Woher kommt die deutsche Gefühlskälte? Im regelmäßigen, angeregten Dialog mit meinem Sohn kam vor einiger Zeit diese Frage auf: Wie ist die von uns beobachtete und teils selbst erlebte inflationäre Kälte im Umgang der Menschen untereinander zu erklären? Wir stellten fest, dass wir in einem ziemlich kalten Land mit wärmenden Nischen leben und dass es tiefere Ursachen für diesen emotionalen Zustand der Zivilgesellschaft gibt. Dieser Zustand ist nicht von jetzt auf gleich wegen einer Pandemie vom Himmel gefallen. Diese Kälte anzusprechen, ist wichtig, um die Gesellschaft zu verändern, so mein Sohn. Ich pflichtete ihm bei, denn die Frage steht auf der Tagesordnung: Wie wollen wir weiterleben, in welchem Deutschland? Im Land der 1. Plätze in entlarvenden Maßnahmenstatistiken nicht. Von Frank Blenz
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Wiedermal sind wir Deutschen Weltmeister. Diesmal stehen wir, das Volk der Dichter und Denker, das Volk, an dessen Wesen die Welt einst genesen sollte, vorn. Diesmal in der von “Statista” erstellten “Liste der Länder nach den striktesten Eindämmungsmaßnahmen gegen das Coronavirus/ COVID-19”. Von 100 Punkten kam unsere Bundesrepublik auf an die 85 Punkte. Der Zweite des “Wettbewerbs” ist Griechenland mit 80 Punkten. Selbst das ebenfalls hart agierende Österreich (73) und das Land der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Grand Nation Frankreich (69), schaffen es nicht, die gründlichen, unbarmherzigen Deutschen von der Spitze zu drängen. Zugegeben, was Frankreichs Präsident gerade losgelassen hat gegen viele Menschen in Frankreich mit seinen Worten in einem Presseinterview, wird Punkte bringen.
So berichtet die Tagesschau:
“Er stecke sie nicht ins Gefängnis und werde sie nicht zwangsimpfen, sagt Emmanuel Macron. Aber: “J’ai très envie de les emmerder”, so der französische Präsident. Er habe große Lust, die Ungeimpften zu nerven. Das werde man bis zum Ende auch tun. Das sei die Strategie.”
Doch aktuell ist Deutschland vorn. Und zwar wegen folgender Werte-Zusammenstellung:
Nach Berechnungen der Oxford University hatte Deutschland bis zum 10. Dezember 2021 (oder den aktuellsten verfügbaren Werten) weltweit die striktesten Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus erlassen. Mit 84,26 von 100 Indexpunkten rangiert die Bundesrepublik auf dem ersten Platz. Der Oxford Covid-19 Government Response Tracker (OxCGRT) sammelt systematische Informationen über politische Maßnahmen, die Regierungen zur Bekämpfung von COVID-19 ergriffen haben. Die verschiedenen politischen Maßnahmen werden seit dem 1. Januar 2020 verfolgt, decken mehr als 180 Länder ab und werden in 23 Indikatoren kodiert, wie z. B. Schulschließungen, Reisebeschränkungen, Impfpolitik.
Quelle de.statista.com
Was in der Statistik gar nicht erfasst ist, sind die zwischenmenschlichen, innergesellschaftlichen Ereignisse, kleinen bis großen Katastrophen. So ist in diesen Wochen und Monaten medial überall zu beobachten, dass unbarmherzig beinahe jede noch so unappetitliche, freche, dreiste, ungeheuerliche Gemeinheit verbaler Attacken erlaubt scheint. Woher kommt das, dass wie ein Versuchsballon aufsteigend Boshaftes ausgesprochen wird, um auszuprobieren, wie weit man noch gehen kann, Menschen zu demütigen, zu entwürdigen, auszugrenzen? Woher kommt das, dass Menschen dulden, hinnehmen, mitmachen, andere Menschen in die Pfanne zu hauen?
Woher kommt das, dass vieles, was ausgesprochen und beschlossen wurde, erdacht in Büros findiger, ehrgeiziger Referenten, PR-Strategen, Gefolgsleuten der Macht, an Einschränkungen, Kränkungen, Bestrafungen, Drohungen und Anmaßungen, dass dies tatsächlich durchgezogen wurde und immer noch wird? Ist ein Ende in Sicht? Eine leise Antwort sollte zum Erfolg geraten: Ja, wenn es den politischen, menschlich erwärmenden Willen dazu gibt. Und ja, es gibt viele Leute im Land, die den Willen äußern und die widersprechen.
