Dass die Konfrontation mit Russland dort keinen positiven Wandel auslösen und stattdessen zu einer Verhärtung im Inneren führen würde, war vorhersehbar und ist in den NDS ausdrücklich formuliert und dokumentiert worden. Siehe u.a. hier am 2. Oktober 2018: Tödlicher Wandel durch Konfrontation – Was uns vermutlich ins Haus steht. Es gibt im Westen offensichtlich dominante Kräfte, die ganz bewusst die Strategie verfolgen, mit härterer Konfrontation die innere Verhärtung in Russland zu forcieren, und die dabei auch die weitere Verschärfung der Konfrontation bis hin zur militärischen Auseinandersetzung in Kauf nehmen. Diese wiederum böte ihnen die Möglichkeit, die Konfrontation mit noch härteren Sanktionen fortzuführen – mit dem Ziel, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch auszulösen. Albrecht Müller.
Zum Jahreswechsel habe ich, wie wir das auch unseren Leserinnen und Lesern empfohlen hatten, auf den NachDenkSeiten ein bisschen zurückgescrollt. Dabei bin ich auf den erwähnten Beitrag von 2018 gestoßen. Wir geben ihn wegen seiner Aktualität hier gleich noch einmal vollständig wieder.
Als Beleg für die Aktualität möchte ich zuvor auf ein SWR-Interview vom Juni des vergangenen Jahres hinweisen. In diesem Interview plädiert eine Wissenschaftlerin, die Sinologin und Politikwissenschaftlerin Kristin Shi-Kupfer, für „Konfrontation statt Wandel durch Handel“. Es geht dabei um China. Aber ihre Äußerungen sind direkt übertragbar auch auf Russland – auf die Beziehungen zu und den Umgang mit beiden Ländern. Hier der Einleitungstext des SWR und das Audio:
Konfrontation statt „Wandel durch Handel“? Die G7-Staaten überdenken ihre China-Politik
STAND 11.6.2021, 9:02 UHR
Quelle: Screenshot SWR – Konfrontation statt „Wandel durch Handel“? Die G7-Staaten überdenken ihre China-Politik7 Min
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Geschlossenheit, das ist das Signal, dass vom G7-Gipfel in Richtung China gesendet werden soll. Mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden besteht wieder die Chance auf eine gemeinsame China-Strategie des Westens, sagt die Sinologin und Politikwissenschaftlerin Kristin Shi-Kupfer.
Sie plädiert für eine härtere Linie gegenüber der chinesischen Führung, die unter Präsident Xi noch stärker auf Autonomie setzt. Deshalb müssten die westlichen liberalen Demokratien deutlich machen, dass sie nicht um jeden Preis mit China zu kooperieren bereit sind. Das gelte auch für Deutschland. Die Wirtschaft hierzulande sei längst nicht so abhängig vom chinesischen Markt wie oft berichtet.
Soweit das Audio und der Text des SWR.
Es ist nicht zu fassen, welch Geistes Kinder heute bei uns unterwegs sind. Ist das der dominante Geist der Zeit? Grauenhaft! Das Interview zeigt jedenfalls, wie aktuell die Beobachtungen zu den Folgen der neuen Konfrontation sind.
Hier wie angekündigt der gesamte Text meines Beitrags vom 2. Oktober 2018:
Tödlicher Wandel durch Konfrontation – Was uns vermutlich ins Haus steht
Von Albrecht Müller
Wenn man nach großen strategischen Leistungen von Politikern sucht, wird man selten fündig. Man wird Untaten finden – die Kriege der USA, die Erschaffung des Terrorismus als neue Bedrohung, die Politik der Sanktionen, die Privatisierung der Altersvorsorge, die schwarze Null –, positiv zu bewertende, große strategische Leistungen sind und waren das nicht. Bei der Suche nach klugen und langfristig angelegten Überlegungen und Entscheidungen bin ich ganz schnell beim Konzept der Ostpolitik angelangt. Was Willy Brandt und seine Mitarbeiter sich schon in den Fünfzigerjahren mitten im Kalten Krieg ausgedacht und dann in den Sechzigerjahren formuliert und umzusetzen begonnen haben, das war wohldurchdacht. Eine strategische Leistung der besonderen Art. Das gilt insbesondere für den Grundgedanken, der in die Formel »Wandel durch Annäherung« verpackt war.
