Druck und Gegendruck

Druck und Gegendruck

Druck und Gegendruck

Lutz Hausstein
Ein Artikel von Lutz Hausstein

In der Schule lernen wir fürs Leben, musste ich in meiner Schulzeit immer hören. Doch ich verdrehte beim Hören dieses Satzes immer wieder die Augen und fragte stöhnend, an welcher Stelle des Lebens mir denn abstrakte chemische oder physikalische Erkenntnisse helfen könnten. Doch weit gefehlt! Vermag man die Grundprinzipien der Wirkungsweise zu erkennen und diese zu abstrahieren, kann man daraus sogar Handlungsvorlagen für das eigene Leben, teils auch fachübergreifend, erlangen. Ein kleines Essay darüber, was Physik mit der Debatte über die Impfpflicht und mit meinem eigenen Leben zu tun hat. Von Lutz Hausstein.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Schon frühzeitig verkündete die damalige Bundeskanzlerin Merkel, dass eine Impfung der einzige Weg aus der Pandemie sei. Ganz in diesem Sinne gestaltete sich auch die Politik des gesamten letzten Jahres. Man begann mit überdimensionierten Plakatkampagnen allerorten, schaltete Funk- und Printanzeigen und versuchte so, die Bereitschaft in der Bevölkerung zu einer Impfung mit noch ungenügend gesicherten Impfstoffen herzustellen. Dies lässt sich wohl am besten mit dem Begriff „Public Relations“ beschreiben. Wobei der neudeutsche Begriff des „Nudging“, also das „Anstupsen“ zu einer Verhaltensänderung in die erwünschte Richtung, eher den Kern des damaligen Vorgehens trifft.

Doch diese Phase ist schon lange überschritten. Inzwischen wird durch eine selektive Einschränkung von Bürgerrechten versucht, das Widerstreben von nicht Geimpften gegen eine Impfung zu brechen. Werden doch nicht Geimpfte, obschon sie nicht nachweisbar erkrankt sind, durch die derzeit in Deutschland herrschenden Vorschriften pauschal an der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen Rechte gehindert, während nach den jeweils aktuellen Regeln als vollständig geimpft Angenommene diese ausüben dürfen. Dabei handelt es sich keineswegs nur um die häufig angeführten Restaurantbesuche, sondern um so ziemlich alle gesellschaftlichen Bereiche. Vom Besuch von Kunst- und Kulturveranstaltungen über den Besuch von Sportwettkämpfen, aber auch der eigenen Teilnahme an sportlichen Aktivitäten, bis hin zu Reisen und Übernachtungen, ja sogar dem Einkauf aller den lebensnotwendigen Bedarf überschreitender Waren. De facto also alles, was nur im Entferntesten an gesellschaftliche Teilhabe erinnert.

Nun zeichnet sich am Horizont mit der Impfpflicht eine weitere Eskalation der Lage ab. Der vornehmlich aus den Reihen von Politikern zu vernehmende Widerspruch, dass es sich bei der Impfpflicht um keinen Impfzwang handeln würde, ist dabei eher beckmesserischer Natur. Denn eine von staatlicher Seite verhängte Impfpflicht, welche entweder als Ordnungswidrigkeit oder gar als Straftat mit noch nicht verbindlich geklärten Mitteln verfolgt und geahndet werden würde, ist letzten Endes nichts anderes als ein Zwang. Mag man da auch mit noch so haarspalterischen Begriffsauslegungen dagegen argumentieren. Ergänzend zum Verlust der gesellschaftlichen Teilhaberechte kämen durch eine Impfpflicht so noch Ordnungs- oder Strafgelder sowie zusätzlich/ersatzweise Erzwingungshaft oder Ersatzfreiheitsstrafe hinzu.

