Die antirussische Propaganda der deutschen Mainstream-Medien hinterlässt auch bei Linken Spuren. Die Hamburger Monatszeitung „Analyse und Kritik“ (ak, bis 1991 „Arbeiterkampf“), die vorwiegend über „Kämpfe von Unten“ oder Diskriminierung von Migranten und sexuellen Minderheiten berichtet, schwenkt auf plumpen Anti-Russismus ein. Im Web-Auftritt der Zeitung prangt als Aufmacher ein Artikel mit der Überschrift „Russlands imperiale Eroberungen“. Von Ulrich Heyden.
Der Artikel stammt von der „freien Journalistin“ Anastasia Tikhomirowa, die auch für die taz schreibt und im Rahmen des Internationalen Journalisten Programm e.V. ein Stipendium bekam, um als Gastredakteurin bei der oppositionellen Novaja Gaseta in Moskau zu arbeiten.
In ihrem Artikel für „ak“ mixt Tikhomirowa verschiedene Ereignisse der russischen Geschichte zu einem wilden Gebräu. Russland habe sich als Kolonialmacht in den letzten Jahrhunderten gewalttätig nach Süden und Osten ausgedehnt. Im 19. Jahrhundert seien indigene Völker von den Russen angeblich in die Arktis verdrängt worden. Von Massakern, wie sie die westlichen Kolonisatoren in Afrika, Mittel- und Nordamerika an der indigenen Bevölkerung verübten, kann die Autorin in Bezug auf Russland allerdings nicht berichten.
Aber Tikhomirowa meint, die Förderung der Sprachen von 135 Minderheitsnationalitäten in Russland werde heute vernachlässigt. Viele Sprachen seien vom Aussterben bedroht. Dass die Förderung der Sprachen der kleinen Völker in Russland zu wünschen übrig lässt, ist unbestritten. Doch für die Autorin ist die Sprachen-Frage nur ein kleiner Baustein für ein großes Grusel-Bild. Dass die Sowjetunion in den 1920er Jahren die Entwicklung nationaler Kulturen förderte und viele Ethnien der Sowjetunion damals ihre ersten Wörterbücher und Theater bekamen, erwähnt die Autorin nur in einem Nebensatz.
„Sowjetischer Chauvinismus noch erfolgreicher als zu Zarenzeiten“
Die sowjetische und russische Realität beschreibt Tikhomirowa in düsteren Farben. In der Sowjetunion seien die Völker zwangsweise russifiziert worden. Es habe sich ein „großrussischer Chauvinismus“ entwickelt, der „noch erfolgreicher war, als zu Zeiten des zaristischen Russlands“.
Halt! Kennt Tikhomirowa denn die sowjetische Geschichte nicht? Wie passt es zum „großrussischen Chauvinismus, wenn am 2. Mai 1945 auf dem Dach des Reichstags in Berlin der Georgier Meliton Kantarija und der Russe Michail Jegorow gemeinsam die rote Fahne hissten? Weiß denn die Autorin nicht, dass im Zweiten Weltkrieg auf sowjetischer Seite Russen, Ukrainer, Kasachen, Georgier, Tschetschenen und sogar Mongolen Seite an Seite kämpften?
Von den 15 Fronten im „Großen Vaterländischen Krieg“ (russische Bezeichnung des Zweiten Weltkrieges) waren mehr als die Hälfte der Marschalle und Generäle ukrainischer Abstammung. Zu ihnen gehörten die Generäle Ijosif Apanasenko und Michail Kirponos sowie die Marschalle Semjon Timoschenko und Andrej Jeremenko. 2,5 Millionen ukrainische Soldaten wurden mit Orden und Medaillen ausgezeichnet. Von 115 „Helden der Sowjetunion“ waren 32 Ukrainer oder wurden in der Ukraine geboren. Der Kommandeur der 756. Schützen-Regiments, Fjodr Sintschenko, war der erste Kommandant des Reichstages.
Sowjetischer Schlagersänger aus Aserbaidschan
Tatsächlich wurde zugunsten des sowjetischen Projekts die Entwicklung der nationalen Kulturen – übrigens auch der russischen – gebremst. Allerdings wurden ausnahmslos alle Nationalitäten in das sowjetische Projekt integriert. Alle Sowjetbürger profitierten von einem exzellenten Bildungssystem. Auch Menschen aus Gebieten in der Provinz konnten in höchste Ämter aufsteigen.
Nicht-Russen spielten eine bedeutende Rolle in der sowjetischen und russischen Kultur. Zu den bekanntesten sowjetischen Schauspielern gehörte der in einer ukrainischen Bauernfamilie geborene Wasili Lanowoj (1934 bis 2021) und der in einer armenischen Familie in Tbilissi geborene Armen Dschigarchanjan (1935-2020). Einer der populärsten sowjetischen Schlagersänger, Muslim Magomajew (1942 bis 2008), wurde in Baku in einer aserbaidschanischen Künstler-Familie geboren.
