Die Kosten für Strom, Gas und Benzin steigen seit Monaten ins Unermessliche und stürzen immer mehr Menschen in finanzielle Nöte. Dutzende Billiganbieter sind bereits vom Markt verschwunden, Hunderttausende gekündigter Kunden stranden bei lokalen Grundversorgern zu unerhörten Tarifen und die Konkurrenz hält sie sich auch lieber vom Leib. Die Bundesregierung signalisiert Handlungsbereitschaft und diskutiert über „Klimabonus“ und „Klimadividende“. An die Ärmsten im Hartz-IV-Apparat denkt sie wie immer nicht, auch nicht daran, das freie Spiel der Kräfte zu regulieren. Bei dem mischen wie immer auch Spekulanten kräftig mit, die sich am Elend von Millionen eine goldene Nase verdienen. Von Ralf Wurzbacher.
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Am vergangenen Sonntag gingen haufenweise Berliner auf Tuchfühlung zum Mittelalter. Im tiefsten Winter bei minus drei Grad hatten Heizungen und Warmwasserversorgung in schätzungsweise 90.000 Haushalten der Ostbezirke Lichtenberg, Marzahn und Treptow-Köpenick für mehrere Stunden den Geist aufgegeben. Ursache war eine Störung beim landeseigenen Betreiber Stromnetz Berlin, die auch das Heizkraftwerk Klingenberg lahmlegte. Wohl weit über eine halbe Million Einwohner waren deshalb am Nachmittag für einige Minuten vom Strom abgekoppelt. Selbst am Ostbahnhof, in Supermärkten und anderen Geschäften wurde es zwischenzeitlich zappenduster.
Die Macher des WDR-Instagram-Kanals „klima.neutral“ waren prompt mit Rat und Tat zur Stelle. Wer „entspannt in den Blackout“ gehen möge, solle sich nebst Kerzen, Taschenlampen und „Kurbel-Radio“ mit reichlich Essbarem und Wasser eindecken sowie genügend Bargeld bunkern. Nicht gedacht hatte man an das Notstromaggregat für Oma Lieschen, falls ihr Beatmungsgerät plötzlich streikt. Überhaupt wirkte der Beitrag ziemlich daneben, so als müsste demnächst jeder Otto Normalbürger auf den Prepper-Trip kommen, nur nicht ganz so apokalyptisch, sondern ganz lässig und unverbissen, von wegen: Gewöhnt Euch dran und macht das Beste draus! Und wahrhaftig offenbart ein Blick in den Google-Newsroom: Allein in der zurückliegenden Woche gingen gleich etliche Male irgendwo in Deutschland die Lichter aus und manch einen beschleicht darob vielleicht das Gefühl, dass das mit der Energiewende doch nicht so klappt, wie die Politik es den Menschen weismachen will. Das „klima.neutral“-Team vom WDR weiß jedenfalls Bescheid. Einen früheren Artikel überschrieb es mit: „Drei Gründe für Blackouts. Und was die Energiewende damit zu tun hat.“
Energiepreisschock ohne Ende
Ganz zynisch gedacht, haben Aussetzer wie der am Wochenende in der Hauptstadt auch etwas Gutes. Für wenigstens ein paar Stunden oder Minuten muss man für die entgangene Energie auch nicht bezahlen. Man bibbert sich praktisch ein Stückchen weniger arm. Tatsächlich erlebt man hierzulande nämlich seit Monaten einen beispiellosen Kostenauftrieb bei Strom und Gas. Wie das Vergleichsportal Check24 am Montag mitteilte, hätten in 692 Fällen Stromgrundversorger ihre Preise erhöht oder dies angekündigt. Das waren 52 mehr als in der Vorwoche. Im Schnitt lägen die Zuschläge bei 65,1 Prozent und beträfen „rund 4,3 Millionen Haushalte“. Bei einem Verbrauch von 5.000 Kilowattstunden (kWh) bedeute dies Mehrausgaben von durchschnittlich 1.068 Euro jährlich.