»Annäherung« zu wollen und zu realisieren, hatte praktische Konsequenzen für die praktizierte Politik und für die Äußerungen der handelnden Personen. Etwas bürokratisch anmutend wurde von »vertrauensbildenden Maßnahmen« gesprochen. Die treibenden Kräfte der Ostpolitik sprachen fast schon penetrant von solchen vertrauensbildenden Maßnahmen. Wir, die damals daran beteiligten Mitarbeiter, sahen mit Bedacht darauf, diesen Gedanken zu beherzigen. Wir lernten und kamen mit anderen überein, es sei wichtig, sich in die Lage des Anderen zu versetzen. Damals lernten viele Deutsche, nicht nur die eigenen Opfer des Zweiten Weltkrieges zu beklagen, sondern auch die 27 Millionen Toten in der Sowjetunion wahr und ernst zu nehmen. Das half dabei, aus Gegnern im Kalten Krieg Partner der Entspannungspolitik werden zu lassen.
Hinzu kam dann der glücklicherweise gelungene Versuch, unter den Deutschen eine Mehrheit für diese Strategie zu finden. Das gelang einerseits dadurch, dass die Vorteile dieser Strategie zur Sprache gebracht wurden – Frieden, Familienzusammenführung, Warenaustausch, Arbeitsplätze, Reisen, Sich Besuchen. Hinzu kam die emotionale Seite. Willy Brandt sprach von Versöhnung, nicht nur von Vertragspolitik. Und er handelte danach, bedacht oder gefühlsmäßig. Der Kniefall in Warschau hatte eine solche weitreichende emotionale Bedeutung, diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs.
Die Ostpolitik war insgesamt so etwas wie ein Gesamtkunstwerk. Dieses zu zerstören, wird heute mit aller Kraft und leider auch mit Erfolg versucht. Die SPD, die Partei des Willy Brandt, des Egon Bahr, des Helmut Schmidt und des Horst Grabert, kennt die Ostpolitik als großes Thema nicht mehr. Nicht selbst erlebt und einfach vergessen oder verdrängt. Typisch dafür ist, dass in der Fehler-Analyse der SPD, die Anfang Juni 2018 erschienen ist, die Autoren das Thema Ostpolitik und das Verhältnis Deutschlands zu Russland nicht als wesentlich zur Sprache bringen – auch nicht der jeden Tag neu zu beobachtende Aufbau des Feindbildes Russland. Krieg und Frieden sind kein Thema mehr, und der strategische Gedanke »Wandel durch Annäherung« ist so umfassend entsorgt, dass die heute handelnden Politiker gar nicht in Betracht ziehen, dass die Idee ja auch im negativen Sinne realisiert werden könnte: negativer, tödlicher Wandel durch Konfrontation. Dass der Wandel zum Schlechteren genauso logisch wäre und genauso passieren könnte wie der positive Wandel durch Annäherung, ist offensichtlich nicht ins Bewusstsein gedrungen. Wenn wir das berühmte Geschichtsbewusstsein hätten, wenn unsere publizistischen und politischen Wegbegleiter ein bisschen Ahnung von der nicht zu weit zurückliegenden Vergangenheit hätten, dann dürften sie – und damit wir alle – nicht so blauäugig in eine Konfrontation nach der anderen stolpern.
Auch die deutsche Seite ist in den letzten 25 Jahren eher durch Konfrontation als durch Verständigung und Versöhnung hervorgetreten. Markant ist die Beteiligung am Kosovokrieg. Man musste wissen, dass dies von russischer Seite als unfreundlicher Akt gewertet werden würde. Bereits zuvor begann mit deutscher Zustimmung die Ausdehnung der NATO bis an die Grenze Russlands.
Der Westen, die Bundesrepublik Deutschland und die führenden Parteien haben auf die ausgestreckte Hand der Verantwortlichen in Russland hinhaltend bis ablehnend reagiert. Sie haben den Geist, der noch das Ende der Blockkonfrontation im Jahre 1990 prägte, vergessen. Ein nicht verborgen gebliebener Misstrauensakt war die kühle Reaktion auf die Rede des russischen Präsidenten im Deutschen Bundestag am 25. September 2001. Mehr als viele Worte sagte ein Blick auf die Regierungsbank. Putin hatte gerade vorgeschlagen, die Potenziale Russlands mit denen der anderen Teile Europas zu vereinigen. Diese Botschaft löste entsetzte, nachdenkliche bis uninteressierte Gesichter auf der Regierungsbank aus. Der damalige Außenminister Joschka Fischer und Innenminister Otto Schily sahen aus, als sei ihnen nicht ein zukunftsfähiges Angebot, sondern eine schlechte und obendrein langweilige Nachricht übermittelt worden. Sie schauten abweisend und betroffen drein. Sie kannten vermutlich die Hintergründe der neuen Konfrontation. (Die volle Aufzeichnung der Rede findet sich hier)
Die verschiedenen Misstrauensbekundungen zwischen 1990 und 2007 führten dann dazu, dass der russische Präsident bei einer anderen Gelegenheit, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, eine eher abweisende Rede hielt. Das war die Rede eines enttäuschten Liebhabers, der seine Konsequenzen aus der Zurückweisung zieht. Spätestens hier hätte die deutsche Seite aufmerken müssen, wenn sie die Interessen Deutschlands wahrnehmen würde, statt den Vorgaben aus den USA hinterherzulaufen.
