„Gemeinsame Sicherheit“ als Strategie für eine Deeskalation des Konflikts mit Russland: Diplomatie als Grundlage der Konfliktlösung. Es besteht die akute Gefahr eines konventionellen Krieges zwischen Russland und der Ukraine. Es ist von einem längeren Kriegsszenario auszugehen, das tausende Menschenleben vor allem unter der Zivilbevölkerung kosten würde und unvorstellbares menschliches Leid zur Folge hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass der konventionelle Krieg einen Flächenbrand auslösen könnte: Hochgerüstete Atomwaffenstaaten wären in den Konflikt eingebunden – mit dem unkalkulierbaren Risiko eines Atomkrieges! Von Rolf Bader.
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Die bedrohliche Konfrontation und unmittelbare Gefahr eines Krieges in Europa können nur über eine Diplomatie, die auf Empathie setzt, entschärft werden. Wir sehen auch die NATO und die USA in der Verantwortung, ihre teils kompromisslose Position gegenüber Russland grundlegend zu überdenken und auf eine Diplomatie der „Gemeinsamen Sicherheit“ zu setzen. Diese besteht aus vier elementaren Bausteinen:
- der diplomatischen Empathie: Sie umfasst die Fähigkeit, sich in die Situation des Gegenübers hineinversetzen zu können, um dessen Erwartungshaltung und Position verstehen zu lernen,
- der Kompromissfähigkeit und Bereitschaft, eine Win-Win-Situation zwischen den Konfliktparteien anzustreben,
- dem Respekt und der Wertschätzung als diplomatische Grundhaltung gegenüber dem Konfliktpartner,
- der Definition und Festlegung eigener Interessen und der Verhandlungsziele.
Wenn man die vier Bausteine auf die aktuelle konfrontative Situation zwischen Westeuropa und den USA auf der einen und Russland auf der anderen Seite projiziert, so ist Folgendes zu konstatieren: Weder ist seitens des Westens eine klar definierte Verhandlungsposition mit Zielperspektiven erkennbar, geschweige denn eine diplomatische Empathie oder Bereitschaft, eine Win-Win-Situation anzustreben, auszumachen. Hier sind fundamentale Defizite zu konstatieren, die ein für beide Seiten tragfähiges Verhandlungsergebnis so gut wie ausschließen.
Deshalb gilt es, folgende Schritte der Deeskalation zu berücksichtigen:
- Diplomatische Empathie
Sich in die geostrategische Lage Russlands hineinversetzen zu können, ist unabdingbar für die Festlegung der eigenen Verhandlungsposition. Die Auflösung des Warschauer Paktes 1991 und der damit verbundene Abzug der russischen Truppen aus Osteuropa unter Gorbatschows Regentschaft markiert einen historischen Wendepunkt, der die geostrategische Lage Russlands erheblich schwächte. Der Verlust hegemonialer Machtpositionen in Europa wird in Russland, besonders von Russlands Präsident Wladimir Putin, als schwere politische Fehlentscheidung Gorbatschows beurteilt. Die Aufnahme von 14 ehemaligen Staaten des Ostblocks in die NATO (1999: Polen, Ungarn, Tschechien; 2004: Litauen, Lettland, Estland, Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien; 2009: Albanien, Kroatien; 2017 Montenegro; 2020: Nord-Mazedonien), die so ihren strategischen Einflussbereich bis an die Grenze Russlands ausdehnen konnte, tangiert den russischen Nationalstolz. Für den Machtpolitiker Putin ist das ein geostrategischer Verlust, der das Verhältnis zum Westen dauerhaft belastet. „Die Erweiterung der NATO erschütterte die Grundlagen der europäischen Ordnung, die mit der Schlussakte von Helsinki 1975 festgelegt worden waren. Es war eine Wende um 180 Grad, weg von der Strategie, die die europäischen Staaten zur Beendigung des Kalten Krieges ausgearbeitet hatten“, so Michail Gorbatschow (aus: „Das neue Russland“, Seite 372, Quadriga 2015). „Diese Verlagerung des sowjetischen und russischen Einflussbereichs um rund 2000 Kilometer nach Osten stellt zusammen mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die größte Machtverschiebung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg dar“, so Prof. Wemer. Herwig Roggemann vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin (aus: „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“, Seite 147, Westend Verlag 2018).
Die Öffnung der Ukraine Richtung Westen verbunden mit einer befürchteten Aufnahme in die NATO wird Putin mit aller Macht zu verhindern suchen. Die Destabilisierung der Ostukraine, die Annexion der Krim und der Aufmarsch mit über 100 000 Soldaten in Grenznähe belegen Putins geostrategische Zielrichtung. Der Erhalt des Marinestützpunkts Sewastopol muss aus russischer Sicht für die maritime Kontrolle der ganzen Region gewährleistet bleiben.
