„Das gewünschte Kleidungsstück, die idealen Maße und das erträumte Markenerzeugnis. Weder handelt es sich um die Bekleidungsabteilung eines Einkaufszentrums noch um den eigenen Kleiderschrank, sondern um eine (Anm. FF: heimliche) Müllhalde in der Atacama-Wüste für Altkleidung aus den USA, Europa und Asien.“ So berichteten sprachlose Korrespondenten-Kollegen hier in Chile im vergangenen November 2021 für die Nachrichtenagentur AFP und sorgten mit Fassungslosigkeit für weltweite Verbreitung. Von Frederico Füllgraf.
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Der groteske Fund ist ein typisches Zufallsprodukt journalistischer Tätigkeit in der Gegend von Iquique, einer rund 200.000 Einwohner zählenden Hafenstadt, 1.800 Kilometer nördlich von Santiago de Chile gelegen. Die ehemalige Hochburg des peruanischen Salpeter-Tagebaus und -Reichtums wurde während des Salpeter-Kriegs (1879-1883) von Chile einverleibt und ist in der Geschichtsschreibung auch als Tatort eines der brutalsten Massaker bekannt: die Massenerschießung vom 21. Dezember 1907 von annähernd 3.000 streikenden Minenarbeitern in der Schule Santa María durch das chilenische Militär.
Iquique ist seit einigen Jahren Chiles wichtigster Freihafen, aber auch Hochburg der Kriminalität und Schauplatz sozialer sowie politischer Dauerspannungen und Nebenhandlungen. Recherchiert der Journalist über Chiles Importwirtschaft, stößt er auf Schmuggel, untersucht er die lokalen Gründe zunehmender Gewalttätigkeit, erfährt er von grenzübergreifenden Drogenbanden. Besucht er indes den Verwaltungsbezirk Alto Hospício – 650 steile Meter über der Bucht von Iquique gelegen, der selbst Jahrzehnte nach dem Salpeterkrieg aus ganzen 100 Seelen und einem trostlosen Frachtbahnhof bestand – stößt er auf die wichtigste und ärmste Kommune Iquiques mit 130.000 Einwohnern und dem größten Migranten-Lager Chiles. Die Migranten aus Venezuela, Kolumbien und von anderswo machen 10 Prozent der Bevölkerung der Hafenstadt aus und hier könnten sie ihn dann zum befremdlichsten „Bekleidungs-Markt“ aller Zeiten begleiten, auf dem sie sich selbst versorgen: die Klamotten-Halde in der Atacama-Wüste.
Undurchsichtiges Geschäft
Der Anblick ist bestürzend. Vor den staunenden Augen erheben sich Dutzende bunter Hügel in der desolaten Landschaft. Doch die Hügel bewegen sich. Auf ihren Gipfeln flattern bunte Textilien als Eisbergspitzen von schätzungsweise 100.000 Tonnen illegal „entsorgter“ Kleidungsstücke, die jährlich um rund 40.000 Tonnen anwachsen. Apropos „Eisbergspitzen“: Die Hügel verbergen vermutlich bis zu 4 Meter tief vergrabene Unmengen Wegwerf-Klamotten, die vom Wüstenwind mit Sand übersät wurden.
Es handelt sich um Kleidung, die in China, Indien, Bangladesch oder Myanmar hergestellt, in Berlin, Los Angeles oder Tokio gekauft und dann weggeworfen wird. Im Freihafen werden die zentnerschweren Ballen der „Second-Hand“-Kleidung nach Qualität sortiert und was der „Prime“-Auslese nicht genügt, wird über dem Berg als Abfall nach Alto Hospício „entsorgt“. Jedoch auf illegale Weise, denn die chilenische Gesetzgebung zur Müllverarbeitung und -entsorgung verbietet das Vergraben des Stoffmülls wegen Gefährdung des hier ohnehin knappen Grundwassers.