Corona spaltet das Land, wird gesagt. Zumindest der Bundeskanzler hat eine andere Wahrnehmung, siehe seine Neujahrsansprache …
Doch tatsächlich ist es so, lieber Herr Scholz, die Spalter spalten weiter, was das Zeug hält, indem sie ausgrenzen und es mit dem Motto zu halten scheinen: “Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns”. Und das in einer Demokratie? Die Spalter auf hohem Ross behaupten zur Krönung allen Ernstes, dass die Menschen, welche von ihnen, den Spaltern, aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, in Wahrheit die eigentlichen Spalter seien. Wie kann man sich abspalten wollen, wenn man doch per se zur Gesamtgesellschaft dazugehört und dazu jedes Recht hat? Wir alle sind schlicht keine Robinsons, die sich eine einsame Insel wünschen. Wir alle brauchen einander, rufen wir, Vater und Sohn, den Spaltern zu.
Meinem Sohn sagte ich:
Es liegt an uns Deutschen selbst, an unserer Mentalität und wie wir unser Land strukturiert haben. Unser Deutschland ist in vielen Dingen weltmeisterlich, in Sachen Empathie und Gerechtigkeit aber eher nicht, weil Gerechtigkeit ja Teilen und Teilhabe ermöglichen bedeuteten. Diese gehören gerade nicht zu unseren Kernkompetenzen. Wir haben uns stattdessen lange schon für das Modell einer unerbittlichen Leistungsgesellschaft entschieden, für eine Gesellschaft der Sieger und Verlierer, einer Klassengesellschaft, einer Gesellschaft, die das Privateigentum, den materiellen, finanziellen, privaten Reichtum vor alles andere stellt. Auch vor die Gesundheit. Obwohl betreffs Gesundheit gerade das Gegenteil behauptet wird. Und ja, auch das ist ein Charakterzug von uns: die Heuchelei.
Was ist das für eine Zeit, in der wir gerade leben? Sind wir da so einfach wegen eines Virus hineingerauscht? Waren wir vorher viel besser, besser dran? Hatten wir “damals”, also vor Corona, tatsächlich d i e Freiheit, die wir uns so sehr zurückwünschen? Sollte alles wieder genau so sein wie vorher, nach Möglichkeit alles? Oder gibt es intensiven Handlungsbedarf nach Veränderungen, Verbesserungen, wahren Reformen? Derlei fragte ich mich, der Vater, schon im Frühjahr 2020. Der erste Lockdown sperrte uns Bürger das erste Mal ein. Doch in mutmachender Weise diskutierte eine Runde von Fachleuten im Deutschlandfunk die Frage „Wie wollen wir nach Corona leben?“. Das Mutmachende war, dass der Tenor der Wortmeldungen darin bestand, den Ist-Zustand der deutschen Gesellschaft zu kritisieren. Ihr Zustand wurde nicht wegen der Pandemie, sondern wegen des bestehenden Gesamtkonstruktes als krank bezeichnet.
Ich war bestärkt und in den eigenen Vorstellungen bestätigt ob so großer Experten-Empathie und Klarheit. Ich fühlte mich bestärkt, die Pandemie als Anlass und als eine Art Chance zu einem Wandel anzunehmen. Ich machte indes die Rechnung ohne den Wirt. Dieser steht als Bild für die stärkeren, einflussreichen Teile der Klassengesellschaft, die das eisern turbokapitalistisch ausgerichtete Deutschland hegt und pflegt und dies alles nicht aufzugeben bereit ist. Diese Eliten rüsteten stattdessen auf und genießen nach fast zwei Jahren den gigantischen Erfolg inmitten einer Katastrophe. Teilhabe ist nicht vorgesehen, das heuchlerische Beifallklatschen kostet nichts. Das gierige Streben nach immer mehr und die dafür notwendige drückende Forderung nach Leistungsoptimierung hat Tradition und ist so anerzogen und gewollt, es ist die Grundlage für den Zustand des Oben und Unten.
Wir, Vater und Sohn, haben auch ohne Mühe entdeckt, dass in unserer Muttersprache, in unserer Art, miteinander umzugehen, in den geschichtlichen Ereignissen bis hinein in die Märchenwelt, unsere Mentalität, unser Tun bis ins Jetzt und Hier schmerzlich offenbar wird. So heißt es zwar, Leben und Leben lassen – derlei Maxime ist leider jedoch keine tief verankerte Lebensweise der Deutschen. Stattdessen wird bis heute übernommen, was wenig sozial ist und gar zynisch klingt. Jeder ist seines Glückes Schmied oder Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Versprechungen gibt es viele, von Jeder kann es von unten nach oben schaffen bis Leistung lohnt sich. Doch wie kann es sein, dass es in einem der reichsten Länder der Welt überhaupt ein “Unten” gibt? Im Grundgesetz steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, also folglich ein Unten unmöglich und ungesetzlich und unmoralisch ist. Wir haben doch westliche Werte. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie. Wir sind ein Rechtsstaat. Deutschland, das Land der Pünktlichkeit, der Sauberkeit, der Ordnung…
Mein Sohn und ich spüren während unseres Dialogs, was abgeht im Land. Im Hamsterradland, im Land der Alternativlosigkeiten. Im Land, in dem einflussreiche Politiker nicht nachlassen, heuchlerisch lobend von hart arbeitenden Menschen zu reden, so als wäre das Leben nur dann eines in Würde und mit Anerkennung versehen, wenn es mit Härte versehen ist. Warum muss man hart arbeiten, um gut leben zu können, was ist gutes Leben? Mein Haus, mein Auto, meine Jacht? Und warum wird unzählbar oft dieses Versprechen nicht eingehalten und verdienter Lohn vorenthalten?