Schon allein diese kurze empathische Darstellung russischer Sicherheitsinteressen verdeutlicht, warum Wladimir Putin aus der Sicht des Westens kompromisslos agiert.
- Respektvoller und wertschätzender Umgang
Jede Form der Bloßstellung oder Isolation des Verhandlungspartners ist für den Fortgang eines diplomatischen Prozesses kontraproduktiv. Hartnäckiges Verhandeln ist zulässig, ja sogar geboten, muss aber getragen sein von gegenseitigem Respekt und der Achtung der Person.
- Kompromissfähigkeit und Bereitschaft zu einem Win-Win-Ergebnis
Die Bereitschaft des Westens, mit Russland eine Win-Win-Situation anzustreben, ist der Schlüssel für eine Lösung des Ukraine-Konflikts. Wie könnte ein solches Ergebnis zwischen beiden Konfliktparteien aussehen:
- Annexion der Krim
Die westliche Auffassung bezüglich des Völkerrechtsverstoßes bleibt bestehen, aber Russland wird deutlich gemacht, dass der eingetretene Zustand als derzeit unabänderlich toleriert wird.
- Keine Aufnahme der Ukraine in die NATO – keine Stationierung von Raketenabwehrsystemen in ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes
Der Westen erklärt gegenüber Russland einseitige Sicherheitsgarantien: Weder die Ukraine noch andere Staaten in der Großregion werden in die NATO aufgenommen. Darüber hinaus versichert die NATO vertraglich, keine ballistischen Abwehrsysteme in grenznahen Staaten zu Russland zu stationieren. Russlands elementares Sicherheitsbedürfnis wird dadurch gewährleistet und einer Destabilisierung des globalen Kräfteverhältnisses entgegengewirkt.
- Status der Ukraine
Natürlich ist die Ukraine ein eigenständiger souveräner Staat, der aber in seiner fragilen innenpolitischen Situation und der machtpolitischen West-Ost-Konfrontation zerrieben zu werden droht. Deshalb muss der Westen bereit sein, auf einen friedensfördernden Entwicklungsprozess einzuschwenken. Die Ukraine ist nur überlebensfähig, wenn sie sich innerstaatlich zu einer bundesstaatlichen Föderation mit autonomen Regionen entwickeln kann. Zwischenstaatlich muss ein neutraler und blockfreier Status erhalten bleiben, der der Ukraine Assoziierungen sowohl mit Russland als auch der EU ermöglichen könnte. Der Westen muss seine Position auf einen neutralen Status der Ukraine festschreiben, um dem verständlichen russischen Sicherheitsbedürfnis angemessen Rechnung tragen zu können.
- Verzicht auf Sanktionen
Die Sanktionen der EU und der USA destabilisieren Russland. Sie tragen dazu bei, dass die Position Wladimir Putins innenpolitisch noch gestärkt wird. Deshalb sollte der Westen auf die Androhung von Sanktionen verzichten.
Fazit: Das Gesamtergebnis dieser beschriebenen Verhandlungsstrategie bildet eine Win-Win-Situation ab, die auch Russland als gleichwertigen Konfliktpartner akzeptiert und Wladimir Putin die Chance der Gesichtswahrung ermöglicht.
Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich die Interessenlage der westlichen Staaten weitgehend ableiten:
- Verhinderung eines globalen (Atom-)Krieges
Dieses Ziel ist von existentieller Bedeutung für Europa und weltweit. Alle Bemühungen müssen darauf ausgerichtet sein, einen Krieg zwischen den Atommächten zu verhindern. Lokale Brandherde dürfen nicht eskalieren und zu Kurzschlussreaktionen führen. Die latente Gefahr eines Atomkrieges ist weit aus dem diplomatischen Blickwinkel verdrängt worden. Das Bewusstsein dieser existentiellen Gefahr fordert diplomatische Verhandlungen vergleichbar mit einem Schlichtungsprozess: An einem neutralen Ort (z.B. in der Schweiz) müsste so lange verhandelt werden, bis ein friedensförderndes Ergebnis im Sinne einer Win-Win-Situation erzielt wird.
- Rückzug der russischen Truppenkontingente
Ein wichtiges Verhandlungsergebnis in dem Schlichtungsprozess muss der Rückzug der russischen Truppenkontingente in Grenznähe zur Ukraine sein. Diese als nachvollziehbare Bedrohung und latente Kriegsgefahr empfundene Massierung konventioneller militärischer Kräfte muss durch eine rückwärtige Entflechtung wesentlich entschärft werden.