Das trifft natürlich zuallererst die Ärmsten der Gesellschaft. Am Dienstag meldete das Statistische Bundesamt, dass die Aufwendungen für Strom, Heizung und Warmwasser bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 1.300 Euro im Jahr 2020 mit im Mittel 95 Euro zu Buche geschlagen hätten. Das entspreche einem Anteil an den Konsumausgaben von 9,5 Prozent, wogegen Spitzenverdiener mit einem Gehalt von 5.000 Euro im Verhältnis nur halb so viel dafür aufbringen müssten. Wohlgemerkt war dies der Stand vor einem Jahr. Seither seien die Verbraucherpreise für Haushaltsenergie laut der Wiesbadener Behörde über Monate „teilweise deutlich“ angestiegen. Mit einem Plus von 101,9 Prozent haben sich demnach die Kosten für Heizöl gegenüber 2020 mehr als verdoppelt. Die Preise für Erdgas hätten um 9,6 Prozent, die für Strom um 3,1 Prozent zugelegt. Allerdings beziehen sich diese Zahlen auf den November und sind damit auch bereits überholt.
Hartz-IV um plus drei Euro gekürzt
Für Angehörige der unteren bis hin zu den mittleren Einkommensschichten wird die Situation immer bedrohlicher. Nicht nur ächzen sie unter den horrend gestiegenen Mieten und der allgemeinen Teuerung, obendrein gehen jetzt auch die Ausgaben für die „zweite Miete“ durch die Decke. Besonders prekär ist die Lage derer, die Sozialleistungen beziehen. Während die Inflationsrate im Vorjahresvergleich zuletzt die Fünf-Prozent-Hürde übersprang, wurde der Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger zu Jahresbeginn um kümmerliche drei Euro oder 0,7 Prozent auf jetzt 449 Euro „aufgebessert“. Hält die Preisrallye an den Energiemärkten an, tickt hier eine soziale Zeitbombe. Davor warnte am Dienstag auch der Paritätische Wohlfahrtsverband. Der Miniaufschlag bei den Bezügen komme faktisch einer „Kürzung der Kaufkraft“ gleich, erklärte Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider per Pressemitteilung. Bei aktuell durchschnittlich 50 Euro Ausgaben für Strom in der Grundversorgung läge die Summe „30 Prozent über dem dafür vorgesehenen Anteil im Hartz-IV-Regelsatz“.
Immerhin hat die neue Bundesregierung ein Entgegenkommen bei den Beziehern von Wohngeld signalisiert. Für sie soll es schon bald einen einmaligen Heizkostenzuschuss geben. Das fragliche Gesetz sei in Arbeit und der Kabinettsbeschluss dazu soll Ende Januar gefasst werden, heißt es aus dem Bundesbauministerium. Erwogen wird überdies ein „Klimabonus“ für einkommensschwache Gruppen, wie ihn offenbar die SPD favorisiert. Die FDP plädiert gar für eine „Klimadividende“ von 300 Euro für jeden Haushalt. Diese soll eine Kompensation dafür sein, dass die zum Jahresanfang von 6,5 auf 3,72 Cent pro kWh gesenkte EEG-Umlage zum Ausbau der erneuerbaren Energien dem Endverbraucher keinerlei Kostenvorteile beschert hat. Der Paritätische hat die Ankündigungen begrüßt, fordert aber darüber hinaus Sofortmaßnahmen für Hartz-IV-Empfänger, die „erneut durchs Raster“ fallen würden. Diesen müsse mit 100 Euro mehr „schnell und unbürokratisch“ geholfen werden. Zum Handeln forderte am Mittwoch auch der Sozialverband Deutschland (SoVD) auf.
Pleitewelle bei Billigheimern
Den Kapriolen der Energiemärkte hilflos ausgeliefert sind dieser Tage auch zahllose Bürger, deren Strom- oder Gasanbieter wegen ihres wackligen Geschäftsmodells einfach mal das Weite gesucht haben. Knapp 40 Unternehmen, vornehmlich solche aus dem Niedrigpreissegment, haben laut Bundesnetzagentur allein im abgelaufenen Jahr 2021 entweder Insolvenz angemeldet oder ihre Energielieferungen auf unbestimmte Zeit eingestellt. Allein das Ausscheiden des Anbieters Stromio, dessen Lieferverträge für die Marken „Stromio“ und „Grünwald Energie“ am 21. Dezember ausliefen, betrifft laut Verbrauchschützern mehrere Hunderttausend Haushalte.
