Die Kritik am inakzeptablen Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Corona-Phase wird lauter: Etwa zu 2G-Regeln für junge Menschen oder zur aktuellen Aussetzung der Präsenzpflicht an Berliner Schulen gibt es zahlreiche mahnende Stimmen. Das ist im Vergleich zu den letzten Monaten eine gute Entwicklung – umso skandalöser wird dadurch aber das Beharren auf den Maßnahmen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Dass der Berliner Senat die Präsenzpflicht in den Schulen jetzt aufhebt, wie Medien berichten, ist ein ganz schlechtes Signal – und das nicht, weil damit ein etwaiger „Kontrollverlust“ bei der Kontakt-Nachverfolgung eingestanden würde, wie es nun manchmal heißt. Sondern darum, weil das Signal geeignet ist, Ängste zu verlängern.
Die Angst vor gravierenden Folgen einer Infektion mit Corona ist aber bei fast allen Kindern unbegründet. Zusätzlich wurde nun (einmal mehr) festgestellt, dass Kinder keine „Pandemietreiber“ sind. Dass nun dennoch Ängste bei vielen Eltern existieren, ist nicht verwunderlich nach der monatelangen und verantwortungslosen Angstkampagne durch fast alle großen Medien und viele Politiker. Diese Ängste der Eltern kann man trotz ihrer zweifelhaften Grundlage nicht ignorieren. Eine verantwortungsvolle Führung würde aber trotzdem (oder gerade deshalb) alles daran setzen, keine zusätzlichen Signale zu senden, die solche Ängste bestätigen oder noch schüren. Statt nun eine Schule ohne Präsenzpflicht auszurufen, wäre also der gegenteilige Weg angezeigt gewesen: nämlich konsequent allen Akteuren entgegenzutreten, die die Schulen weiterhin zu einem Ort der Gefahr erklären wollen, ohne dass es dafür evidenzbasierte Argumente gäbe.
Denn wenn die Präsenzpflicht aufgehoben wird – so denken nun sicher viele Eltern – dann muss es ja gravierende Gründe dafür geben. Und nach der Verkündigung des Plans kann Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) ja schlecht die „Wahrheit” sagen: Dass es nämlich eigentlich keine angemessene Grundlage für die extremen Gesundheitssorgen in den Schulen gibt und Giffeys Entscheidung den trotzdem vorhandenen Elternängsten nur rein symbolisch Rechnung tragen soll. Doch durch diesen Schritt, der den verängstigten Teil der Eltern womöglich beruhigen sollte, werden diese doch nur in ihren Sorgen bestätigt. Und wenn Giffey den Schritt mit steigenden „Fallzahlen“ begründet, dann gibt sie diesen „Fallzahlen“, die überwiegend positive Tests ohne Symptome symbolisieren, den offiziellen Segen der anscheinenden Gefahr.
„Entsetzliche Dummheit“
Der Schritt, die Präsenzpflicht aufzuheben, ist drastisch: Er bringt die Lehrer in große Schwierigkeiten bei der Unterrichtsplanung und trägt noch einmal zusätzlich Unruhe in die Schulen. Eltern mit Ängsten sind nun hin- und hergerissen, etwa zwischen ihren Jobs und dem Gefühl, ihre Kinder zum „Schutz“ zu Hause behalten zu „müssen“ (schließlich hat es doch die Bürgermeisterin angeboten). Die Kinder, die dann zu Hause bleiben, erleben ebenso Trennung wie ihre Freunde, die noch in die Schule gehen. All das kommt noch zu den abzulehnenden „AHA-Regeln“ in den Schulen und zu bereits vor Corona in vielen Schulen bestehenden, vor allem sozialen Verwerfungen hinzu.
Die Corona-Maßnahmen, die Kinder betreffen (zum „Schutz“ selbstverständlich), hätten nie eingeführt werden dürfen: Sie sind unnötig und gefährlich – und sie symbolisieren eine kalte Ignoranz gegenüber den jungen Menschen. Die Streiter für diesen Schritt haben schwere Verantwortung auf sich geladen. Wer heute noch dafür eintritt, dass diese Maßnahmen nicht sofort und ersatzlos aufgehoben werden, hat meiner Meinung nach nicht das Kindeswohl im Sinn.