- Ressourcenabhängigkeit des Westens
Die Abhängigkeit des Westens von Rohstoffen und Energie fordert ein dauerhaft partnerschaftliches Verhältnis zu Russland aufrecht zu erhalten. Allein dieses Faktum macht Russland zu einem wichtigen Handelspartner der EU. Stabilität in den Außenbeziehungen muss auch zukünftig gewahrt bleiben. Es muss das Ziel der EU sein, ein Abdriften Russlands in den ost- und südasiatischen Raum zu verhindern.
- Entschärfung des Ukraine-Konflikts
Wie geschildert, sollte Europa den neutralen und blockfreien Status der Ukraine wieder befördern und die verantwortlichen Politiker in Kiew darin bestärken, einen Bundesstaat anzustreben.
- Klimaziele machen den Verzicht auf die Option eines Krieges und die Konversion der Rüstungsindustrie erforderlich
Die größte Bedrohung der menschlichen Zukunft besteht neben den Zerstörungen durch einen Atomkrieg in den unumkehrbaren Folgen des Klimawandels, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimavertrages nicht erreichen.
Unverständlicherweise werden Kriege und die Folgen der militärischen Aufrüstung weltweit als Herausforderungen für den politisch erforderlichen Wandel, der für die Erreichung der Klimaziele unabdingbar ist, gar nicht erwähnt und sind daher im globalen gesellschaftlichen Bewusstsein auch noch nicht verankert. Nach einer Studie der University of Boston errechnet die Autorin Neta C. Crawford einen jährlichen Gesamtausstoß des US-Militärs einschließlich der Produktionsgüter von 340 Mio. Tonnen CO². Das entspricht 15 % der gesamten industriellen Treibhausgasemissionen der USA – und die Rüstungsindustrie schafft mit der Produktion und dem Verkauf ihrer Waffen erst die Voraussetzungen für diese dramatischen Folgen.
Es muss daher im Interesse aller Länder, die über eine Rüstungsindustrie verfügen, liegen, die Produktion kriegstauglicher Güter zu beenden und eine Strategie zur umfassenden Konversion dieses Industriezweiges zu entwickeln, um die so freiwerdenden enormen finanziellen Ressourcen in technologische Innovationen zur Beherrschung des Klimawandels umzuschichten und gleichzeitig dadurch die hoch spezialisierten Produktionsstätten und die daran gebundenen Arbeitsplätze zu erhalten. Es gibt weltweit schon viele Beispiele, die diesen Prozess erfolgreich und gewinnbringend gemeistert haben.
Fazit: So lässt sich ein zielführendes Konzept beschreiben, das zu einer Lösung des NATO-Russland-Konflikts beitragen könnte und gleichzeitig den Interessen und Herausforderungen auch der westlichen Länder dienen würde.
Eine neue Friedensordnung für Europa
Auf dem Sondergipfel der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) wurde am 21. November 1990 die Charta von Paris verabschiedet und unterzeichnet. Das Ziel des Dokuments war und ist die Schaffung einer neuen Friedensordnung in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Diese Charta gilt es, wiederzubeleben und mit diplomatischem Geschick zu unterfüttern. Das Fundament und das Dach der neuen Friedensordnung für Europa bildet die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die aus der ehemaligen KSZE hervorging. Sie ist leider seit 1995 wegen der Dominanz der NATO als ein im „Dämmerschlaf“ befindliches Gebilde weitgehend unwirksam geworden. Mit einer Wiederbelebung der OSZE ließe sich eine dauerhafte Friedensordnung für Europa einrichten. Das Fundament bildet das Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit der Palme-Kommission von 1982, das der Ausgangspunkt für die erfolgreiche Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr war.
OSZE anstelle der NATO
Ein souveränes Europa unter enger partnerschaftlicher Einbindung Russlands ließe sich nur mit einer schrittweisen Auflösung der NATO realisieren. Die Beziehung zu den USA bliebe zwar ein stabiler Faktor, würde aber vor allem in seiner militärstrategischen Dominanz wesentlich zurückgefahren. Die NATO aufzulösen, mag utopisch anmuten. In Anlehnung an das Ende des Warschauer Paktes erscheint ein solcher Schritt längst überfällig und friedenspolitisch geboten. Dieser Prozess kann nur gelingen, wenn die Dominanz und Vormachtstellung der NATO kontinuierlich zurückgefahren wird.
Das Ziel muss sein, unter Einbindung Russlands innerhalb der OSZE (oder einer zukünftigen, der OSZE vergleichbaren Organisation) eine Sicherheitspartnerschaft aufzubauen, aus der eine neue Friedensordnung in und für Europa – entsprechend der Charta von Paris – entstehen kann. Diese Vision ist aus der Überzeugung herausgewachsen, dass ein Krieg die Lebensgrundlagen in Europa zerstört und ein Atomkrieg alles Leben auf der Erde auslöschen wird.
Titelbild: Razvan Ionut Dragomirescu/shutterstock.com
Rolf Bader ist ehem. Geschäftsführer der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)