Symbolfigur Maya Fernández Allende – Gabriel Borics Regierungskabinett und die Winke an Markt und ideologisches Umfeld
Am vergangenen 21. Januar stellte der im Dezember 2021 gewählte Präsident Chiles, Gabriel Boric Font, sein allerorts spannend erwartetes Regierungskabinett vor. Mit 14 Frauen und 10 Männern übertraf es gar die versprochene Gender-Parität in Politik und Staatsverwaltung. Doch Ausgewogenheit hin oder her, die Frauen- und „Männerschaft“ im Kabinett drückt weniger erkämpftes Territorium für weibliche Talente als die Vorbereitung auf „Governance“, also Regierbarkeit, aus. Von Frederico Füllgraf.
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Zum einen spiegelt die pluralistische, überwiegend nach Mittelinks neigende Zusammensetzung den auch im neuen Vorsitz der Verfassunggebenden Versammlung (VfV) stattgefundenen milden Rechtsruck wider; eine Leitungsfunktion, die nach Ablauf der Amtszeit Elisa Loncóns im Dezember 2021 dort von zwei VertreterInnen der unabhängigen, liberalen Linken übernommen wurde. Zum anderen demonstriert die Besetzung des Finanzministeriums mit Mario Marcel, des Außenministeriums mit Antonia Urrejola und des Bildungsministeriums mit Marco Antonio Ávila vor allem Besänftigungsgesten in Richtung „Märkte“ und Außenpolitik. Doch diese, zumindest in den geopolitischen Breitengraden Lateinamerikas, werden nach wie vor von neoliberalen, zum Teil autoritären Kräften gelenkt. Marcel ist seit mehr als einem Jahrzehnt amtierender und von der abdankenden konservativen Regierung Sebastián Piñera übernommener Zentralbank-Chef, Urrejola ist eine langjährige Funktionärin der rechtsgerichteten, in den USA beheimateten Organisation der Amerikanischen Staaten (OEA/OAS) und Ávila ist ein bildungs-privatisierungsfreundlicher Pädagoge, der über Jahre hinweg im Dienst von Milliardärs-Stiftungen, wie der des landesreichsten Luksic-Clans, stand.
Zur Absicherung von Parlamentsmehrheit: die wiederbelebte Concertación im Boot
Der Kurs der künftigen Regierung, die Mitte März vereidigt wird, scheint strategisch abgestimmt mit der Stimmung innerhalb der Verfassunggebenden Versammlung: Die Devise des gewählten Präsidenten heißt „moderación“ (Mäßigung). Die Kabinettsbildung ging weit über Borics ursprüngliche ideologische Koalition Apruebo Dignidad – zwischen der Frente Amplio (Breite Front), der Kommunistischen Partei und dem grünen Regionalistischen Verband (FRVS) – hinaus. Nur 50 Prozent der MinisterInnen sind Mitglieder des ursprünglichen, linken Bündnisses, die andere Hälfte wird von je zwei Mitgliedern der Sozialistischen Partei (PS), einem der Radikalen (PR) und einem der Liberalen Partei (PL) besetzt, die dem von der PS geführten Bündnis Nuevo Pacto Social (Neuer Sozialpakt) angehören. Mit der Christdemokratischen Partei (DC) – die in Borics Regierung nicht vertreten sein wird, sie jedoch unterstützen will – bilden letztgenannte Parteien wiederum das Rückgrat der sogenannten Concertación. Die Mehrzahl der Ministerien im ersten Boric-Kabinett wird jedoch von acht sogenannten „unabhängigen“ ExpertInnen bekleidet, deren Ernennung vom gegenwärtigen Generalsekretär der PS, Álvaro Elizalde, geräuschvoll gefeiert wurde, weil fünf der „Unabhängigen“ zur Einflusssphäre der PS gehören.
Mit der parteipolitischen Bandbreite bei der Besetzung seines Kabinetts übte Boric sich in der Volksweisheit, die da sagt: „Mit einem Auge den Fisch, doch mit dem anderen Auge die Katze bewachen!“. Mit der Letztgenannten ist die Zusammensetzung des künftigen chilenischen Parlaments nach den Wahlen vom November 2021 gemeint. Im Abgeordnetenhaus erreichte der traditionelle konservative Block, erweitert durch die erstmals vertretene Republikanische Partei des Rechtsradikalen José Antonio Kast, 68 von insgesamt 155 Sitzen. Doch dürfen die Konservativen auch mit der potenziellen Unterstützung drei rechter Splitterparteien – der Partido de la Gente, Evópoli und Comunes – rechnen, die es zusammen auf weitere 16 Sitze brachten, womit die Konservativen punktuell mit insgesamt 84 von 155 Stimmen rechnen dürfen. Demgegenüber schrumpfte die alte Concertación auf 37 und das Apruebo-Dignidad-Bündnis (Frente Amplio+Kommunisten+Grüne) erkämpfte 44 Mandate, zusammen also 81 Sitze. Besaß die linke und Mittelinks-Opposition seit den Parlamentswahlen von 2017 eine knappe Mehrheit in der Senatskammer, büßte sie diese bei den Wahlen vom November 2021 ein. Borics breitgestreute Kabinettsbesetzung zielt also auf den Gewinn jeder nur denkbaren Einzelstimme zur parlamentarischen Unterstützung seines Regierungsprogramms ab.
