Die Euro-Krise und die Debatte um einen Paradigmenwechsel in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
Eine Literaturübersicht von Volker Bahl.
Unterschiedliche Wissensformen – von Thomas S. Kuhn Paradigmen oder später passender “diziplinäre Matrix” genannt, bzw. von Michel Foucault “episteme” bezeichnet – begleiten und prägen Diskontinuitäten (“Brüche”) in der Geschichte.
So wurde etwa vor ca. 40 Jahren, also Anfang der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts das neoliberale Paradigma nicht nur in der Wirtschaft und zumal auf den Finanzmärkten(Schulmeister) sondern auch in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen von der Sozial- bis hin zur Bildungspolitik durchgesetzt.
Der Neoliberalismus als ökonomische Lehre unterscheidet sich vom Keynesianismus wie die klassische Physik von der Quantenphysik, wie Heiner Flassbeck konstatiert (bildhaft).
Schulmeister beschreit das so, dass der sog. Neoliberalismus als doktrinäre Ideologie der freien Märkte sich mit simplen Kausalitätsbeziehungen begnüge – nach dem Muster Arbeitslosigkeit könne nur mit den Löhnen zusammenhängen oder Staatsverschuldung könne nur als Problem des Staatshaushalts gesehen werden. Das Wirtschaftsgeschehen in seinen komplexen Zusammenhängen könne damit aber keine Erklärung finden – und so müsse dieses “simple” Denken auch krisenbehaftet bleiben.
Ein erforderlicher Paradigmenwechsel, um aus der Sackgasse herauszukommen, bleibe aber dennoch aus, wie Frank Nullmeier zunächst in seiner Beschreibung eines anstehenden Paradigmenwechsels resignierend einräumt: „In den Sozial- und Kommunikationswissenschaften verfügen wir noch nicht über eine dauerhaft systematische Beobachtung der öffentlichen Debatten, die neben Themenschwerpunkten auch noch die Vorherrschaft bestimmter Denkfiguren analysieren könnte. (Siehe Frank Nullmeier, “Kritik neoliberaler Menschen – und Gesellschaftsbilder und Konsequenzen für ein neues Verständnis von “sozialer Gerechtigkeit [PDF – 279 KB]“)
Als Quintessenz des bisherigen Verlaufes der “Diskurse” (er teilt sie in 5 Phasen ein) hält Nullmeier fest: Die seit einigen Jahren schwindende Dominanz dieses (neoliberalen) Denkansatzes und ihm zuzurechnender politischer Konzepte hat aber keineswegs Platz gemacht für Modelle…eines in der Tradition des Ökonomen John Maynard Keynes stehenden Denkens. Vielmehr hat der Neoliberalismus durch seine Folgeprobleme zur Entwicklung politischer und theoretischer Entwürfe geführt, die er als Post-Neoliberalismus oder kurz: Post-Liberalismus bezeichnet. Diese neueren Konzepte setzten an den Kernelementen neoliberalen Denkens an und suchten dessen Probleme in der neuerlichen Verteidigung und Rechtfertigung des Marktes als zentrales Steuerungsinstrument und dessen negativen Verteilungseffekte insbesondere durch unterschiedliche Begründungen und Legitimierungen von sozialen Ungleichheiten auszugleichen (siehe die medial stark aufgenommene und breitgetretene Sloterdijk- und Sarrazin-Debatten).
Nullmeier beschreibt in seinen Phasen damit auch das von Thomas S. Kuhn angesprochene Element des Widerstandes eines alten Paradigmas und des sozialen Kampfes um ein eventuell neues Paradigma…
Mit Nullmeier könnten aber die Sozialwissenschaften vielleicht endlich wieder einen angemessenen, wenn nicht sogar bedeutenden Teil in diesen Auseinandersetzungen um einen Paradigmenwechsel zurückgewinnen – sie könnten sozusagen auf die “Höhe” der Zeit kommen.