Dann kam es laufend zu weiteren Provokationen: Der deutsche Außenminister Steinmeier beteiligte sich im Februar 2014 an der Verabredung mit dem Präsidenten der Ukraine, Wiktor Janukowitsch, und hat sich dann, unter dem Eindruck der Scharfschützen-Schüsse auf dem Maidan, nicht für die Umsetzung der Vereinbarung engagiert. Jeder aufmerksame Beobachter musste davon ausgehen, dass der deutsche Außenminister zusammen mit dem französischen und dem polnischen Kollegen, die bei den Gesprächen mit dabei waren, unter einer Decke steckte und damit den Putsch gegen den Präsidenten, der die Zusammenarbeit mit Russland aufrechterhalten wollte, unterstützte.
Deutschland hat es zugelassen, dass auf seinem Territorium Truppenverschiebungen größeren Ausmaßes in die Nähe der russischen Grenze vorgenommen werden. Selbst die Bundeswehr hat sich daran beteiligt. Die Deutschen, an vorderster Front Bundesverteidigungsministerin von der Leyen, haben der US-Forderung nach Erhöhung der Rüstungsausgaben zugestimmt, und sie werben in der gleichen Weise für das Militär als Garant der Sicherheit. Verabredet war Abrüstung, jetzt wird aufgerüstet, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dahinter die Strategie steckt, die Russen totzurüsten. So wird es jedenfalls auf russischer Seite empfunden werden.
Die deutsche Regierung hat die von den USA auferlegten Sanktionen mitgemacht. Ohne Rücksicht auf frühere Abreden, den Handel und gegenseitige Investitionen auszubauen, sogar ohne Rücksicht auf die eigenen wirtschaftlichen Interessen.
Auch beim verabredeten Bau des »Nord Stream 2«-Projektes wackelt die deutsche Seite bedrohlich.
Russische Journalisten und russische Medien werden in Deutschland stiefmütterlich bis feindselig behandelt. Ich habe den Umgang mit russischen Journalisten in der Zeit des Kalten Krieges und der begonnenen Entspannungspolitik in Bonn erlebt. Einer der wichtigen Vertreter russischer Medien war Mitglied unserer Volleyballmannschaft. Ich war zu jener Zeit Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt und war nicht angehalten, Berührungsängste zu haben, im Gegenteil: Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, einem russischen Sender ein Studio zu verweigern, wie das jetzt mit RT Deutsch praktiziert wurde.
Die Fußballweltmeisterschaft ist ein eigenes neues Kapitel, genauso wie vorherige Olympiaden. Da wurde unterstellt, dass Russland diese Weltmeisterschaft nur mache, um sein Image aufzupolieren. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, den Russen gehe es schlecht und sie seien nicht besonders gastfreundlich. Andere Erfahrungen wurden dann mit Erstaunen und Misstrauen begleitet. Unter deutschen Medienschaffenden gibt es einen Russenhass, der einem am Charakter der betreffenden Journalisten zweifeln lässt.
Russland wird vom Westen immer wieder unterstellt, sie hätten in Syrien mit dem Krieg angefangen und den Giftanschlag von Salisbury veranlasst. Überall werden sie als Misse- und Übeltäter dargestellt. Feindbildaufbau und Konfrontation statt Annäherung scheint heute offensichtlich das Gebot der Stunde zu sein.
Anzunehmen, dass diese ständigen Misstrauensbekundungen und Unterstellungen und Feindseligkeiten ohne Reaktion bleiben, ist naiv. Wenn die Feindseligkeiten weitergehen, dann wird ein Wandel zum Schlechteren stattfinden.