„Saloon-Türen“-Sozialisten, die großen Gewinner?
Indes werden die taktischen Schachzüge auch von Ironie begleitet. Die in der Vergangenheit von Boric und seinen Genossen aus der Studentenbewegung so oft scharf und zu Recht kritisierte Sozialistische Partei ist nämlich die große Gewinnerin in der Besetzung des Regierungskabinetts: Sie kommandiert fortan nicht nur die Ministerien der Verteidigung (Maya Fernández Allende) und des Wohnungsbaus (Carlos Montes), sondern beeinflusst Finanz- und Außenministerium durch die der PS nahestehenden Minister Marcel und Urrejola und die Ministerien der fünf „Unabhängigen“.
Die von Christdemokraten und Sozialisten wie Elizalde und den ehemaligen Präsidenten Ricardo Lagos und Michelle Bachelet geführte Concertación trat als Mittelinks-Bündnis nach dem Zusammenbruch der Pinochet-Diktatur 1990 die Staatsmacht an, beugte sich jedoch einem doppelten drakonischen Druck: die „Autonomie“ der Streitkräfte nicht anzutasten und ihre Verbrechen nicht zu ahnden sowie das „erfolgreich getestete“ neoliberale Wirtschaftssystem unversehrt weitergedeihen zu lassen. Elizalde verkörpert innerhalb der PS die seit Jahrzehnten vom Volk auf den Straßen scharf angeprangerte Unzucht der „Saloon-Türen“, nämlich das Hin- und Herpendeln führender Funktionäre der Partei zwischen Privatwirtschaft und Regierung. Anders ausgedrückt: ein Diskurs zugunsten des Sozialstaates, jedoch in der Verwaltung von neoliberalen Operateuren erst verstümmelt und dann umgesetzt. Zu dieser Gruppe gehört PS-Mitglied, ehemaliger Energieminister im Kabinett Bachelet, Unternehmer, Millionär und George-Soros-Freund Máximo Pacheco. Wäre es allein nach Elizalde gegangen, hätte Pacheco das Finanzministerium erobert, doch hier setzten Boric und sein „Operator“ und künftiger Kabinettschef Giorgio Jackson den Namen Mario Marcels durch; ein liberaler Softie, dem zwar sozialstaatliche Freundlichkeit nachgesagt wird, allerdings rigoros in den Grenzen der von „den Märkten“ geforderten „Haushaltsdisziplin“.
Dagegen musste Boric die Schelte seines verlässlichsten und Bündnispartners der ersten Stunde – der Kommunistischen Partei Chiles – einstecken. Die KP fühlt sich von Boric und seinen „Millennials“ benutzt. Ihr Generalsekretär Guillermo Teillier sinnierte, Marcel und mehrere nominierte Minister seien „Neoliberale“, er beklagte, dass in der neuen Regierung zu wenig Gesichter aus den sozialen Bewegungen zu sehen seien und dass seine Partei mit gerade drei von 24 Ministerämtern abgespeist worden sei. Die drei KommunistInnen in Borics Kabinett sind Camila Vallejo als Regierungssprecherin, Jeannette Jara (Arbeit und Soziales) und Flavio Salazar (Wissenschaft, Technologie und Innovation).
Doch das Unbehagen auf Seiten der traditionellen wie der unorthodoxen Linken meldete sich auch gegen die Nominierung von Chiles neuer Außenministerin.
Antonia Urrejola – ein Zeichen der Kontinuität US-abhängiger Außenpolitik?
Antonia Urrejola ist eine der PS nahestehende Menschenrechtsanwältin, die unter mehreren früheren Regierungen der Concertación Karriere machte. Sie leitete die Sonderkommission für Indigene Völker, aus der der Rat für Indigene Völker erwuchs. Sodann war sie Beraterin des Ministeriums für Nationale Kulturgüter in der Regierung des Christdemokraten Eduardo Frei Ruiz Tagle. In der darauffolgenden Regierung von Ricardo Lagos hatte sie Leitungsfunktionen im Ministerium für Planung und Zusammenarbeit. Danach wurde sie Stabschefin von José Miguel Insulza während seiner zehnjährigen Amtszeit als Generalsekretär der OAS von 2005 bis 2015.
