Olaf Scholz in der Parallelwelt

Olaf Scholz in der Parallelwelt

Olaf Scholz in der Parallelwelt

Tobias Riegel
Ein Artikel von: Tobias Riegel

In seiner Neujahrsansprache verweigert Bundeskanzler Olaf Scholz eine Wirklichkeit, die er selber mitgestaltet hat – dadurch wird beim Thema Corona ein Dialog unmöglich gemacht. Auch bei anderen Themen liegt Scholz falsch: Die transatlantische Bindung wird betont und die soziale Frage wird mit Phrasen abgetan. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Nicht einmal zum symbolischen Moment des Jahreswechsels hatte der neue Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD das Format, die (selbst mitverursachte) Spaltung der Gesellschaft zu überbrücken. Nicht einmal anerkennen möchte Scholz das Offensichtliche: Dass in der bereits vor Corona sozial tief gespaltenen Gesellschaft durch die nicht geeignete und nicht verhältnismäßige Corona-Politik neue tiefe Gräben hinzugekommen sind. Dass er diese abwegige „Analyse“ selber teilt, ist völlig unglaubwürdig. Trotzdem klingt das in der (Parallel-)Welt von Scholz so:

„Manche beklagen in diesen Tagen, unsere Gesellschaft sei ‚gespalten‘. Ich möchte hier mit aller Deutlichkeit sagen: Das Gegenteil ist richtig! Unser Land steht zusammen. Was ich überall wahrnehme, das ist eine riesige Solidarität, das ist überwältigende Hilfsbereitschaft, das ist ein neues Zusammenrücken und Unterhaken.“

Der Hohn des Bundeskanzlers

Die Rede im Wortlaut ist hier nachzulesen. Sie bietet allein beim Thema Corona zahlreiche gewagte Behauptungen:

„Ich bin sehr froh, dass wir uns auf den Rat von unabhängigen Expertinnen und Experten verlassen können“, „Inzwischen sind allerdings fast vier Milliarden Menschen auf der ganzen Welt geimpft. Ohne größere Nebenwirkungen“, „Wir müssen schneller sein als das Virus!“.

Scholz’ folgender Ratschlag muss wie Hohn erscheinen, angesichts der von zahlreichen Politikern und Redakteuren betriebenen Kampagne (zum Beispiel hier oder hier oder hier oder hier) gegen Andersdenkende in den vergangenen Monaten:

„Aber eine starke Gemeinschaft hält Widersprüche aus – wenn wir einander zuhören. Und wenn wir Respekt voreinander haben.“

Weite Teile der Rede sind von Corona und der Werbung für ein Pharma-Produkt dominiert – doch auch dort, wo es um andere Themen ging, rief Scholz Kopfschütteln hervor:

„Für die Sicherheit in Europa ist darüber hinaus die transatlantische Zusammenarbeit unverzichtbar. Mit Blick auf die Ukraine stellen sich uns hier aktuell neue Herausforderungen.“

Die Flut wird in der Rede kurz abgefertigt. Zu bestehenden sozialen Schieflagen bleiben Scholz’ Einlassungen ebenso unbefriedigend wie zu massiven potenziellen Umbrüchen durch die Energiewende. Inspiration? Vision? Eintreten für die sozial Benachteiligten oder die momentan medial Verleumdeten? Der Versuch eines Zusammenführens der Gesellschaft? Fehlanzeige.

Und ist es nicht erschütternd, wenn die Sozialpolitik durch einen sozialdemokratischen Kanzler im Wesentlichen auf einen Absatz reduziert wird, der in dieser Phrase mündet: „Und auch das ist mir wichtig: Jede und jeder muss von den Früchten der eigenen Arbeit auch im Alter ordentlich leben können“? Und wenn auch die andauernde Betonung des Mindestlohns den Verzicht der Regierung auf eine angemessene Besteuerung großer Vermögen nicht kaschieren kann?

Regierung auf Kollisionskurs

Beim Thema Corona-Politik hätte die neue Regierung die Hand ausstrecken können und müssen, um die (zu den bestehenden sozialen Konflikten hinzukommenden) Konflikte um die radikalen Corona-Maßnahmen zu entschärfen. Stattdessen hat die neue Mannschaft sofort Konfrontation praktiziert: unter vielem anderen mit der Ankündigung der Impfpflicht, mit der Berufung von Karl Lauterbach, mit der Rhetorik gegen „rote Linien“ und der Meinungsmache mit zweifelhaften Fakten gegen Ungeimpfte.

Scholz negiert die offensichtlichen Spaltungen in der aktuellen Rede also nicht nur. Er hat sie mitverursacht und verschärft sie jetzt auch noch: Nicht nur durch sein Agieren als führender Sozialdemokrat (bereits vor Corona), auch jetzt, durch die kompromisslose Verweigerung des Dialogs mit Andersdenkenden.

Auf persönlicher Ebene und bezüglich Scholz’ „Charisma“ kann man bei der Neujahrsrede nur von einer monotonen und blutleeren Darbietung sprechen, deren dröger Charakter dem Zeitgeist unangemessen ist. Man bräuchte jetzt einen mutigen Charakterkopf mit starkem sozialen Gewissen, der es schafft, mit gekonnter Redekunst über die giftige Medien-Propaganda hinweg die Menschen zu erreichen und zu versöhnen.

„Enthemmte Extremisten”

Das Argument mit der „Impfung als solidarischem Fremdschutz“ hat sich inzwischen erledigt. Damit müsste die Impfpflicht-Debatte eigentlich vorbei sein. Da aber Logik in der Corona-Debatte wenig zählt, wird auch von Scholz an Neujahr mit sturer Beharrlichkeit das teils stumpfe Schwert der Impfung zur superscharfen Wunderklinge erklärt (hier immerhin, ohne eine Pflicht direkt zu thematisieren). Vorher diffamierte er bereits in der Regierungserklärung skeptische Bürger dieses Landes, indem er sie indirekt mit einer „winzige(n) Minderheit von enthemmten Extremisten“ gleichsetzte.

Ob aber „enthemmte Extremisten“ nicht eher in der Politik und den Chefredaktionen anzutreffen sind als bei Demos gegen unverhältnismäßige und nicht evidenzbasierte Corona-Maßnahmen, haben wir in diesem Artikel gefragt. Dass diese laute Minderheit nun angeblich die Mehrheit „überzeugt“ hat, sagt mehr über die Kraft der Propaganda als über die moralische Integrität der Handelnden aus.

So wichtig die Impfdebatte ist: Sie ist mutmaßlich (auch) Ablenkung von der Einführung massiver Kontrolltechniken mit den zugehörigen digitalen Identitäten und angegliederten Registern und Datenbanken. Dieser Ebene der drohenden Passierschein-Kultur, in der zusätzlich Grundrechte durch Wohlverhalten erst „verdient“ werden müssen, sollte mehr Aufmerksamkeit und Protest gewidmet werden. Denn die Erosion der Grundrechte und des Datenschutzes im Schatten der „Gesundheitspolitik“ geht rasant und vor unser aller Augen vonstatten.

Kleine „Lichtlein“

In Anlehnung an Frank Ulrich Montgomerys unmögliche Sätze von den „kleinen Richterlein“, die mühsam abgerungene Lösungen der Politik infrage stellen würden, sowie angesichts des oben beschriebenen Formats unserer aktuellen Regierungsmannschaft könnte man auch sagen: Was sind das für kleine „Lichtlein“ in Politik und Medien, die momentan Prinzipien angreifen, die sich Gesellschaften in Generationen abgerungen haben?

Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock

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