Es hat etwas mit uns zu tun. Wie wir Deutschen von der Wiege bis zur Bahre agieren.
Gerald Hüther, deutscher Neurobiologe, hat in einem seiner Vorträge vor Publikum von einem aufschlussreichen Experiment mit Kleinkindern erzählt. Einjährige sahen eine Szene, in der kleine Personen einen Berg bezwingen wollten. Die letzte kleine Person schaffte es fast nicht, mitzuhalten, sie wurde aber von einer weiteren, sehr empathischen, hilfsbereiten Person gen Gipfel geschoben. Die zuschauenden Kinder freuten sich, sie entschieden sich für diese Person, ihnen war diese helfende Person sehr sympathisch und ihnen selbst wohl sehr nahe.
Ein Jahr später wurde das Experiment wiederholt. Am Gipfel wartete nun eine weitere Person, die die ersten Ankömmlinge daran hinderte, die Spitze zu erreichen. Aber auch die hilfsbereite Person half wieder am Ende der Reihe. Wie entscheiden die Probanten diesmal? Einige blieben an der Seite der Hilfsbereiten, andere wählten nun die Person auf dem Gipfel. Es wurde eine Änderung deutlich am Verhalten. Die Empathie wurde zurückgedrängt vom Egoismus. Hüther schloss daraus, dass das empathische Grundverhalten eines sehr kleinen Kindes sich binnen eines Jahres ändert. Und das durch das Aufwachsen in einer Leistungsgesellschaft, die auch und gerade Egoismus, Vorteilnahme und Rücksichtslosigkeit fordert und belohnt, dass Ureigenschaften von Kleinstkindern zurechterzogen, zurechtgebogen werden.
Wir sind eine Ellenbogengesellschaft (und machen noch zu oft mit) und hören wie zur Beruhigung immer wieder die Behauptung, dass wir “die Guten” seien. So auch innen- und außenpolitisch. Und überhaupt. Im Alltag ist das Gegenteil zu erleben: Der Mindestlohn ist umkämpft ebenso wie faire Mieten, Verbraucherpreise, Gleichberechtigung und Minderheitenrechte. Armut wird nicht bekämpft, sie ist gewollt. Reichtum wird als erstrebenswert angesehen. Eigentum steht über allem. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Allein vom Gendern wird die Gesellschaft nicht besser, allein zu versprechen, Bürgerentscheide wie in Berlin prüfen zu wollen, macht uns nicht zu den Guten. Und nochmal zu Neukanzler Scholz, der in seiner Neujahrsansprache seine Parallelwelten offenbart (wo er es doch ganz genau anders weiß) und so die offenbare Spaltung, die Kälte und Boshaftigkeit im Land leugnet. Auch der neue Finanzminister Lindner, der beste Politik für wenige macht, gehört zum Personal der Eliten, die dafür sorgen, dass wir jetzt auch noch Maßnahmenweltmeister sind.
Und damit begreift man das mit der Kälte des Landes noch ein bisschen mehr. Wie wir Vater und Sohn. Die moralischen Schwächen offenbaren sich, wenn wir uns moralisch erhöhen, Freunde wie die USA in den Himmel heben und über deren Missetaten schweigen. Guantanamo, Assange, NATO, Sanktionen. – hier
Mit dem Willen für Veränderungen für uns alle ist es aber doch gar nicht so schwer, gerade dann, sobald viel Macht sich dafür erwärmte. Man staunte, was alles an Geld und Maßnahmen und Einschränkungen machbar war in fast zwei Jahren Pandemie, wenn man es nur befiehlt. Ja, befiehlt. Es ginge also auch andersherum, nicht wahr? „Mehr Liebe wagen“ könnte eine Lösung sein, frei nach Willy Brandts „Mehr Demoraktie wagen“. Wir leben indes immer noch im Würgegriff der Obrigkeit, die in ihren Bußgeldkatalogen blättert, wie es ihr gefällt. Wie wäre es mit dem Einstampfen dieser Bußgeldlisten? In Spanien wurde vom Verfassungsgericht verfügt, dass Bußgelder an die Bürger zurückzuzahlen sind.
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