Es ist nicht verkehrt, daran zu erinnern, dass der ehemalige Mitarbeiter Salvador Allendes und Sozialist Insulza als chilenischer Außenminister im Jahr 2000 die Auslieferung des wegen tausendfachen Menschenrechtsverbrechen angeklagten General Augusto Pinochet an Spanien verhinderte. Insulza spann mit Chiles Rechtsradikalen die Farce einer angeblichen „Demenz“ des in England weilenden Ex-Diktators, womit die britische Regierung Pinochet die Ausreise nach Chile erlaubte. Insulzas Argument gegen die Auslieferung war, Pinochet habe das Anrecht, sich der chilenischen und nicht der internationalen Justiz zu stellen. Was niemals geschah: Pinochet starb straffrei im Jahr 2006. Doch kein Grund zur Reue für den Zyniker Insulza, der zwanzig Jahre später erklärte : „Ich würde es genauso wiederholen“.
Während der Amtszeit des Chilenen im Vorsitz der OAS ereigneten sich der Putschversuch von 2008 in Bolivien und der Staatsstreich von 2009 in Honduras. In beiden von den USA unterstützten Manövern wurde dem OAS-Generalsekretär notorische Passivität vorgeworfen, die Verhandlungen und die De-Eskalierung waren hingegen Verdienst der von progressiven Regierungen der Region frischgegründeten UnaSur (Bündnis der Südamerikanischen Staaten). Doch Insulzas einseitige Menschenrechts-Politik führte auch zu Konfrontationen mit Kuba, Nicaragua und Venezuela.
Mit an Bord war seine Landsfrau Antonia Urrejola, die nach Ablauf von Insulzas Amtszeit 2017 als Mitglied der Interamerikanischen Menschenrechts-Kommission (CIDH) nach Venezuela und Nicaragua reiste und in ihren Berichten zu Recht die überaus kritische Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung sowie autoritäre Neigungen in beiden Ländern kritisierte. Die illegale Absetzung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016, den Putsch vom November 2019 gegen den bolivianischen Präsidenten Evo Morales sowie die brutalen Massaker an unbewaffneten ehemaligen FARC-Mitgliedern und sozialen Aktivisten in Kolumbien verschwieg sie jedoch bisher systematisch. Kritische Medien in Chile werfen ihr deshalb vor, dass das OAS-System als Ganzes von einer offensichtlich pro-rechten und pro-amerikanischen Ausrichtung geprägt war: „harte Positionen gegenüber linken Regierungen, Unterlassungen und Komplizenschaft mit dem rechten Lager und Washington“.
Diese Karriere Urrejolas schien dem scheidenden und selbst wegen schweren Menschenrechtsverletzungen angeklagten Präsidenten Sebastián Piñera attraktiv, als er Urrejola 2021 erneut in die CIDH beförderte, die entgegen den scharfen Abrechnungen von Amnesty International, Human Rights Watch und der UNO zu dem kriegsähnlichen Vorgehen Piñeras gegen die Sozialrevolte von Ende 2019 bis heute weder ein kritisches Wort noch einen Bericht vorgelegt hat.
Vor diesem Hintergrund wirft die künftige Außenpolitik Gabriel Borics vielfach Fragen auf. Der Frischgewählte machte innerhalb weniger Wochen widersprüchliche Angaben dazu. Zum einen provozierte er Kopfschütteln unter Progressiven mit seiner von Fernsehkameras eingefangenen Erklärung nach einem Treffen mit Piñeras Beraterin Ximena Fuentes: „Ich denke, wir werden die staatliche Politik der Kontinuität garantieren“. Zum anderen beschwor er enge Zusammenarbeit mit dem bolivianischen Präsidenten Luis Arce und Luis Inácio Lula da Silva als potenziellem Sieger der bevorstehenden brasilianischen Präsidentschaftswahl vom November 2022.
Die zweideutigen Winke sind Hinweise auf die beiden Pole, die auf Boric Druck ausüben. Auf der einen Seite ist die traditionelle, nationalistisch gefärbte, jedoch US-hörige Doktrin, die Chile in die Arme der sogenannten Freihandelszonen trieb, allerdings kontinental komplett isolierte. Auf der anderen Seite steht der progressive Ansatz der lateinamerikanischen Integration. Letzterwähnte, vor allem durch Lula vorangetriebene souveräne Politik erklären nun auch merkwürdig „erleuchtete“ und selbsternannte Boric-Berater wie Roberto Pizarro Hofer als „gescheitertes Experiment“ und fordern die Etablierung einer „neuen, unabhängigen Linken“, abseits von Kuba, Nicaragua und Venezuela, fernab auch vom Dialog. Wohin Boric tendieren wird, wissen Wochen vor seiner Amtsübernahme nur die Götter. Oder Antonia Urrejola.