Energiediscounter decken ihren Bedarf kurzfristig zu günstigen Konditionen am sogenannten Spotmarkt, während die großen Versorger und Stadtwerke verstärkt auf langfristige Kontrakte setzen. Das macht ihr Geschäft im Zusammenspiel mit höheren Endverbraucherpreisen weniger krisenanfällig. Für die Billigheimer sind extreme Preisschwankungen dagegen Gift, weil ihre „Unschlagbar“-Tarife bei langanhaltenden Hochpreisphasen mit Verlusten ins Kontor schlagen, die direkt ans Eingemachte gehen. Am Ende müssen dies freilich die Verbraucher ausbaden, von denen sich die wenigsten bewusst sein dürften, dass sie auf dem Opferaltar der Ende der 1990er-Jahre ins Werk gesetzten Liberalisierung der Energiemärkte gelandet sind.
Neukunden unerwünscht
Wenigstens hat Stromio seinen Rückzug im Vorfeld angekündigt. In vielen anderen Fällen wurden die Kunden sogar ohne Vorwarnung vor die Tür gesetzt und so in hoffnungslos überteuerte Tarife der Konkurrenz getrieben. Eben noch bei „Strom-Wie-Nix“ und dann wie aus dem Nix bei den Stadtwerken Buxtehude. Wie das? Was eigentlich ein Rettungsanker sein sollte, dass bei Pleite des Anbieters automatisch der örtliche Grundversorger einspringt (Ersatzversorgung), erweist sich in diesen Tagen als böse Falle, mit denkbar schlechten Chancen zu entrinnen. Denn natürlich müssen die Grundversorger für die andernorts in Massen Gekündigten selbst kurzfristig teuer Energie zukaufen, um ihren Versorgungsauftrag zu erfüllen. Weil das aber die Bilanzen außerplanmäßig belastet, langen sie entsprechend heftig bei den Gestrandeten zu.
Inzwischen richten viele Unternehmen eigens einen zweiten Grundtarif für die von den Discountern Verjagten ein. Wie Check24 unlängst informierte, haben allein rund 260 Grundversorger neue Tarife nur für diese Klientel mit Preisaufschlägen von durchschnittlich 105,8 Prozent aufgelegt. Für die Betroffenen wäre das kurzfristig mithin zu verkraften, wenn sich zügig ein günstigere Alternative auftun ließe. Schön wär’s. Aktuell gibt es praktisch keine günstigen Angebote mehr und halbwegs erschwinglich sind die Preise allenfalls noch für Bestandskunden. Neukunden dagegen werden überall mit heftigen Zuschlägen belegt, da sie die derzeit ohnehin schon schwierigen Kalkulationen zu einem Lotteriespiel machen.
Deshalb hält man sie sich entweder mit Mondpreisen vom Hals (beziehungsweise zockt man sie damit ab) oder gewährt ihnen gar nicht erst Zutritt. Nach einem Bericht des „Handelsblatts“ aus der Vorwoche (hinter Bezahlschranke) nehmen mittlerweile mehrere Strom- und Gasversorger vorübergehend gar keine Neukunden mehr auf, darunter die E.ON-Tochter Eprimo, der Ökostromanbieter Green Planet Energy oder die Elektrizitätswerke Schönau (EWS). Zur Begründung werden auch hier die hohen Beschaffungskosten vorgebracht, die eine „Überarbeitung des Tarifangebots“ erforderlich machten, wie Eprimo noch am Mittwoch auf seiner Webseite bekanntgab. Green Planet Energy genderte: „Im Sinne unserer Bestandskund:innen haben wir uns deshalb dazu entschieden, vorübergehend keine Neukund:innen mehr unter Vertrag zu nehmen.“
Große Nachfrage, weniger Wind
Die Vorgänge haben inzwischen die neue Bundesverbraucherschutzministerin Steffi Lemke von der Grünen-Partei auf den Plan gerufen. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bezeichnete sie am Wochenende die Annullierung laufender Kontrakte als „teilweise in der Form völlig rechtswidrig“. Sie verwies auf Strompreise von „mehr als 70 oder gar 90 Cent“ pro kWh, die sich auch mit den hohen Beschaffungskosten nicht rechtfertigen ließen. Hier seien die Verbraucherzentralen und gegebenenfalls die Gerichte gefragt, „genau hinzuschauen“, bemerkte die Politikerin. Die Regierung beobachte die Entwicklung und prüfe, ob weiterer Handlungsbedarf bestehe. Schon zuvor hatte ein Ministeriumssprecher von einer Verpflichtung des kündigenden Anbieters gesprochen, im Falle von Mehrkosten „dem Kunden eine Schadenersatzleistung zu zahlen“. Die Verbraucherzentrale Berlin rät den Angeschmierten dazu, Widerspruch gegen die Vertragsauflösung einzulegen und den Differenzbetrag beim alten Versorger einzufordern. Bei dessen Bankrott dürfte das jedoch ziemlich aussichtslos sein.