Man spürt es schon. Bei einem Interview mit einer jungen russischen Journalistin zum Thema Außenpolitik war deutlich zu spüren, dass eine Trotzreaktion ins Haus steht. Verletzter Stolz ist der emotionale Treibstoff beim Aufbau neuer Konfrontation. So wird der Westen mit seinem Verhalten dazu beitragen, dass es in Russland einen Wandel zum Schlechteren gibt: weniger Gastfreundschaft, weniger freundliche und freundschaftliche Gefühle gegenüber den Deutschen, Offenheit für nationalistische und militaristische Gruppen. Es ist der helle Wahnsinn. Das ist das Gegenteil einer produktiven schöpferischen Strategie, es ist eine Strategie, die zum tödlichen Wandel führen kann.
Dieser Wandel wird vermutlich bei verschiedenen Gruppen und Schichten der russischen Gesellschaft eintreten, nicht nur bei den nationalistisch gesonnenen Zeitgenossen und deren Organisationen, auch bei intelligenten, aufgeschlossenen Menschen.
Fangen wir mit den Nationalisten an. Wie der Westen insgesamt und insbesondere auch Deutschland mit Russland umgehen, das ist Wasser auf die Mühlen der Nationalisten in Russland. Wenn man vom Clash der Zivilisationen reden oder fantasieren will, hier wird der Weg dazu vorbereitet. Sie fanden die Freundlichkeit und Zugeständnisse Michail Gorbatschows gegenüber dem Westen schon unerträglich. Dann erlebten sie, wie Jelzin – nüchtern oder im Suff – ihr Land und ihre Ressourcen zu verscherbeln drohte, angetrieben durch andere im Hintergrund und beraten durch US-amerikanische Wirtschaftsfachleute. Und dann erlebten sie, dass auch Putin auf den Westen zuging, zum Beispiel mit seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag. Jetzt können sie mit Befriedigung feststellen, dass Putins Freundlichkeit und Zugeständnisse nicht honoriert worden sind. Das können sie nutzen, und das werden sie nutzen, und das führt dazu, dass diese Gruppierungen gestärkt werden. Und das macht gegenwärtig und künftig eine Verständigung schon ein ganzes Stück schwieriger. Der oft beschworene Clash steht de facto ins Haus.
Auch in Kreisen von Menschen, die eigentlich aufgeschlossen sind für die westliche Kultur und die deshalb auch große Sympathien für die freundlichen Zugeständnisse und das Werben von Putin hatten, wird die Konfrontation eine trotzige Reaktion auslösen. Ich versetze mich in die Lage dieser Menschen, die mir mental und kulturell nahestehen und deren Gefühlswelt ich deshalb gut einschätzen kann. Ich hätte mich mit ihnen über Jelzins Ausverkauf empört und wäre deshalb froh gewesen, dass Putin die russischen Interessen wieder zusammenhielt und auf den Westen zuging. Aber dann musste diese Gruppe beobachten, dass der Westen von Demokratie und Meinungsfreiheit redet, stattdessen aber eine Propagandamaschinerie aufbaut und laufen lässt, die rassistischen und faschistischen Charakter hat und an die Gleichschaltung der Medien durch die Nazis erinnert.
Wenn ich ein Mitglied dieser aufgeschlossenen liberalen Gruppierung in Russland wäre, dann hätte ich mich darüber gefreut, dass nach dem wirtschaftlichen Niedergang, versehen mit allen Konsequenzen wie hoher Selbstmordrate und niedriger Lebenserwartung, mit Putin eine deutliche Wende eingetreten ist. Ich hätte mich darüber gefreut, dass es in Russland wirtschaftlich einigermaßen aufwärtsgeht. Aber dann erlebe ich, wie der Westen mit seinen Sanktionen diesen ökonomischen Fortschritt zu stören und zu zerstören versucht, und ich würde erkennen, dass diese Politik gerade zu Lasten der Menschen geht, denen es nicht gut geht. Ich müsste feststellen: Der Westen genießt es, wenn es uns schlecht geht. Er nimmt sogar wirtschaftliche Nachteile hin, um es uns schlecht ergehen zu lassen. Der Westen und speziell Deutschland haben Menschen in Russland wehgetan, weil sie deren Führungspersonen bestrafen wollten. Und sie haben die ausgestreckte Hand zurückgewiesen. Das verletzt auch den kleinen Stolz von Menschen, die weder zum nationalistischen noch zum doktrinären noch zum dogmatisch-religiösen Lager gehören. Das linksliberale oder linke Lager wird durch die neue Konfrontation zum Wandel zum Schlechteren gezwungen.
Dümmer kann Politik eigentlich nicht sein.
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