Bis jetzt befänden wir uns jedoch allenfalls auf dem Weg zu einem neuen Paradigma bzw. präziser einer neuen “disziplinären Matrix”….
Auch in der ökonomischen Diskussion (“Diskurs”) geht die Auseinandersetzung um ein alternatives Paradigma weiter – er spiegelt sich in den Debatten um die ökonomischen Ungleichgewichte in Europa.
Zu den “Ungleichgewichten im Euro-Raum” / IMK und FES
– Finanzmärkte bleiben erst einmal “unangetastet” –
Gustav Horn u.a. ( IMK ) “Der Euro-Raum in Trümmern” – Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik 2011 / IMK-Report Nr.59 vom Januar 2010 [PDF – 492 KB]”
“Die enge nationale Perspektive muss von der Wirtschaftspolitik aufgegeben werden und einer europäischen Perspektive Platz machen.”
Sebastian Dullien , “Ungleichgewichte im Euroraum”
– Akuter Handlungsbedarf auch für Deutschland –
(Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung – 52 Seiten)
Quelle: FES [PDF – 515 KB]
Man beachte darüber hinaus auch den Aufsatz von Sebastian Dullien (zusammen mit Daniela Schwarzer): “Die Zukunft der Euro-Zone nach der Griechenlandhilfe und dem Euro-Schutzschirm”, in : “Leviathan” Heft 4 / 2010, S. 509 bis 532 )
Fazit: bisher hat die Politik nicht das Notwendige getan, um den Euro und damit Europa zu “retten”. (Allgemein zu den Arbeiten von Sebastian Dullien)
Dem speziellen Problem für diese “Ungleichgewichte” – den deutschen Exportüberschüssen – gehen Heike Joebges, Camille Logeay, Sabine Stephan und Rudolf Zwiener nach: “Deutschlands Exportüberschüsse gehen zu Lasten der Beschäftigten [PDF – 306 KB]” .
Die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft im Euroraum ließen sich zu einem wesentlichen Teil auf die jahrelange Lohnzurückhaltung zurückführen. So wurde nicht nur den Handelspartner vor allem in der Eurozone geschadet, da wesentlich Wachstumsimpulse dort unterblieben, sondern es wurde auch den Beschäftigten selbst in Deutschland geschadet, da sie nicht in angemessener Weise an der eigenen Wertschöpfung beteiligt wurden.
P.S.: Ein kleines “ceterum censeo”: Es muss betont werden, dass die politische Umsetzung dieser Analysen nebst den Konsequenzen daraus allein schon ein enormer Fortschritt wäre in dieser so doktrinär verseuchten neoliberalen Ära – die Herrschaft der Finanzmärkte über die Politik wäre dann zwar abgemildert und eingeschränkt, jedoch nicht wie unter Roosevelt 1933 mit dem „Glass-Steagall-Act” grundsätzlich gebrochen. (“Glass-Steagall-Act” = Aufteilung der Banken in Geschäftsbanken und Investmentbanken, sodass die “Zocker” mit ihrem hohen Risiko nicht den Geschäftsbankenteil sozusagen als “Geisel” nehmen können , um dann als “systemrelevant” mit den Milliarden der Steuerzahler immer wieder bei ihrer Zockerei gerettet zu werden … )
Dazu eine kleine Anmerkung von mir:
dazu weiter auch noch Wieslaw Jurczenko , “Euroland in Bankenhand” / Blätter für deutsche und Internationale Politik Heft 1 / 2011
Und wo bleibt der Bürger in diesem Prozess?
Es wird dabei nicht unwesentlich sein, dass die Bürger gegenüber dem Total-Versagen der Parlamente gegenüber dem Finanzkapital einen stärkeren Einfluss erhalten.
Es wird allerdings die Frage sein, ob das “abstrakt” mit dem Ruf nach größerer Beteiligung angegangen wird [PDF – 281 KB] oder dem Bürger einfach – wie in anderen (vor allem nord-)europäischen Ländern – stärkere soziale Rechte gewährt werden?