Die Symbol-Nominierung von Maya F. Allende
In diesem konfusen Szenario ist die Nominierung von Salvador Allendes Enkelin zur Verteidigungsministerin nicht weniger unerfindlich. Die ersten Fragen, die sich aufdrängen, sind, ob ihr Auftrag darin besteht, die seit Ende der Pinochet-Diktatur niemals stattgefundene Demokratisierung der Streitkräfte ein für alle Mal durchzusetzen oder dem Beispiel ihrer Vorgängerin Michelle Bachelet zu folgen. Als Verteidigungsministerin von 2002 bis 2005 verurteilte Bachelet mit der einen Hand die Verbrechen der Pinochet-Diktatur, trieb jedoch mit der anderen Hand beim Kauf von rund 300 deutschen Leopard-2-Panzern, U-Booten und US-Kampfflugzeugen die militärische Aufrüstung voran und erntete das Lob der nach wie vor Pinochet-freundlichen Generalität.
Die gelernte Biologin und Veterinärin Maya F. Allende besitzt kaum Vorbildung in Sachen Militärpolitik und -administration, hat aber das politische Zeug für eine politische Wende in den Streitkräften. Jahrelang lag die Deputierte der PS und ehemalige Präsidentin der Abgeordnetenkammer mit Álvaro Elizalde im Wettstreit um den Vorsitz der Partei, den sie als Führerin des linken Flügels 2019 verlor und sich seitdem schrittweise ihrem ehemaligen Kommilitonen Gabriel Boric näherte.
Ihre Mutter war Beatriz „Tati“ Allende – eine der drei Töchter Salvador Allendes und Hortensia „Tencha“ Bussis – die Ende der 1960er Jahre in Kuba eine militärische Ausbildung als Guerillera erhielt. Die an der Universität Concepción ausgebildete Ärztin „Tati“ war mit dem Gründer der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR), Miguel Enríquez, befreundet und ein Anhängerin Che Guevaras. Nach der Niederlage von Ches Guerilla in Bolivien organisierte sie die Evakuierung der Überlebenden über Chile in die ganze Welt. Mit Payita Contreras, der Geliebten von Salvador Allende, gehörte „Tati“ zum engeren Berater-Kern des Präsidenten und fungierte als Zwischenhändlerin der Regierung mit der extremen Linken Chiles.
Im Jahr 1971 brach sie mit ihrer ersten Ehe und heiratete den kubanischen Geheimagenten Luis Fernández Oña („Alias“ von Rodolfo Gallart Grau), mit dem sie zwei Kinder hatte: Maya und Alejandro, der in Kuba geboren wurde. Am 11.09.1973, dem Tag des Militärputsches in Chile, bestanden die hochschwangere „Tati“ und ihre Schwester, die derzeitige PS-Senatorin Isabel Allende, darauf, an der Seite ihres Vaters zu kämpfen und La Moneda zu verteidigen, doch Allende befahl ihnen energisch, den Regierungspalast zu verlassen. Nach dem Tod Allendes schifften sich „Tencha“ und zwei ihrer Töchter ins Exil nach Mexiko ein, während „Tati“, ihr kubanischer Ehemann und Maya nach Havanna flogen, wo drei Monate später Mayas Bruder Alejandro geboren wurde.
Vom kubanischen Ehemann, Frauenhelden und Alkoholiker betrogen und verlassen, stürzte Beatriz „Tati“ Allende/Fernández in eine tiefe Depression, ausgelöst durch den Tod ihres Vaters und verschärft durch ihren Selbstvorwurf, die Wiedervereinigung der mehrfach gespaltenen chilenischen Linken sei ihr nicht gelungen. Eine bittere, subjektive Enttäuschung über die Zustände in Kuba schienen ihre Hoffnungen begraben zu haben und sie beging 1977 Selbstmord. Maya und ihr Bruder Alejandro wurden von Mitzi, der Schwester der Geliebten Allendes, in Havanna erzogen, kehrten in den 1990er Jahren jedoch nach Chile zurück. Alejandro bekannte sich erstmals offen zur Homosexualität und erklärte, er habe „die Schnauze voll vom kubanischen und lateinamerikanischen Machismo“, und zog zu seinem Freund nach Neuseeland.
Die Familiengeschichte der Allendes ist zweifellos eine solche, die von derart massiven Brüchen, Tragödien, Tabus und Schweigen umrankt ist, dass sie Bühne und Leinwand fordert. Einzelne Autoren versuchten sich in fragmentarischen Biographien, doch die Eindringlichkeit der Protagonisten und der Handlung übersteigen bei weitem das hilflose Wort.
Titelbild: radionuevomundo