Dass die postsowjetischen Unabhängigkeitsbewegungen Anfang der 1990er Jahre durchweg nationalistisch ausgerichtet waren und zum Teil mit Gewalt gegen die russische Zivilbevölkerung vorgingen, verschweigt Tikhomirowa. Hunderttausende Russen mussten Anfang der 1990er Jahre aus den zentralasiatischen, ehemaligen Sowjetrepubliken und aus Tschetschenien fliehen. Übrigens stellte ich selbst bei Reisen in Tschetschenien in den 1990er Jahren verwundert fest, dass viele Tschetschenen der älteren Generation sich mit Sehnsucht an die Sowjetzeiten erinnerten, weil es dort Stabilität und Vollbeschäftigung gab.
Ganz und gar nicht zum „großrussischen Chauvinismus“ passt auch, dass nicht wenige Spitzenbeamte und Unternehmer in Russland Nicht-Russen sind. Das russische Innenministerium wurde von 2004 bis 2012 von Raschid Nurgalijew und die russische Zentralbank wird seit 2013 von Elvira Nabiullina geführt. Nurgalijew und Nabiullina kommen aus tatarischen Familien.
Die Leiterin von RT DE, Margarita Simonjan, kommt aus einer armenischen Familie. Der viertreichste Mann Russlands, der Generaldirektor von Lukoil, Wagit Alekperow, kommt aus einer aserbaidschanisch-russischen Familie. Der Medien-Unternehmer und sechzehnfache Dollar-Milliardär Alischer Usmanow ist Usbeke.
„Die Annexion der Krim“ und die „Unterdrückung der Krim-Tataren“
Anastasia Tikhomirowa versteigt sich in „ak“ zu dem Satz: „Das moderne Russland ist bis heute eine zu große Föderation“. Das soll offenbar heißen, Russland müsse, wie schon die Sowjetunion, verkleinert werden. Ein verkleinertes Russland wäre der Traum der westlichen transnationalen Konzerne, die scharf sind auf Rohstoffe und ein zerteiltes Russland viel besser ausplündern könnten. Aber kann sowas auch ein Traum einer linken Zeitung sein, die in einem Land erscheint, welches einen Krieg entfesselte, in dem 27 Millionen Sowjetbürger starben?
Die „Annexion der Krim 2014“ – so Tikhomirowa – stelle „ein weiteres, aggressives Ereignis innerhalb der siedlungskolonialistischen Struktur dar, nicht nur gegen den Willen der UkrainerInnen, sondern auch gegen den der indigenen KrimtatarInnen“. Eines der „inspirierendsten Beispiele für die Infrastruktur des dekolonialen Widerstandes“ sei die „zivilgesellschaftliche Initiative Crimean Solidarity“. Diese von Krim-TatarInnen geführte Organisation habe sich zum Ziel gesetzt, „Menschen zu unterstützen, die vom russischen Staat auf der Krim diskriminiert werden“.
Da ich selbst nach 2014 mehrmals auf der Krim war, muss ich widersprechen. Die Bevölkerung der Krim stimmte schon am 20. Januar 1991 für die Unabhängigkeit von der Ukraine. Das war nicht überraschend, denn auf der Krim wohnen mehrheitlich Russen und von dem schon damals aufkeimenden ukrainischen Nationalismus fühlten sich die Russen auf der Krim nicht angezogen. Am 16. März 2014 stimmten bei einem Referendum auf der Krim 96 Prozent für die Vereinigung mit Russland.
Es stimmt, auf der Krim werden Krim-Tataren verfolgt, aber nur die, welche im Untergrund gegen die Vereinigung mit Russland arbeiten. Der Status der Sprache der Krim-Tataren wurde nach der „Annexion“ durch Russland erhöht. Krim-Tatarisch ist seit 2014 – neben Russisch und Ukrainisch – eine der drei offiziellen Sprachen auf der Halbinsel. Im September 2017 wurde in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, eine neue Schule für 760 Schüler eröffnet. 95 Prozent der Schüler sind Krim-Tataren. Wie passt das alles mit der angeblichen Kolonisierungspolitik Russlands zusammen, von der Frau Tikhomirowa in „ak“ schreibt?
Einreißen „linker Dogmen“?
Merkwürdig ist, dass „ak“ sich einerseits seiner revolutionären Wurzeln in den 1970er Jahren rühmt – damals hieß die Zeitung „Arbeiterkampf“ und wurde vom Kommunistischen Bund herausgegeben – sich aber mit dem Leitartikel von Tikhomirowa an der Dämonisierung Russlands beteiligt. Merkwürdig ist auch, dass „ak“ in den letzten Jahren über die Ukraine – das Treiben der rechtsradikalen Freiwilligenbataillone, die Unterdrückung der russischen Sprache und die Abschaltung oppositioneller Fernsehkanäle – nicht berichtete.
Wenn eine linke Zeitung ihre Leser beim großen Thema Krieg und Frieden in Europa dem Mainstream überlässt, stimmt da was nicht.