das erreicht man, wie die Geschichte zeigt, nicht durch Aufrüstung, sondern nur durch Diplomatie.
Wir reden jetzt viel über die Medien. Vielleicht ja auch zu viel. Aber mein Eindruck ist, dass bestimmte Medien und Journalisten sich nicht im Ansatz darüber im Klaren sind, was sie mit ihrer zündelnden „Berichterstattung“ anrichten. Wie sehen Sie das?
Eine Kollegin in Washington hat das (am 7.2.) in ihrer Berichterstattung über den Besuch des deutschen Bundeskanzlers Scholz beim amerikanischen Präsidenten Biden sehr gut auf den Punkt gebracht. Sie hat gesagt: „Die wahre Nagelprobe wird nicht das Gespräch mit Biden sein, sondern hinterher die Fragen der Journalisten.“ Da kann man nur noch den Kopf schütteln. Vielen Journalisten passt offenbar nicht, dass die Bundesregierung, übrigens im Verbund mit Frankreich, nicht völlig auf die Position der Scharfmacher in Washington, London, Warschau und den baltischen Staaten einschwenkt. Und sie haben beschlossen, nicht locker zu lassen, bis der Kanzler einknickt. Doch welche Legitimation haben Journalisten eigentlich, auf diese Weise selbst Politik zu machen? Wer hat sie gewählt? Vor wem müssen sie sich rechtfertigen, wenn es schiefgeht? Und es ist schon abenteuerlich, wie sehr die eigene Regierung da manchmal herabgewürdigt wird. Von „Jesuslatschen“ ist zu lesen, auf denen der Kanzler unterwegs sei, seine Politik sei „blamabel“, „peinlich“ und dergleichen. Damit beschädigt man im Endeffekt auch unsere demokratischen Institutionen.
Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, damit es nicht zu einem Krieg kommt?
Journalisten sollten parteipolitische Spielchen entlarven, statt sie mitzuspielen, und endlich damit aufhören, Horrorszenarien zu entwerfen, mit denen sie Politikern möglichst markige Worte dazu abnötigen, was sie alles im Köcher haben, wenn…
Das ist die eine Seite.
Politiker sollten sich nicht kirre machen lassen, sondern das durchziehen, wofür sie schließlich auch Verantwortung übernehmen müssen. So etwas wie Helsinki 2.0, also eine große Sicherheitskonferenz, wäre ganz bestimmt hilfreich. Das kann aber nur gelingen, wenn Verhandeln und Kompromiss nicht als Schwäche ausgelegt werden, und – um auf die Journalisten zurückzukommen – wenn Journalisten endlich aufhören, Fragen zu stellen wie: Wer hat gewonnen, wer verloren, was ist mit dem Gesichtsverlust? Etwas Unwichtigeres kann ich mir zurzeit kaum vorstellen.
Warum ist es so schwer, eine Art „neue Ostpolitik“ aufzuziehen?
Wo sind deutsche Politiker, die dazu sowohl fähig als auch willens wären?
Weil es in den Leitmedien nicht mehr zu Debatten kommt und alles abgebügelt wird, was nur nach Verständigung mit Russland riecht. Auch die „neue Ostpolitik“ Anfang der 70er Jahre wurde als Vaterlandsverrat diffamiert und deren Vertreter als Fünfte Kolonne gebrandmarkt. Heute erledigt man das mit Begriffen wie „Russlandversteher“, „Putinversteher“ und „Verschwörungstheoretiker“. Leitmedien haben die Deutungshoheit übernommen und wer da vorkommen will, muss mit den Wölfen heulen. Was heute fehlt, ist eine kraftvolle Friedensbewegung, die möglichst unideologisch und nicht in Grabenkämpfen verstrickt eine einfache, klare Forderung formuliert: Wir haben die Nase voll von Säbelrasseln, egal auf welcher Seite, wir wollen Entspannungspolitik und die Ideen dazu überall lesen, hören und sehen, damit wir uns damit auseinandersetzen können.
Titelbild: kirill_makarov/shutterstock.com
Lesetipp: Krone-Schmalz, Gabriele: Respekt geht anders. Betrachtungen über unser zerstrittenes Land. C.H. Beck Paperback, 16. Oktober 2020. S. 174. 14,90 Euro.