Doch welchen Effekt haben diese massiven Repressionen gegenüber nicht Geimpften auf diese Menschen? Abseits aller moralischen, aber auch juristischen Bewertungen – inwieweit kann ein solcher massiver Druck auf die Bevölkerung zu dem erwünschten Ziel einer vollständigen Durchimpfung führen? Oder führt eine Druckausübung zu dem gegenteiligen Effekt, sodass der Widerstand eines Teils der Menschen dadurch sogar noch gesteigert wird? Ein Erlebnis aus meiner eigenen Jugend bzw. meines jungen Erwachsenenseins legt Letzteres nahe.

Ich bin zeitlebens wahrlich nie ein Opportunist gewesen. Nicht, dass mich die Meinung Anderer nicht interessiert hätte. Aber ein allzu großer Konsens – zumal bei uneindeutiger Faktenlage – wecken in mir ebenso Widerspruch wie die Situation, wenn in Abwesenheit einer Person extrem negativ über sie hergezogen wird – umso mehr, wenn dies einhellig geschieht. Das verletzt mein Gerechtigkeitsempfinden. Da trat (und tritt) in mir der advocatus diaboli in Erscheinung und nimmt quasi die Rolle des Verteidigers des Abwesenden ein. Nicht aus reinem Oppositionswillen. Nein. Sondern um durch den Widerspruch eine Diskussion in Gang zu setzen, die anhand von Fakten eventuell (!) zu einem neuen, gemeinsamen Standpunkt führt, der nicht von Vorverurteilungen oder ungenügend geprüften Informationen geprägt ist. Neuen, mir nicht bekannten Informationen – sofern diese nach einer Prüfung meinerseits plausibel erscheinen – verschließe ich mich dabei nicht. Wird hingegen ohne stichhaltige Fakten einfach nur Druck auf mich ausgeübt, die herrschende Meinung widerspruchslos zu übernehmen, steigert dies meinen Widerstand nur. Nun erst recht und so schon mal gar nicht!

Und damit komme ich zu meiner Geschichte. In der DDR gab es pro forma zwar mehrere Parteien, sie verfolgten jedoch als sogenannte „Blockparteien“ fast identische Ziele wie die SED und waren zudem durch den Zusammenschluss in der „Nationalen Front der DDR“ bei Wahlen auch nur im Block wählbar. Dennoch war es das Ziel der SED, dass an möglichst allen wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Schaltstellen im Land Mitglieder der SED sitzen. Daher begann man schon frühzeitig, auch Jugendliche für einen Eintritt in die SED zu gewinnen. Denn zwingen konnte man dazu niemanden, es musste trotz allem ja freiwillig erfolgen. Auch wenn dieses freiwillig nicht selten „freiwillig“ war.

Damit konnte gar nicht früh genug begonnen werden. Nach meiner Erinnerung dürfte es in der 7. oder 8. Klasse gewesen sein, dass erstmals Schüler aus dem Unterricht geholt wurden, um mit ihnen ein Gespräch zu führen. Selbstverständlich immer schön einzeln. Meist gab es solche Gespräche zwei bis drei Mal pro Schuljahr. Dabei handelte es sich in der Regel um die vier, fünf, sechs Jugendlichen mit den besten schulischen Leistungen, denn bei ihnen bestand eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie später in betriebliche oder gesellschaftliche Leitungsfunktionen aufsteigen könnten. So holte man also einen einzelnen Schüler mitten in der Unterrichtsstunde zu einem Gespräch heraus, bei dem dieser dann vor einem kleinen Auditorium (SED-Parteisekretär/Parteisekretärin der Schule und Klassenlehrer/Klassenlehrerin) zur prinzipiellen Bereitschaft einer Mitgliedschaft in der SED befragt wurde. Obligatorisch war dabei stets, auch nach den Gründen zu fragen. Vor allem natürlich, wenn man widerstrebte.

