Versammlungsfreie Polemik über die Selbstbeschränkung der Kultur. „Man kann seine Meinung auch kundtun, ohne sich gleichzeitig an vielen Orten zu versammeln“, findet die Bundesinnenministerin, die nach Artikel 56 des Grundgesetzes geschworen hat, „das Grundgesetz zu verteidigen“. Was will sie damit sagen? Dass Demokratie es nicht nötig hat, gelebt zu werden, wenn die Guten an der Macht sind? #staythefuckathome! Ist ja auch lästig, wenn Zehntausende einfach nicht aufhören wollen, ihren Protest gegen fortgesetzte Grundrechtseinschränkungen auf die Straße zu tragen. Oder meint die Ministerin die – deutlich weniger gut besuchten – „Mahnwachen für die Corona-Toten“? Ein Meinungsbeitrag von Katharina Körting.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Während „Spaziergänger“ ihren Ruf ruinieren und den des einst unschuldigen Wortes „Spaziergang“ gleich mit, polieren die Mahnwächter an der heimeligen Selbstgewissheit, für die „solidarische Mehrheit“ zu sprechen. Sie bleiben mit ihren Gedanken zuhause, im wohlig Bewährten, Medienverstärkten. Der Protest tut dies nicht. Er gehorcht nicht. Das hat er noch nie getan. Es wäre ja auch noch unschöner, wenn sich Meinungsfreiheit (Artikel 5) und Versammlungsfreiheit (Artikel 8) auf regierungstreue Bürger beschränkte. Da hätten dann wirklich diejenigen gewonnen, die sich in einer „Corona-Diktatur“ wähnen.
Was sagt eigentlich die Kultur dazu?
„Man kann Kunst auch machen, ohne gegen den Staat zu sein“, sagt sie – und bleibt zuhause, bleibt privat. Die Kultur protestiert nicht – sie solidarisiert sich nicht mit ausgegrenzten Ungeimpften, sondern mit dem ausgrenzenden Staat. Sie hält in den unsolidarischen Medien Pappschilder hoch, um auf ihre „Systemrelevanz“ aufmerksam zu machen. Das hätte man mal Künstlern in früheren bundesrepublikanischen Zeiten vorschlagen sollen: ausgerechnet systemrelevant zu sein! Sie wären beleidigt gewesen. Aber Kultur heute definiert, im ohrenbetäubenden Chor der „solidarischen Mehrheit“, die Grundrechtseinschränkungen als „Solidarität“ und findet kein Wort des Widerstands gegen den fortgesetzten staatlich verordneten Missbrauch dieses Wortes: Solidarität. Die „Kulturschaffenden“ – übrigens eine Erfindung der NS-Reichskulturkammer und später auch gern in der DDR gebraucht – wähnen sich fortschrittlich und immer auf der richtigen Seite. Und die vertritt in der Corona-Politik der Staat. Sie posten Masken-Selfies. Sie lassen ihre Gewaltaufrufe im Namen der richtigen Sache von der Kunstfreiheit (ebenfalls Artikel 5!) decken und fordern eingeschränkte Meinungsfreiheit für die auf der falschen Seite Verorteten. Sie veröffentlichen Propaganda-Fotos von Negativ-Test-Ergebnissen und Impfstempeln. Sie rufen penetrant zum Impfen auf. Den Staat wollen sie nicht pieksen, sie wollen ihm nicht weh tun, sondern von ihm geliebt werden, im Namen des Infektionsschutzes, der Gesundheit und der heiligen Maßnahmen.
Niemals weichen sie vom Pfad der woken, maskentragenden Tugend ab – im Gegenteil: Sie ahnden jeden Verstoß. Alles Uneindeutige, Ergebnisoffene, Hinterfragende wird höchstens in den Ellbogen gehüstelt. Sie vernichten den Unterschied zwischen Kunstwerk und Künstler, zwischen Ausdruck und Gesinnung, hat doch Kunst zuallererst auf den richtigen Weg zu führen. So ist sie prüde und folgsam geworden. Sogar Kabarettisten wirken gehemmt, denn Lachen verbreitet zu viele Aerosole und ist unmoralisch. Lachen ist ansteckender als ein Virus. Lachen würde den Konsens der herbeimoralisierten „Solidarität“ infrage stellen. Im Namen der einzig wahren Wissenschaft, des einzig richtigen Denkens und Fühlens ächten Kulturschaffende alles Abweichende, alle Zweifel, alle Proteste, alles vorläufige, unfertige, nachdenkliche Herumprobieren des Gehirns als Sabotage, „rechts“ oder gleich „Nazi“ (und merken gar nicht, dass sie damit nicht nur die Kunstfreiheit beschränken, sondern auch den Nationalsozialismus verharmlosen). Die Kunst ist zur Regierungssprecherin geworden. Da erscheint die Einrichtung des Amtes einer Parlamentsdichterin nur folgerichtig. Als Närrin der Demokratie soll diese den Schulterschluss von Kultur und Bessermenschenpolitik besingen. Allerdings hätte sie, anders als der mittelalterliche Hofnarr, keine Narrenfreiheit, weil sie nicht in eine Rolle schlüpfen dürfte, sondern identisch zu sein hätte, mit sich, der Gesinnung und dem Amt.