Aber warum spielen die Energiemärkte so verrückt? Ursächlich sind dafür mehrere Faktoren: Nach dem brutalen Einbruch der Weltwirtschaft im ersten Pandemiejahr 2020 trat Anfang 2021 eine so bald nicht erhoffte Erholung ein. Mit anziehender Produktion legte auch die Nachfrage nach Strom wieder sprunghaft zu, was im Verbund mit einem gesunkenen Angebot infolge von Dürren etwa in Brasilien, wo viel Strom aus Wasserkraft gewonnen wird, die Preise in ungeahnte Höhen trieb. Obendrein sank 2021 auch noch das Energieaufkommen aus Windkraft und Photovoltaik, während zugleich eine höhere CO2-Bepreisung auf fossile Brennstoffe wie Heizöl, Erdgas, Benzin und Diesel Wirkung zeigte.
Im Wesentlichen ist der Preisgalopp somit auf politische Verfehlungen zurückzuführen: einerseits die ewig auf die lange Bank geschobene Energiewende (mehr Windräder könnten auch bei weniger Wind genug Strom erzeugen), andererseits eine Lockdown-Politik im globalen Maßstab, zu deren Kollateralschäden sich nun auch eine nie dagewesene Energiepreisexplosion gesellt. Fraglos spielen auch politische Kraftmeiereien wie die zwischen dem Westen und Russland – gerade vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts – eine Rolle. Die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas ist allseits bekannt. Als etwa am 21. Dezember der Börsenstrompreis innerhalb weniger Stunden auf 620 Euro pro MWh in die Höhe schoss und sich damit binnen 24 Stunden mehr als verdoppelt hatte, sahen Experten prompt einen Zusammenhang mit Russlands Dreherei am Gashahn.
Hedgefonds mit Rekordrenditen
Das mag in Teilen stimmen, übersieht aber, dass sich gerade hinter so turbulenter Kulisse unscheinbare Kräfte noch viel doller austoben können als sonst. Im Spätsommer 2021 hatte die US-Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet, eine „obskure Gruppe“ von Hedgefonds wette computergesteuert auf Gas- und Strompreise. Betroffen seien „exotische“ Märkte wie niederländisches und britisches Erdgas oder die spanischen und deutschen Strompreise. Allein der Investor GreshamQuant habe mit dieser Strategie von Januar bis August eine Rekordrendite von 38,5 Prozent eingefahren. Der Systematica Alternative Master Markets Fund legte um 23 Prozent zu, AHL Evolution Frontier um 32 Prozent. Bloomberg resümierte: „Ihre Wetten auf die europäischen Energiemärkte sind jetzt aufgegangen.“
Und was, wenn die Preisraserei so weitergeht? In Frankreich warnte dieser Tage Finanzminister Bruno Le Maire vor einem weiteren Kostenauftrieb von 35 bis 40 Prozent bis Ende Januar. „Schauen Sie, was in Kasachstan passiert, das ist ein guter Hinweis darauf, was passieren kann, wenn die Energiepreise explodieren, das ist politisch gefährlich.“ Eine drastische Erhöhung der Benzinpreise hatte 2018 die Gelbwesten-Bewegung mobilisiert, die das französische Establishment monatelang in Angst und Schrecken versetzte. Man stelle sich Ähnliches für Deutschland vor. Ansage an den SPD-Kanzler: Zeig Dein soziales Herz, Olaf!
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