Was die Medien bisher nicht untersuchten, sind Schlüssel-Informationen zum Verständnis des globalisierten Gebrauchtkleider-Kreislaufs. Werden die Textilien etwa von den Herstellern kostenlos abgestoßen, aber kommerziell eingeführt, oder handelt es sich um weltweite Altkleider-Sammlungen wie die des Roten Kreuzes? Das Gemisch setzt sich nämlich zusammen aus Gebrauchtkleidung und nagelneuen, teils noch mit dem Etikett versehenen Hosen, Hemden und Jacken. Sollte es sich allerdings um Altkleider-Sammlungen handeln, würde es bedeuten, dass die „Importeure“ die Sendungen illegal abfangen und das soziale Zielpublikum betrügen.
Chile ist der führende Importeur von Gebrauchtkleidung in Lateinamerika. In Iquique versorgen sich auch peruanische und bolivianische Straßenhändler und Lieferanten, die die im Hinterland wuchernden Läden von „Import-Mode“ und „amerikanischer Kleidung“ ausstatten. In diesem Export- und Entsorgungsgeschäft tritt jedoch auch eine wenig untersuchte US-amerikanische und nach Selbstdefinition „unabhängige, strategische Markenkommunikations- und Kreativagentur“ namens Green Team in Szene, mit Niederlassungen in New York, Sydney, Melbourne, Hobart, São Paulo und Mexiko-Stadt. Sie erhebt den Anspruch, eine der ersten Kommunikationsagenturen zu sein, die sich auf die Bereiche „Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung“ konzentriert, doch die Folgen ihrer „Vermittlung“ sprechen eine andere (Bild-)Sprache und sind verheerend.
Deutsche Altkleiderflut: jährlich eine Million Tonnen
Als eines der wenigen, sogenannten Leitmedien hat der Sender Deutsche Welle das Thema des Bekleidungs-Konsums und der Altkleiderflut seit 2018 mehrmals aufgegriffen und spürte auch im deutschen Raum einen wahnhaft anmutenden Klamotten-Rausch auf. Im Jahr 2019 gaben die Deutschen laut Bundeswirtschafts-Ministerium die stolze Summe von annähernd 80 Milliarden Euro für Bekleidung aus. Befragte Verbraucher, Jung und Alt, gaben zu, trotz überfüllter eigener Kleiderschränke der Konsumversuchung nicht zu widerstehen und jährlich bis zu 30 neue Kleidungsstücke zu kaufen. Kleidungsstücke, die bald „aus der Mode sind“ und im Müll landen beziehungsweise gespendet werden.
Somit schwoll bereits in den 1990er Jahren die Altkleiderflut um 20 Prozent an. Denn in Deutschland wird in jedem Jahr rund eine Million Tonnen Textilien an Altkleidersammlungen gegeben, so Thomas Ahlmann von FairWertung, dem Dachverband von mehr als 130 gemeinnützigen Altkleider-Sammelorganisationen. Der innerdeutsche Bedarf an Gebrauchtkleidung ist jedoch sehr niedrig. Zwischen zwei und vier Prozent davon – Kleidung in extragutem Zustand – werden von Secondhand-Läden in Deutschland oder Westeuropa aussortiert und kaum zehn Prozent der abgelegten Kleidung wird von karitativen Organisationen, wie dem Roten Kreuz, mit Sammelcontainern abgerufen. Damit nimmt das Hilfswerk jährlich bis zu 14 Millionen Euro ein, die für wohltätige Zwecke verwendet werden. Den Löwenanteil, rund 40 Prozent, kaufen kommerzielle Altkleidersammler und exportieren somit hunderttausende von Tonnen zur Ware gewordene Gebrauchtkleidung.
Jedoch hinkt die deutsche Debatte über die Altkleider-Lawine bei zumeist falschen Annahmen. So zum Beispiel damit, die Altkleider-Verteilung habe große Bedeutung für die Grundversorgung mit Kleidung der Armen in Afrika und schaffe im Verteiler-Kreislauf Arbeitsplätze. Die Gebrauchtkleider werden jedoch vorrangig in jene afrikanischen Länder ausgeführt, die zahlungsfähig sind, „das hat ja mit Bedürftigkeit nichts zu tun“, widersprach bereits von Jahren Friedel Hütz-Adams vom Südwind-Institut dieser Falschdeutung. Es kam aber schlimmer: Die Altkleider-Schwemme verhinderte in den meisten Fällen den Aufbau einer robusten einheimischen Textilindustrie in Afrika; in Chile wurde sie durch die internationale Fast-Fashion-Branche liquidiert.