Ein solches könne, formulierte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, „mit Poesie einen diskursiven Raum zwischen Parlament und lebendiger Sprache öffnen“. Wie bitte?, wollte man da nachhaken? Diskursiver Raum? Zwischen Parlament und lebendiger Sprache? Demnach liefe das Parlament sich tot im politischen Diskurs? Oder ist es schon gestorben? Und die Parlamentssängerin soll, einer sterbenden Schwänin gleich, darüber hinwegdichten, indem sie den eng werdenden Raum poetisch weitet? Oder handelt es sich doch eher um Geschwurbel der bildungsbürgerlichen Art?
Der Verbeamtung der Kunst stünde mit einer Parlamentsnärrin jedenfalls nichts mehr im Wege. Da ist sicherheitshalber auch nicht von einem Parlaments-DJ, -Rapper, -Schlangenbeschwörer oder -Tänzer die Rede oder was der zwielichtigen Gestalten mehr sind – ein Dichter soll es sein, divers, aber bildungsbürgerdeutsch. Fort mit allem Widerborstigen, Ungeschliffenen, Staatsfernen, Bröckeligen, Unschönen, nicht Einzuordnenden, Suchenden! Der endemischen Moralisierung aller Lebensbereiche fällt so auch die Kultur zum Opfer. Wer damit nicht einverstanden ist, hat seine irrelevante Minderheitsmeinung im stillen Kämmerlein zu äußern. Niemand braucht mehr Angst zu haben: Die Parlamentsdichterin wird sich nicht die Hände schmutzig machen, sondern sie in der Bundestagstoilette nach allen Regeln des Hygieneschutzes reinigen, wobei sie ein sauberes Liedchen pfeift, um die erforderlichen mindestens 30 Sekunden einzuhalten. Sie wird nicht nach Herzenslust draufhauen, oder auch mal daneben, neben die Gebote von Moral, Takt, Wokeness und Klimarettung, wird keinen Keil zwischen die Allianz der Selbstgewissen treiben – sie gehört ja dann dazu. Ein Narr, wer da an die DDR denkt, deren Künstler an der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft mitzuwirken hatten. Statt im gebotenen Abstand zum Politikbetrieb diesen mit seiner Beschränktheit und Unaufrichtigkeit zu konfrontieren, wird die Demokratie-Närrin ihm Hymnen schreiben – denn sie sind ja mental eins, die Kunst und die Politik! Sie ziehen am selben Strang! Fortschritt und Gesundheit für alle! Versammlungen nur nach Gesinnungstests! Nur ja nichts falsch machen!
Die Kunst verhält sich so, wie der neue Bundeskanzler spricht. Sie hakt sich beim Bundespräsidenten unter. Sie geht nicht dahin, wo es stinkt, wo man ungeschliffen redet oder dem Staat nicht traut. Sie hält es für einen Akt der Hygiene, nicht-mainstreamige Autorinnen als rechts auszusortieren und Maler mit falschen Gesinnungen von Ausstellungen auszuladen. Kunst hat rechtschaffen zu sein – nicht rechts, zwiespältig, uneindeutig, unanständig. Das Offene behauptet sie nur noch, während sie in Wahrheit Diskurs-Räume schließt. Sie muss den Reinheitsgeboten der neomoralischen Bundesrepublik entsprechen. Wen wundert, dass nichtlinke Autoren die engagierte Literatur kapern, wo doch die linke Kultur, sittsam versammelt hinter der „solidarischen Mehrheit“, sich als verlängerter Arm der Politik begreift und sich dem herrschenden Moralismus unterwirft – ja, ihm den Boden bereitet? So eine Moral will anständig bedichtet werden. Im diskursiven Raum zwischen Verlogenheit, Selbstbeschränkung und Anbiederei.
Katharina Körting ist freie Autorin. 2021 erschienen u. a. „Kontakttagebuch“ und „Liquidierung der Vergangenheit. Wie sich die evangelische Kirche auf den Grundlagen ihres Versagens restaurierte.“ Sie ist weder Impfgegnerin noch „Querdenkerin“, sondern querdenkend und nicht nur gegen Covid geimpft.
Titelbild: Sven Weyer/shutterstock.com