Mit der Meute kläffender Köter ist der Frieden in Europa nicht zu halten
Der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium und langjährige CDU-Abgeordnete Willy Wimmer blickt auf die letzten 30 Jahre zurück und macht sich Gedanken über die Zukunft. Hier sein Text:
Die NATO und die EU, die eine unter Führung von Herrn Stoltenberg, die EU unter Führung von Frau Dr. von der Leyen, erwecken in Bezug auf Russland verbal den Eindruck einer Meute kläffender Köter, die endlich ihrem Ziel auf Nasenlänge näher gekommen zu sein scheinen. Diese Meute wird verstärkt durch die Fanfaren-Bläser der transatlantischen Netzwerke. Dem ehemaligen Merkel-Berater, Herrn Heusgen, scheint dabei die Spitzenrolle bei der Sicherheitskonferenz zu München zuzufallen. Anders sind seine Aussagen um Weihnachten 2021 zur angeblichen Revitalisierung der Sowjetunion durch Präsident Putin kaum zu werten. Eine Umdrehung mehr und eine zu viel für die Schraube, die das geschundene Europa darstellt, und unser Traum vom „gemeinsamen Haus Europa“ ist für ewig ausgeträumt. Soll es das gewesen sein?
Diese Frage zu stellen, bedeutet gleichzeitig, die Antwort zu kennen. Es ist gewiss nicht so, dass am Ende des Kalten Krieges in Europa die Flutlichter hätten angehen müssen. Jeder, der sich mit der Lage in Europa jenseits möglicher Träumereien beschäftigte, wusste um die Probleme. Früh war deutlich geworden, dass die Wiedervereinigung Deutschlands ausschließlich und alleine auf die Zustimmung der damaligen Sowjetunion zurückzuführen gewesen war. Noch um die Jahreswende 1989/90 war amerikanischer Widerstand wahrscheinlich oder nicht auszuschließen. Ein solcher Fall schien der größte denkbare Gau für Deutschland und Europa zu sein, weil das deutsche Volk in Sekunden begriffen haben würde, wer die Verantwortung für exorbitant schwierige Entwicklungen in Europa tragen und gegen Deutschland eingestellt sein würde.
Es war die politische Einsicht, die diesen Ausgang der Entwicklung verhindert hat. Aber was haben wir daraus gemacht? Unmittelbar nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Charta von Paris aus dem November 1990 gab es einen friedensbezogenen Mittelpunkt des europäischen politischen Handelns. Das war auch an Personen gebunden, wie an dem Team Kohl/Genscher deutlich wurde. Es ging darum, das sprichwörtliche politische, historische und ökonomische Minenfeld Mittel- und Osteuropa auf genau diesen Feldern behutsam wieder auf eigene Beine zu stellen. Da hatte man sogar im amerikanischen Präsidenten Bush einen Partner, der nicht ahnen konnte, wie die Gang um die Herren Wolfowitz und Perle die Charta von Paris noch zu seiner Amtszeit torpedierte. In Deutschland war alles vorbei, als im Frühjahr 1992 Außenminister Genscher das Feld räumte.
Das Natürlichste der Welt wäre es gewesen, den wirtschaftlichen Austausch zwischen den europäischen Staaten unter Einschluss Russlands und der zentralasiatischen Staaten zu entwickeln, zu stärken und vorwärts zu treiben. Nichts wäre dafür geeigneter gewesen als die Politik der „Sozialen Marktwirtschaft“, die auf dem gesamten euro-asiatischen Kontinent Anknüpfungselemente vorfand. Übrigens bis nach China, wie erfolgreiche deutsch-chinesische Bemühungen deutlich gemacht haben. Statt einer Entwicklung über die genannten Politikfelder mussten wir erleben, dass die „Soziale Marktwirtschaft“ mittels der zu diesem Zeitpunkt mit brachialer Gewalt betriebenen US-Politik des „shareholder value“ geradezu in der Luft zerschossen wurde. Die Verwerfungen in Deutschland künden bis heute davon und erst recht im östlichen Teil des gemeinsamen Kontinents.
Eines haben die letzten mehr als dreißig Jahre aber deutlich gemacht. Die verhängnisvolle Entwicklung in Europa fing zeitgleich mit zwei politischen Entwicklungen an: dem Siegeszug von „shareholder value“ und der Osterweiterung der NATO. Das eine bedingte das andere. Was bedeutet das für die Anfang Januar 2022 in Genf startenden Gesprächskaskaden, die durch den russischen Präsidenten Putin initiiert worden sind? Europa wird nur dann vor dem Schlimmsten bewahrt, wenn die „Räder in Europa“ im Vergleich zur Charta von Paris gleichsam auf null zurückgedreht werden. Europa muss von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und darf nicht von der amerikanischen Mentalität des „High noon“ bestimmt werden und damit von auferzwungenen Sanktionen. Diese dienen nach dem gegen Japan exekutierten Modell vor dem Weltkrieg II nur der Vorbereitung einer endgültigen Aggression.
In der NATO hatte man das seinerzeit klar erkannt, als der NATO-Gipfel im Einheits-Sommer 1990 die Umwandlung der NATO von einer Militärmaschine in eine politische Organisation beschloss. Dabei war die NATO seinerzeit rein defensiv ausgerichtet. Sie war so ganz anders als das heutige globale Offensivorgan imperialer Machenschaften.
Das wird an einem Punkt besonders deutlich, der für das heutige und aggressive Vorgehen der NATO so entlarvend ist. Nach dem NATO-Vertrag wäre es unmöglich gewesen, militärisch mit einem Staat zusammenzuarbeiten, der ungeklärte Sicherheits-Verhältnisse mit einem Nachbarstaat hätte haben können. Nach dem NATO-Vertrag wäre eine militärische Zusammenarbeit der NATO mit der Ukraine und Georgien völlig unmöglich. Nur, der NATO-Vertrag ist heute das Papier nicht mehr wert, auf dem er steht. Dazu zählt auch der Dauerhinweis darauf, dass jeder Staat seine Bündnisse frei wählen könne. Das in einen Automatismus zu verfälschen, kommt nur den Triebfedern hinter der NATO in den Sinn. Bekanntlich gehören zu einem Vertrag zwei Partner. Wo ist denn eigentlich die Einschätzung des Bündnisses darüber, ob der Aufnahmewunsch eines x-beliebigen Staates mit dem NATO-Vertrag oder den sonstigen Sicherheitsinteressen des Bündnisses übereinstimmt? Oder reicht es bei der Ukraine aus, über genügend Nazis auf der richtigen Seite zu verfügen, um aufgenommen zu werden?
Niemand kann Russland verwehren, aus der Entwicklung der letzten dreißig Jahre seine Schlüsse für Vergangenheit und Zukunft zu ziehen. Uns ist nach der Putin-Rede 2001 im Reichstag nur die Politik der ausgestreckten Hand bekannt. Und bei der NATO?
Willy Wimmer