Die Fast-Fashion-Branche: giftiger, schwindelerregender Reichtum
Was ist die Triebfeder der gegenwärtigen weltweiten Bekleidungs- und Mode-Industrie? Die Fast-Fashion-Industrie, vertreten durch globalisierte Handelsmarken wie Zara, H&M, Ripcurl, Uniqlo oder Topshop, hat die Jahrzehnte alte Tradition der sogenannten Designer-Edelmarken (vor allem Dolce & Gabbana, Cacharel, Gucci, Ralph Lauren, Giorgio Armani, Prada, Chanel) von jährlich höchstens 4 Mode-Saisons durch bis zu 24 Fast-Saisons im Jahr abgeschafft. Im Klartext: Zweimal im Monat defiliert eine „neue Mode“ auf dem Parkett. Die Umsätze und Gewinne der Schnelle-Moden-Päpste sind obszön. Bernard Arnault, Gründer der Luxusgruppe LVMH – zu der Louis Vuitton, Dior und Hublot gehören – ist mit einem Nettovermögen von 189,2 Milliarden US-Dollar (Tendenz steigend) der reichste Mann der Modebranche. Im Mai 2021 hielt er sogar vorübergehend den Titel des reichsten Mannes der Welt und übertraf damit Jeff Bezos und Elon Musk, als die LVMH-Aktien in einer robusten Show gegen die Pandemie stiegen. Dass Hungerlöhne, schamlose Ausbeutung von hunderttausenden von Näherinnen und gewerkschaftsfeindliches Handeln in Bangladesch und im übrigen Südostasien die Grundlage der Profite dieser Fashion-Trendsetter bilden, berichteten die NachDenkSeiten bereits vor vier Jahren in der Reportage „ZARA – Der heimliche Klassenkampf im Jackenfutter“. Die Cochonnerie, der Schweinkram, kann aber auch in der kritischen Komödie Greed (Film-Trailer) nachvollzogen werden, deren Regisseur Michael Winterbottom vom Medienkonzern Sony zensiert wurde.
Feiern Politik und Medien die Umsätze, diskutieren sie nur am Rande die Auswirkungen der Modebranche auf die Umwelt. Zum Beispiel, dass für die Herstellung und Färbung eines Hemdes 2.700 Liter Wasser verschwendet werden, die dem durchschnittlichen Zweieinhalb-Jahres-Wasserverbrauch eines einzigen Menschen entsprechen. Doch die Textilproduktion verursacht weltweit auch 20 Prozent der Trinkwasserverschmutzung. Hier spielen nochmal die Färbereien und zum anderen die umweltschädlichen Kunstfasern eine zentrale Rolle, die als Erdöl-Nebenprodukt mehr als 80 Prozent des Wegwerf-Modebekleidungs-Gewebes bilden.
Der irrationale Stimulus zum Bekleidungs-Dauerkonsum führt dazu, dass der Textilabfall weltweit exponentiell ansteigt. Rund 85 Prozent der hergestellten Textilien werden derzeit auf Deponien entsorgt oder verbrannt, doch die Kunstfasern brauchen mehr als 200 Jahre, um von der Umwelt aufgelöst zu werden. Stolz treten auch in Chile Recycler in Szene, die die Gebrauchtkleider zu Isolierwänden, Farbfasern und „nachhaltiger Wäsche“ verarbeiten, ein hirnverbrannter Nonsens, der den Giftstoffen nur zu längerem Leben verhilft und das Problem nicht an der Wurzel packt: Weg von Konsum und zurück zur Baumwolle.
Jawohl, die Modebranche gilt bereits als das zweitschmutzigste Geschäft der Welt. Das attestiert die himmelschreiende Klamottenhalde in der Atacama.
Titelbild: saravuth/shutterstock.com