Entsprechend klingen einige Reaktionen auf den Berliner Vorstoß, wie Medien berichten. Die Aussetzung der Präsenzpflicht ist etwa aus Sicht des Berlin-Reinickendorfer Amtsarztes Patrick Larscheid eine „entsetzliche Dummheit“. „Wir wurden in keiner Weise beteiligt, es ist eine einsame Entscheidung der Senatorin gewesen“, sagte Larscheid der Deutschen Presse-Agentur. Der Widerstand und die Wut im Hygiene-Beirat, in dem die Politik sich mit Bezirken, Amts- und Kinderärzten und der Wissenschaft auch über das Vorgehen in der Corona-Pandemie berät, sei „maximal“. „Es wird allgemein befürchtet, dass diese Entscheidung dazu führt, dass die soziale Spaltung zwischen den Kindern verschärft wird“, sagte Larscheid. Kritik kam auch vom Kinderhilfswerk Unicef. „Mit der Entscheidung übertragen Politik und Verwaltung die Verantwortung, ob Kinder zur Schule gehen, vollständig an die Eltern“, teilte Unicef-Abteilungsleiter Sebastian Siedlmayr am Montagabend mit. „Das Versprechen, Schulen zuletzt zu schließen, droht damit unterlaufen zu werden.“
Doch was helfen die wiederholten Feststellungen von solchen Selbstverständlichkeiten, wenn doch nur wieder Tatenlosigkeit oder gar Verschärfungen folgen? Es gibt in der Corona-Debatte Aspekte, die mutmaßlich über die konkreten und akuten Einschränkungen des Alltags hinausgehen – etwa die potenzielle Schaffung einer Infrastruktur der Überwachung durch digitale Identitäten, die durch das Einfallstor des Impfpasses und der zugehörigen Datenbanken salonfähig gemacht werden könnten. Diese allgemeinere Ebene darf nicht aus dem Blick geraten, ebenso wie die heutige Debatte zur Impfpflicht im Bundestag – gleichzeitig muss aber sehr konkret (und schnell!) auch der Alltag der Kinder von den Schikanen befreit werden, und das, noch bevor der gesamte Corona-Komplex analysiert ist.
Kinder im Schatten der Erwachsenen-Paranoia
Ein aktueller Artikel in der Welt über Zugangsbeschränkungen für nicht geimpfte Kinder in manchen Bundesländern zeigt gut zwei widerstreitende Phänomene: einerseits die Stimmen, die (einmal mehr) auf die inakzeptable Situation der Kinder und Jugendlichen hinweisen (darunter Heike Baehrens, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag, Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, Kathrin Vogler von der LINKE-Fraktion, Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die Diakonie als Träger der Jugendhilfe, Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, die Deutsche Sportjugend oder der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte). Und andererseits das unbeirrte Fortfahren damit, diese Situation noch zu verschärfen, etwa indem man nun auch die jungen Menschen durch Zugangsbeschränkungen in den Impfdruck mit einbezieht: Kinder und Jugendliche dürfen laut dem Artikel vielerorts nur noch an Freizeitaktivitäten teilnehmen, wenn sie geimpft oder genesen sind. Damit würden die Bundesländer sich über die Ständige Impfkommission hinwegsetzen. Ärzte, Experten und Politiker warnen laut dem Artikel vor drastischen Folgen für die Gesellschaft.
Immerhin gibt es inzwischen diese kritischen Stimmen – sie machen aber die darauffolgende Tatenlosigkeit noch skandalöser. Nichts Neues also ist festzustellen: Die ja wohl als „vulnerabel“ zu geltenden Kinder und Jugendlichen werden weiter mit destruktivem „Schutz“ drangsaliert, es werden wichtige Jahre ihres Leben unnötig – aber unwiederbringlich – in den Schatten einer Erwachsenen-Paranoia gestellt. Die Tatenlosigkeit der „Zivilgesellschaft“ angesichts dieses Dramas ist verwerflich.
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