Erst recht im Falle einer offenen Verneinung war eine solche inquisitorische Befragung natürlich ein Ritt auf der Rasierklinge. Wusste doch jedermann, dass eine offene Ablehnung der SED mit zwar unausgesprochenen, aber wie ein Damoklesschwert über einem hängenden Nachteilen für den weiteren Lebensweg verbunden sein könnte. Man flüchtete sich in Phrasen, von denen man in Gesprächen mit Klassenkameraden gehört hatte, dass diese recht erfolgreich gewesen wären. Man versuchte, um eine konkrete Aussage herumzulavieren. Keine offene Absage zu formulieren, ohne dabei zuzusagen. Ein recht schwieriges Unterfangen, bei dem man mächtig ins Schwitzen kam, wurden doch diese Nachfragen bei jeder neuen Befragung nachdrücklicher gestellt.

Als ich nun also diese Klippen bis zur Beendigung meiner Schulzeit erfolgreich umschifft hatte, musste ich feststellen, dass ich damit noch lange nicht am Ziel angekommen war. Denn auch während des Abiturs wurden diese „hochnotpeinlichen Befragungen“ fortgesetzt. Doch je höher der dadurch erzeugte Druck auf mich wurde, umso mehr verfestigte sich in mir der Willen, dem nicht nachzugeben. Sicher, mir wurde während dieser Zeit, gerade in dieser so wichtigen Phase der beruflichen Orientierung, so langsam bewusst, dass mir aufgrund meiner Weigerung vermutlich berufliche Karriere-Entwicklungen versagt bleiben könnten. Doch das war mir zu diesem Zeitpunkt völlig egal. Ich war nicht bereit, mich durch Druck zu etwas erpressen zu lassen, was ich eigentlich nicht wollte.

War ich nun der Auffassung, nach dieser erfolgreich überwundenen Hürde – ich hatte trotz dieser Umstände meine Studienplatzbestätigung in der Tasche – würde sich dieses Problem in Luft auflösen, sah ich mich erneut getäuscht. Denn auch während meiner Zeit bei der Armee bat man mich zu Einzelgesprächen, um mich zu einer Mitgliedschaft in der SED zu bewegen. Deutlich seltener zwar als zuvor – daran hatte vermutlich auch mein Status als einfacher Soldat im 18-monatigen Grundwehrdienst eine nicht unerhebliche Schuld, aber das wäre nochmal eine weitere, längere Geschichte – aber dennoch gab es auch hier Versuche, mich zu „überzeugen“. Wobei ich nichts Prinzipielles gegen überzeugen habe. Gegen „überreden“ hingegen schon. Kann man mich mit Fakten überzeugen, die ich akzeptieren und teilen kann, wäre das in Ordnung. Versucht man dagegen, mich mit schierer Masse oder gar mit Druck zu überreden, dann verstärkt dies nur meinen Widerwillen.

Nach diesen anderthalb Jahren Armee stand ich daher vor einer Zäsur. Mir wurde bewusst, dass diese „Überzeugungsarbeit“ beim nun bevorstehenden Studium nicht nur nicht enden, sondern höchstwahrscheinlich sogar noch zunehmen würde. Deshalb entschloss ich mich zu einem radikalen Schritt. Ich trat in die CDU der DDR ein. War ich Mitglied in einer anderen Partei, so mein Gedanke, würden die Versuche, mich zum Eintritt in die SED zu bewegen, deutlich reduziert oder gar völlig eingestellt werden. Auch hätte ich in möglichen neuerlichen Gesprächen ein unschlagbares Argument an der Hand, denn ich war ja schon Mitglied einer Partei.

Und so ist es in der Gesellschaft wie in der Physik. Druck erzeugt einen Gegendruck, eine Kraft, die dem Druck einen gleich großen Widerstand entgegensetzt. Steigt der Druck weiterhin, braucht es ein Ventil, eventuell ein kleines, ungeplantes Loch, wodurch der Überdruck entweichen kann. Gibt es dieses nicht, dann explodiert irgendwann zwangsläufig der Kessel. Zum Schaden für die Allgemeinheit, die durch umherfliegende Trümmer des Kessels in Mitleidenschaft gezogen zu werden droht. Ein großer, entscheidender Teil der SED hatte 1989 erkannt, wann dieser kritische Moment erreicht war.

Titelbild: Paulo Jorge Alves Dias/shutterstock.com

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